Abraham – die Ursprungserfahrung des Volkes Gottes

Predigt am 1. Mai 2011 zu Römer 4,1-12 (Predigtreihe Römerbrief 10)

Als wir das letzte Mal auf den Römerbrief gehört haben, da war Paulus am Ende von Kapitel 3 so weit, dass er gesagt hat: Gott erweitert sein Volk, er schließt seinen Bund nicht mehr nur mit Juden, sondern genauso kommen nun auch Heiden dazu, die von Haus aus dem jüdischen Volk ganz fern stehen. Und sie müssen dazu nicht die ganze jüdische Tradition übernehmen, deren zentrales Zeichen die Beschneidung ist, sondern sie kommen auf der Grundlage des Glaubens dazu. Glaube reicht aus.

Das war die Begründung für die Mission unter den Heiden, die Lebensaufgabe von Paulus. Und sofort muss sich Paulus fragen lassen: passt das denn zusammen mit der Ursprungssituation des Gottesvolkes, mit dem Stammvater Abraham? War der denn nicht auch schon beschnitten? Und deshalb diskutiert Paulus anschließend ein ganzes Kapitel lang über Abraham:

1 Was sollen wir nun sagen? Haben wir zu unserem Stammvater Abraham auf fleischliche Weise gefunden? 2 Wenn Abraham aufgrund von Werken Gerechtigkeit erlangt hat, dann hat er zwar Ruhm, aber nicht vor Gott. 3 Denn die Schrift sagt: Abraham glaubte Gott und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet. 4 Dem, der Werke tut, werden diese nicht aus Gnade angerechnet, sondern er bekommt den Lohn, der ihm zusteht. 5 Dem aber, der keine Werke tut, sondern an den glaubt, der den Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet. 6 Genauso nennt auch David den glücklich, dem Gott ohne irgendeine Gegenleistung Gerechtigkeit schenkt. Er sagt:
»Wie gut hat es der, dem sein Ungehorsam gegen ´Gottes` Gesetz vergeben ist und dessen Sünden zugedeckt sind!
8 Wie gut hat es der, dem der Herr die Sünde nicht anrechnet!«

9 Werden hier nur die glücklich genannt, die beschnitten sind, oder gilt das, ´was David sagt,` auch für die Unbeschnittenen? Wir haben gesehen, dass der Glaube Abraham als Gerechtigkeit angerechnet wurde. 10 In welche Zeit fiel das? War er damals schon beschnitten, oder war er noch unbeschnitten? Er war noch unbeschnitten, 11 und dass er dann beschnitten wurde, war ein äußeres Zeichen, eine Besiegelung der Tatsache, dass Gott ihm, als er noch unbeschnitten war, aufgrund seines Glaubens Gerechtigkeit zugesprochen hatte. Denn Abraham sollte der Vater all derer werden, die glauben, auch wenn sie nicht beschnitten sind, und denen darum genau wie ihm der Glaube als Gerechtigkeit angerechnet wird. 12 ´Durch seine Beschneidung` ist Abraham aber auch der Vater der Beschnittenen geworden, und zwar der Vater derer, die sich nicht damit begnügen, beschnitten zu sein, sondern die in seine Fußstapfen treten und dem Beispiel folgen, das er, unser Stammvater, uns durch seinen Glauben gab, noch bevor er beschnitten war.

Damit wir verstehen, warum diese scheinbar so abstrakten Fragen wirklich wichtig sind, möchte ich mit einem kleinen Umweg beginnen. Ich habe ja von Haus aus ganz wenig über kirchliche Traditionen und Verhältnisse mitbekommen, und so habe ich erst, als ich Pastor war, nach und nach angefangen zu verstehen, was es z.B. heißt, katholisch zu sein. Ich meine jetzt nicht einfach Leute, auf deren Lohnsteuerkarte als Konfession »römisch-katholisch« eingetragen ist, sondern Menschen, die in einer bewusst katholischen Familie aufgewachsen sind, regelmäßig zur Kirche gegangen sind und diese Lebensweise sozusagen mit der Muttermilch eingesogen haben.

So wie ich das als Außenstehender nach und nach im Gespräch mit katholischen Mitchristen ein wenig verstanden habe, ist das eine ganze Welt voller Rituale und Symbole, wo im Idealfall alles zusammenpasst: die sonntägliche Messe mit ihrer ganzen Feierlichkeit, den Gewändern und dem Weihrauch; Messen und Andachten an Werktagen; die Ecke mit dem Kreuz zu Hause; Gesten wie sich zu bekreuzigen und Gegenstände wie der Rosenkranz; zur Beichte zu gehen mit all den zwiespältigen Gefühlen, die damit oft verbunden sind; all die verbotenen Dinge, die man heimlich und mit schlechtem Gewissen doch ausprobiert hat; als Jugendlicher Messdiener zu sein oder Mitglied bei den katholischen Pfadfindern, und als Erwachsener Mitglied in katholischen Vereinen und Gruppen. Das ist eine ganze Welt, in der alles zusammen passt. Und wer das von klein auf gewöhnt ist, für den wächst das zu einem Lebensgefühl zusammen, das ihn ein Leben lang begleitet.

Ab und zu habe ich auch mit Katholiken gesprochen, die sich über manche Zustände in ihrer Kirche beklagten, über den Papst oder die engen Vorschriften, und ich dachte dann immer: warum regt ihr euch so auf? Kommt zu uns, wir Protestanten haben das schon vor 500 Jahren gesagt und deshalb unseren eigenen Laden aufgemacht. Und manche werden ja auch evangelisch. Aber ich habe im Lauf der Zeit verstanden, weshalb viele Katholiken trotz aller Klagen und trotz allem Leiden an ihrer Kirche diese Kirche nicht verlassen: weil sie trotz allem irgendwie an diesem katholischen Grundgefühl hängen, an diesem Milieu, dieser Kultur, die sie bei uns nicht finden würden.

Denn wir Evangelischen haben aus bestimmten, guten Gründen eine eher magere religiöse Kultur, bei uns gibt es das höchstens in Spurenelementen: wenn etwa Menschen von den Weihnachtsfesten ihrer Kindheit erzählen, als die ganze Familie einträchtig versammelt war und Tante Martha ihren berühmten Heringsalat gemacht hat, damals, als die Weihnachtsbäume noch viel gerader und grüner waren als heute, als die Kerzen ganz anders glänzten als die elektrischen Lichter heute, als selbst Vater »O du fröhliche« mitgesungen hat und die Kinderaugen mit den Kerzen um die Wette strahlten beim Anblick eines bunten Tellers mit Äpfeln und Nüssen.

Auch Menschen, die in evangelischen Freikirchen groß geworden sind, haben oft so eine geprägte Gemeindewelt erlebt, aber da ist die Erinnerung weniger mit äußeren Symbolen verbunden wie bei den Katholiken, sondern mehr mit bestimmten Gedanken und Formulierungen, mit den Liedern aus der Kinderstunde und der Fahrt zu Konferenzen und Freizeiten.

Ich habe das alles nicht erzählt, um mich darüber lustig zu machen, sondern damit wir ein wenig nachvollziehen können, was für ein Lebensgefühl es in der Zeit des Paulus gewesen sein muss, Jude zu sein. Auch das Judentum war und ist bis heute eine eigene Welt voller religiöser Symbole und Bräuche, und wer darin aufgewachsen ist, der vergisst das sein Leben lang nicht, auch, wenn er eines Tages aufgehört hat, religiös zu sein. Der Sabbat als Höhepunkt der ganzen Woche, mit den besonderen Speisen, die man da gegessen hat, der festliche Glanz dieses Tages, wenn die Familie zusammen war, die jährlichen Feste mit ihren Lesungen und Bräuchen, die besondere Kleidung und Haartracht, die fromme Juden tragen, eben die ganze Kultur, die durch immer neue Lektüre des alttestamentlichen Gesetzes, der Tora, entwickelt worden ist und die geprägt ist von den Heiligen Schriften und Geschichten Israels. Und wenn Paulus von den »Werken des Gesetzes«, also von den »Werken der Tora«, spricht, dann meint er nicht das Bemühen, sich durch fromme Leistungen den Himmel zu verdienen, sondern er denkt an dieses Geflecht von Bräuchen, Handlungen und Bedeutungen, in dem man als geborener Jude aufgewachsen ist und das einem zur zweiten Natur geworden ist.

Und nun fragt Paulus: ist es dieses Milieu, das man eigentlich mit der Muttermilch eingesogen haben muss, um da wirklich zu Hause zu sein, ist es dieses ganze Brauchtum, dieses feine Netz von Vorschriften und Ritualen, diese religiöse Kultur, die »Werke der Tora«, die uns mit unserem Stammvater Abraham verbinden? Und wenn dann ein Heide zum Glauben an den Gott Israels kommt, muss er dann auch diese ganze religiöse Kultur übernehmen? Ist es die, die das Volk Gottes zusammenhält?

Vielleicht ist uns die Antwort ja schon klar, aber lasst uns festhalten: auch heute beschreiben die meisten die Religionszugehörigkeit eines Menschen über die Bräuche, die er ausübt. Ein Moslem ist einer, der freitags in die Moschee geht und kein Schweinefleisch ist, ein Katholik ist einer, der sonntags zur Messe geht und am Karfreitag fastet, und ein Protestant ist einer, der vielleicht zu Weihnachten in die evangelische Kirche geht und im Übrigen tut, wozu er Lust hat.

Aber Paulus schaut in seiner Bibel nach, im 1. Buch Mose, Kapitel 15, wo Gott seinen Bund mit Abraham schließt, dem Stammvater des Volkes Gottes, und was liest er da? »Abraham glaubte Gott und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet.« Das heißt, an der Wurzel des Volkes Israel stand auf menschlicher Seite ein nicht wirklich begründbares Vertrauen in den Gott, der Abraham rief und ihn aufforderte, seine Sippe und sein gewohntes Umfeld zu verlassen und aufzubrechen in ein fremdes Land, und ihm versprach, ihn zu einem großen Volk zu machen, durch das alle Menschen gesegnet werden sollten. Am Anfang war keine religiöse Tradition, noch nicht einmal die Beschneidung, die folgte erst viele Jahre später, und die Tora erst Jahrhunderte später. Und wenn man sich Abraham anschaut in den Jahren nach dem Bundesschluss mit Gott, da war er eine ziemlich fragwürdige Gestalt, der getrickst und gelogen hat und seine Frau verraten hat, und in seiner Familie gab es heftige Konflikte, an denen er nicht unschuldig war, und immer wieder musste Gott eingreifen und Abrahams Fehltritte korrigieren. Es hatte schon seinen Grund, dass Abraham und Sara erst im Alter von 100 Jahren durch ein Wunder Gottes ihren lang ersehnten Sohn bekamen: so lange hat es gedauert, bis Abraham so einigermaßen Gottes Willen verstehen konnte. Gott musste erst einen langen Weg mit ihm gehen, bis er so weit war, dass er seinen Stammhalter Isaak angemessen erziehen konnte.

Aber ganz zum Schluss hat Abraham Gott dann wirklich verstanden. Wer vor drei Wochen hier war, erinnert sich vielleicht noch an die Predigt von Sabine Meurer, wo sie beschrieben hat, wie Abraham Gott so sehr vertraute, dass er mit seinem Sohn Isaak auf den Berg Moria ging, um ihn dort auf Gottes Geheiß zu opfern, obwohl er nicht verstand, warum. Und am Ende musste er es ja auch nicht. Doch das war sozusagen die Abschlussprüfung für den Glauben Abrahams.

Aber es war nicht erst dieser gereifte und starke Glaube Abrahams aus 1. Mose Kap. 22, den Gott ihm als Gerechtigkeit angerechnet hat, es war auch nicht erst die Beschneidung aus Kapitel 17, sondern es war schon der anfängliche unbedarfte Glaube aus Kapitel 15, mit dem er aufgebrochen war in das neue Land, das Gott ihm verheißen hat. Dieser winzige Same des Glaubens, der kaum erste Wurzeln geschlagen hatte, der reichte Gott aus, um zu sagen: Abraham ist gerecht in meinen Augen. Dieser erste Schritt auf dem langen Weg bis hin zu Jesus, der reichte Gott, um zu sagen: das ist mein Volk.

Alles andere, die ganze religiöse Kultur, das Brauchtum, die Gesetze, die 10 Gebote, all das, was andere Menschen dann sehen können und als Religion bezeichnen, das ist später dazu gekommen. Manchmal war es hilfreich, manches davon hat die Juden durch lange Leidenszeiten hindurch getragen und ihre Identität bewahrt, manches ist auch hinderlich geworden, aber das alles war nicht der Kern des Bundes zwischen Gott und seinem Volk. Der Kern war das Vertrauen zu Gott, der Glaube, der Abraham aufbrechen ließ und der Jesus dazu brachte, am Kreuz bis zum letzten Atemzug an Gott festzuhalten. Der Glaube ist der entscheidende Punkt, und alles andere ist nachträglich dazugekommen, alles andere sind mehr oder weniger gelungene Versuche, diesen Glauben zu verstehen und ihm Gestalt zu geben. Und deshalb muss man nicht eine bestimmte religiöse Kultur übernehmen, wenn man zum Volk Gottes dazu kommt.

Ich war gestern bei einem Treffen von theologisch Interessierten, die aus vielen Ecken Deutschlands kamen, und wir haben uns in der Gruppe erst einmal gegenseitig vorgestellt und uns erzählt, welchen christlichen Hintergrund wir hatten, und durch welches Evangelium wir eigentlich zum Glauben gekommen sind. Fast alle in der Gruppe hatten in ihrem Leben mindestens zwei ganz unterschiedliche christliche Traditionen erlebt und gelebt. Von freien evangelischen Gemeinden über katholische Charismatiker bis zu Brüdergemeinden und vielem anderen war ein buntes Spektrum vertreten. Ich mit meiner völlig harmlosen landeskirchlichen Karriere kam mir da schon vor wie ein langweiliger Exot. Und als es um die Frage ging, durch welches Evangelium wir zum Glauben gefunden haben, konnte ich nur sagen: ich weiß es nicht. Ich habe schon immer das Gefühl gehabt, dass ich mit Gott ganz eng verbunden war. Ich habe ein paar Vermutungen, woher das kommen könnte, aber ich bin mir überhaupt nicht sicher. Ehrlich. Das war einfach immer schon da. Und ich habe mein ganzes Leben lang nur versucht, zu verstehen, was das bedeutet und wie man das umsetzen kann, und ich bin mir da zunehmend sicherer geworden, aber zu Ende bin ich noch längst nicht.

Das Interessante war, dass in der Runde eine Frau war, die das so ähnlich formuliert hat, und wir schauten uns ganz verwundert an, weil wir so Vergleichbares erlebt hatten. Erstaunlicher Weise war die die einzige, die auch »nur« aus der Landeskirche kam. Vielleicht repräsentierten wir in diesem Kreis die Heidenchristen, für die Paulus durchgesetzt hat, dass sie nicht erst eine religiöse Tradition übernehmen müssen, bevor sie zum Volk Gottes gehören. Auch dieser nackte, noch ungestaltete Glaube reicht, dieses Zutrauen, dass Gott verlässlich ist, und dass ich mit ihm zusammengehöre. Das ist der Kern, das Urerlebnis des Gottesvolkes.

Ich bezweifle damit aber überhaupt nicht, dass man auch in einer geprägten religiösen Kultur zum Glauben kommen kann. Die ganzen anderen in der Runde waren ein klares Gegenbeispiel. Aber so eine Kultur ist für den Glauben nicht zwingend erforderlich, und manchmal kann sie genau so ein Hindernis für den Glauben sein wie eine ganz gottlose Umgebung. Auch davon konnten viele in unserer Runde erzählen. Deswegen sagt Paulus: Abraham ist ohne Beschneidung zum Glauben gekommen, damit er der Vater der religiös Unmusikalischen sein kann, und er ist dann später beschnitten worden, damit er der Vater all derer sein kann, die eine religiöse Tradition kennen und lieben.

Aber was das Volk Gottes zum Volk Gottes macht, das ist dieses Zutrauen zu Gott, der Glaube, von dem wir nicht wirklich erklären können, wie und warum er in einem Menschen entsteht. Dieser Glaube ist es, auf den es Gott ankommt, der allein ist Jesus geblieben als er sich am Kreuz zu Tode quälte, auf diesen Glauben hat Gott mit der Auferstehung geantwortet, und der konstituiert das Volk Gottes. Diesen Glauben gibt es in vielen Kulturen und unter vielen Etiketten. Aber wer ihn einmal geschmeckt hat, der erkennt ihn auch in all seinen Verkleidungen. Der Glaube ist an keine Kultur gebunden, weder an religiöse noch an weltliche Kulturen. Er kann alle Grenzen überwinden.

Religiöse Konflikte entstehen, weil Menschen um ihre unterschiedlichen Kulturen und Traditionen kämpfen, sich kritisieren, sich misstrauen und manchmal sogar Kriege führen. Der Glaube setzt in solchen Konflikten auf keine der beiden Seiten. Er zählt die religiösen Traditionen zu den Tatsachen des Lebens, die man mit Sachlichkeit, Geduld und manchmal Humor anschauen kann, ohne ihnen all zu übertriebene Wichtigkeit beizumessen. Der Glaube kümmert sich um interessantere Angelegenheiten. Er ist die Brücke, die all diese Welten verbinden kann, so dass aus einem Problem großer Reichtum wird.

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