Erneuerung der Christenheit nach Dietrich Bonhoeffer (1)

Der Verlust der bisherigen Selbstverständlichkeiten

Viele Impulse zur Erneuerung, die sich unter dem Titel „emerging church“ bündeln, kommen aus englischsprachigen Ländern. Im Gegensatz zu einigen anderen ist mir das überhaupt kein Problem. Trotzdem leben wir aber doch in einem etwas anderen Kontext, und deshalb sollten wir auch nach Erneuerungsimpulsen Ausschau halten, die in unserem Kontext entstanden sind.
Ein wirklich visionärer Denker ist für mich da immer Dietrich Bonhoeffer gewesen. Was er – insbesondere in seinem letzten Gefängnisjahr – schon gesehen hat, harrt bis heute noch seiner Umsetzung. Er war einsame Spitze, und zwar auch und gerade in dem Sinn, dass meines Wissens kaum ein anderer damals schon so tiefgehend den Umbruch vom konstantinischen zum nachkonstantinischen Christentum vorausgesehen, begrüßt und durchdacht hat. Das möchte ich in einigen Posts auf diesem Blog darstellen.

„… auch wir selbst sind wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen“ schreibt Bonhoeffer in den Gedanken zur Taufe seines Patenkindes Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge im Mai 1944. „Was Versöhnung und Erlösung, was Wiedergeburt und Heiliger Geist, was Feindesliebe, Kreuz und Auferstehung, was Leben in Christus und Nachfolge Christi heißt, das ist alles so schwer und so fern, dass wir es kaum mehr wagen, davon zu sprechen. In den überlieferten Worten und Handlungen ahnen wir etwas ganz Neues und umwälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen zu können.“
Das klingt nach etwas anderem als nur nach einem neuen theologischen Fündlein. Dietrich Bonhoeffers Suchbewegung, die ihn ins Theologiestudium, nach Amerika (ans Union Theological Seminary und in die schwarzen Gemeinden von Harlem), in die Lebensgemeinschaft eines illegalen Predigerseminars, in den politischen Widerstand gegen Hitler und schließlich ins Gefängnis geführt hat, kommt an ihren entscheidenden Punkt. Weniger als 12 Monate hat er noch zu leben. Und er lernt noch einmal Dinge, die er in dieser Zeit wohl nirgendwo anders lernen konnte:

  • Dekonstruktion: alle bisherigen theologischen Worte werden noch einmal frag-würdig. Das ganze Gebäude kommt ins Wanken. Bonhoeffer ist ja theologisch in den Spuren Karl Barths gegangen, für den der erste Weltkrieg ein Anlass war, theologisch noch einmal ganz von vorne anzufangen. Bei Bonhoeffer verschärft sich das. „… unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neu geboren werden aus diesem Beten und aus diesem Tun.“
  • Das Ende der Moderne: Schon in seiner „Ethik“ hatte Bonhoeffer den Aufstieg der Moderne am Ende des Mittelalters beschrieben und ihre inneren Widersprüche beschrieben. Ein ihr wesentliches Element ist die befreite ratio. Nun schreibt er: „Wir haben die Bedeutung des Vernünftigen und Gerechten auch im Geschichtsablauf immer wieder überschätzt.“ Er beschreibt die Unterschiede zwischen Amerika und Europa; und er weist (in der „Ethik“) auf die stärkere Verbindung zwischen Kirche und Moderne in Amerika hin: „Der Anspruch der Gemeinde der Gläubigen, mit christlichen Prinzipien die Welt aufzubauen, endet, wie ein Blick in den New Yorker Kirchenzettel zur Genüge zeigt, in dem völligen Verfall der Kirche an die Welt.“
    [allerdings würde Bonhoeffer als Gegenmittel sicher nicht „mehr Kerzen“ nennen]
  • Kulturbrüche, neue Unübersichtlichkeit: Bonhoeffer beschreibt verschiedene Traditionslinien/Milieus der europäischen christlichen Überlieferung und beendet diese Schilderung so: „Bis du groß bist, wird das alte Dorfpfarrhaus ebenso wie das alte Bürgerhaus eine versunkene Welt sein.“ Er redet von den kommenden Jahren der Umwälzungen und der Verstädterung des Landes und davon, dass „unser Leben im Unterschied zu dem unserer Eltern gestaltlos oder doch fragmentarisch geworden ist.“ Und trotzdem ist er sich sicher, dass er „nicht in einer anderen Zeit leben wollte als der unseren“.

So weit zu Bonhoeffers Gedanken über die Diagnose der Zeit. Hier finden sich schon Elemente, die viel später unter dem Stichwort des Postmodernen auftauchen. Und er fragt danach, wie man in dieser neuen (von ihm noch nicht postmodern genannten) Epoche wird leben und glauben können. Das Bewusstsein, an einem entscheidenden Wendepunkt der Geschichte zu stehen, verbindet sich mit der Hoffnung, dass sich hier eine Chance bietet, vieles besser zu machen.
Mit den Sackgassen der Vergangenheit setzt er sich vor allem unter dem Stichwort des „Religiösen“ auseinander. Deshalb wird der nächste Post über Bonhoeffers Sicht auf das, was er „religiös“ nennt, handeln.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Simon

    Vielen Dank dafür, Walter. Ich habe heut auch gerade was zu Bonhoeffer geschrieben und glaube, dass es sich echt lohnt, mit ihm und seinem Werk in dieser unseren Zeit weiterzudenken. Ist es nicht irre, wie er die Entwicklung in die Postmoderne schon damals gesehen hat? Und mir geht es genauso wie ihm, dass ich in keiner anderen Zeit leben möchte als jetzt.

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