Ein Wort zerreißt den Schleier

Predigt am 8. April 2012 (Ostern I) zu Johannes 20,(1.)11-18

1 Am ersten Tag der neuen Woche, frühmorgens, als es noch dunkel war, ging Maria aus Magdala zum Grab. Sie sah, dass der Stein, mit dem man das Grab verschlossen hatte, nicht mehr vor dem Eingang war. … 11 Maria aber blieb draußen vor dem Grab stehen; sie weinte. Und während sie weinte, beugte sie sich vor, um ins Grab hineinzuschauen. 12 Da sah sie an der Stelle, wo der Leib Jesu gelegen hatte, zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, den einen am Kopfende und den anderen am Fußende. 13 »Warum weinst du, liebe Frau?«, fragten die Engel. Maria antwortete: »Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wohin sie ihn gebracht haben.« 14 Auf einmal stand Jesus hinter ihr. Sie drehte sich nach ihm um und sah ihn, erkannte ihn jedoch nicht. 15 »Warum weinst du, liebe Frau?«, fragte er sie. »Wen suchst du?« Maria dachte, es sei der Gärtner, und sagte zu ihm: »Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir bitte, wo du ihn hingelegt hast, dann hole ich ihn wieder.« – 16 »Maria!«, sagte Jesus. Da wandte sie sich um und rief: »Rabbuni!« (Das bedeutet »Meister«; Maria gebrauchte den hebräischen Ausdruck.) 17 Jesus sagte zu ihr: »Halte mich nicht fest! Ich bin noch nicht zum Vater in den Himmel zurückgekehrt. Geh zu meinen Brüdern und sag ihnen, dass ich zu ihm zurückkehre – zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.« 18 Da ging Maria aus Magdala zu den Jüngern zurück. »Ich habe den Herrn gesehen!«, verkündete sie und erzählte ihnen, was er zu ihr gesagt hatte.

Der Herr ist auferstanden – keine Idee und keine Sache geht weiter, sondern Er ist wieder da, und die Freundschaft mit ihm geht weiter. Das kann man besonders gut sehen an der Geschichte von Maria Magdalena. Alles an dieser Geschichte zeigt: sie hat ihn geliebt, dann ist ihr das Liebste, was sie hatte, genommen worden; und jetzt wird alles gut, als er sie anredet mit ihrem Namen: Maria! – und sie erkennt ihn und das Band der Liebe, das zwischen ihnen bestand, wird neu geknüpft und kann nun nicht mehr zerrissen werden.

Vorsichtshalber muss man hinzufügen, dass Maria nicht die Freundin von Jesus war. Eigentlich müsste das für jeden deutlich sein an ihrem ersten, spontanen Wort, das sie sagt, als sie ihn erkennt: sie sagt nicht »Schatz« oder auch nur »Jesus«, sondern „Rabbuni – Meister“. So hat sie ihn immer angeredet, vertraut und doch respektvoll, und da ist kein Platz für irgendeine geheime Liebschaft. Alles andere sind Männerphantasien, die mehr über ihre Erfinder verraten als über Jesus und Maria von Magdala. In Wirklichkeit war sie eine Jüngerin, und sie hat ihn mit der Liebe geliebt, mit der auch die andern Jünger ihn geliebt haben. Nur hat sie es vielleicht deutlicher ausgedrückt, was er ihr bedeutete. Und sie war mutiger, radikaler als die anderen.

Wir sehen an ihr, dass der Kern der Jüngerschaft wirklich eine ganz tiefe Bindung an Jesus ist, dass eine oder einer sich einfach hingezogen fühlt zu ihm, und dass es das größte Glück ist, ihm zu begegnen und mit ihm zusammenzusein. Dass so ein Verhältnis zu Jesus uns dann auch verändert, dass er uns hilft und uns beauftragt und dass wir durch ihn neue Menschen werden, die auch mit anderen anders umgehen können, das ist alles richtig, aber das ist erst der zweite und dritte Schritt. Und theologische Sätze sind der vierte oder fünfte Schritt. Anfangen tut es damit, dass jemand Jesus kennen lernt und ihn liebt, einfach weil er so ist, wie er ist.

Und nur weil Maria Jesus so sehr liebt, deshalb ist sie so unvernünftig, einfach weinend am Grab stehenzubleiben. Das war damals ziemlich gefährlich. Es war im römischen Reich verboten, um einen Gekreuzigten zu trauern. Es war auch oft verboten, ihn zu begraben oder zum Grab zu gehen. Wer um einen Gekreuzigten öffentlich weinte, der konnte sehr schnell selbst am Kreuz landen, auch Frauen.

Und trotzdem kann Maria nicht anders, als am leeren Grab zu weinen. Zur Trauer um Jesus kommt nun auch noch die Angst, dass irgendjemand das Grab geschändet und ihr das letzte genommen hat, was man bei jedem Toten noch hat: den Körper. Maria weint, weil man Jesus auch noch über den Tod hinaus nicht in Ruhe gelassen hat. Nützt das etwas? Macht das den Toten wieder lebendig? Nein, natürlich nicht. Aber es ist nicht sinnlos, es ist nicht überflüssig. Jesus antwortet auf die Liebe, die sich im Weinen von Maria zeigt.

All diese Gesten, in denen wir ausdrücken, was unser Herz sagt, die sind nicht umsonst, die laufen nicht ins Leere, sondern Jesus sieht das. Und er reagiert. Wir signalisieren nicht ins Leere hinein.

Natürlich hat Maria ihn mit ihren Tränen nicht wieder lebendig gemacht, genauso wenig, wie wir einen lieben Verstorbenen mit unseren Tränen wieder ins Leben zurückholen können. Aber dieser Ausdruck ihrer Liebe und Trauer haben Maria so vorbereitet, dass Jesus gerade ihr als erster erscheinen kann.

Anscheinend war es für Jesus nicht einfach, den richtigen Weg zu finden, um nach seiner Auferstehung den Jüngern neu zu begegnen. Er durfte ihnen nicht zu schwach und nicht zu stark erscheinen. Nicht zu schwach, sonst hätte er ihre Überzeugung, dass er tot ist, nicht durchbrechen können. Auch Maria hat ihn ja zuerst für den Gärtner gehalten. Es liegt wie Blindheit auf ihnen allen, sie glauben einfach nicht, dass der Gekreuzigte ihnen wieder begegnet. Deshalb müsste Jesus sich eigentlich massiv deutlich machen, um ihre Blindheit zu durchbrechen.

Aber er darf ihnen auch nicht zu stark begegnen, denn zwischen Jesus und den Jüngern steht ja nicht nur der Tod, sondern auch der Verrat: sie haben ihn alle im Stich gelassen und verleugnet. Und wenn Jesus wieder lebt, dann konfrontiert das die Jünger auch mit ihrem Versagen, und wenn Jesus ihnen im vollen himmlischen Glanz erscheinen würde, dann hätten sie wohl einen Riesenschrecken bekommen. Oder er hätte die Jünger überwältigt und zu Boden geworfen, und so hätte er das Verhältnis zu ihnen nicht bereinigen können.

Bei Maria ist die Wand, die Jesus durchbrechen muss, am dünnsten. Es ist, als ob sie nur aus feinem Seidenpapier besteht. Sogar, dass sie ihn für den Gärtner hält, ist gar nichts so falsch: er ist ja der Erste der neuen Schöpfung, der neue Adam. Er soll die Erde wieder ordnen und die Verwüstungen heilen. Er soll die Dornen und Disteln ausreißen, die sich in der Welt ausgebreitet haben, und von neuem sollen Blumen und Früchte aufwachsen. Maria hat intuitiv etwas Richtiges verstanden.

Und was sagt sie zu ihm? »Sie haben mir das Liebste genommen!« Für wie viele Menschen ist das bis heute die Klage: Sie haben es mir genommen – meine Heimat, meine Familie, meine Kinder, mein Recht, meine Würde, meine Hoffnung, mein Leben. Wie viele Menschen haben schon darüber klagen müssen, dass ihnen das Liebste genommen worden ist! Eine ganze Welt voller Klage konzentriert sich in Maria Magadalena und spricht durch sie zu Jesus, ohne es zu wissen.

Und als Antwort spricht Jesus nur ein Wort, er spricht ihren Namen: Maria! Es ist ein Gruß, ein tröstendes Aufrichten, die freundliche Frage: »kennst du mich denn gar nicht?«, alles in einem Wort. Und dieses eine Wort zerreißt den dünnen Schleier. Weil Maria so sehr von Liebe und Trauer erfüllt ist, deshalb ist sie ganz nahe dran an der Wahrheit. Und als sie Jesus erkennt, da braucht auch sie nur ein Wort als Antwort: Rabbuni! Mein Meister!, genauso gesprochen, wie sie es immer getan hat, bevor er getötet wurde.

Und auch dieses eine Wort hat so viele Bedeutungen: Freude, Verstehen, Bestätigung, dass es alles wieder gut ist. Ganz leicht, ohne alle Erschütterung, wie wenn auf einmal alle Finsternis weicht, alle Geister der Nacht verschwinden und der verloren geglaubte Weg einfach wieder unter ihren Füßen liegt.

Und denkt euch das als die Antwort Jesu auf die Klagen der ganzen Welt: liebe Welt, kennst du mich denn gar nicht mehr, mich, deinen Schöpfer, der dich aus Liebe ins Dasein gerufen hat? Kennst du meine Stimme wieder? Und wenn die Welt ihn erkennt, dann werden all die Klagen und Leiden vergangen sein. Stell dir vor, wie Jesus einen Menschen in seiner Klage mit Namen ruft, stell dir vielleicht vor, wie er dich mit Namen ruft und sagt: ich bin’s, erkennst du meine Stimme? Ich lebe!

Dies hier ist eine ganz besondere Geschichte: Man muss nur mal andere Begegnungen der Jünger mit dem Auferstandenen dagegen halten, um das zu sehen: Zur ganzen Gruppe der Jünger kommt Jesus nur durch verschlossene Türen; die Jünger, die nach Emmaus gehen, sind fast einen ganzen Tag mit ihm zusammen, bis sie ihn erkennen; Thomas weigert sich zuerst beharrlich, zu glauben, dass Jesus lebt; der Christenverfolger Saulus schließlich wird vom auferstandenen Jesus regelrecht angegriffen, überwältigt und zu Boden geworfen. Nichts davon bei Maria; hier ist es ein beinahe problemloses Wiedererkennen, die Wiederaufnahme einer Beziehung, die nur kurz unterbrochen gewesen ist.

Ich denke, es liegt daran, dass Maria ihren Schmerz so schutzlos getragen hat, dass sie keinen falschen Trost gesucht hat, dass in ihren Gedanken auch kein Raum war für die berechnende Vorsicht, dass sie sich einfach nicht vorstellen konnte, wie das Leben weitergehen sollte ohne Jesus. Der Raum, den Jesus in ihrem Herzen eingenommen hatte, der war noch da, er war offen, und als Jesus auferstanden war, da konnte er diesen Raum einfach wieder einnehmen. Seit Jesus Maria aus den Händen der bösen Geister befreit hatte, aus Depression, Elend, Scham, Angriff und Anklage, seit damals war er die Mitte ihres Lebens gewesen, und jetzt hat sie diese Mitte wiedergefunden.

Deshalb kann Maria die Botin sein, die die andern Jünger auf die Begegnung mit dem Auferstandenen vorbereitet. Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott, lässt er ihnen sagen. Zum ersten Mal stellt Jesus seine Jünger mit sich selbst auf eine Stufe. Jetzt, sagt er, ist es so weit: mein Gott ist euer Gott. So wie ich Gott den Vater nenne, so dürft ihr es jetzt auch. Ihr gehört mit mir zusammen zur neuen Menschheit, zur neuen Schöpfung. Ich nehme euch da mit hinein. Jesus schickt Maria voraus, damit unter den Jüngern die Erwartung wächst, damit ihre Befangenheit sie nicht blockiert und damit sie sich darauf vorbereiten können, Jesus selbst zu begegnen.

Aber das wird eine veränderte Form der Begegnung sein. Das kriegt schon Maria zu hören. Sie wollte vielleicht vor Jesus niederfallen und seine Füße umfassen, aber Jesus sagt: rühr mich nicht an. So geht das jetzt nicht mehr. Es geht nicht einfach so weiter wie vorher. Ich gehöre jetzt ganz der Welt an, die für euch meistens noch unsichtbar und ungreifbar ist. Jesus zeigt sich noch ein paar Mal in unserer erfahrbaren Wirklichkeit, aber er ist sozusagen schon aus anderem Stoff gemacht. Künftig wird das anders sein. Er ist nur noch nicht aufgefahren zu seinem Vater, aber das wird bald geschehen.

Jesus begegnet noch für einige Wochen seinen Jüngern sichtbar. Wenn er ihnen nur einmal kurz begegnet wäre, dann hätten sie vielleicht ein paar Wochen später schon gedacht: das haben wir uns wahrscheinlich nur eingebildet. Aber er ist 40 Tage lang immer wieder zu ihnen gekommen. Und erst als sie ganz sicher waren: ja, er ist auferstanden, er lebt, da ist er dann zurückgegangen zu seinem Vater.

Von jetzt ab wird er auf eine neue Art mit ihnen Kontakt aufnehmen. Es geht nicht einfach so weiter wie vorher. Man könnte sagen: schade! Aber bei Maria finden wir nicht eine Spur von Bedauern. Sie geht zu den Jüngern und erzählt: ich habe den Herrn gesehen! Dieser kurze Moment ist genug für sie. Sie weiß: er lebt. Seine Beziehung zu ihr ist durch seinen Tod nicht beendet. Marias Beziehung zu Jesus geht weiter, auch wenn er in Zukunft nicht mehr so sichtbar sein wird wie an diesem Auferstehungsmorgen.

In Zukunft existiert Jesus für seine Jünger und für uns auf die gleiche Weise wie Gott: als ein persönliches Gegenüber, das nicht Teil unserer Welt ist, als jemand, der keinen sichtbaren Körper in der Welt hat, aber dessen wirksame persönliche Gegenwart uns trotzdem begegnet, auf du und du.

Dadurch kann Jesus in Zukunft ein Gegenüber für Millionen und Milliarden von Menschen sein. Viele andere können Erfahrungen wie Maria mit ihm machen. Er ist nicht mehr an einen Körper in unserer Welt gebunden, in dem er ja höchstens einige Tausend Menschen erreichen und nur sehr wenigen wirklich vertraut begegnen könnte. Er kann jetzt allen begegnen. In jeder Generation wieder neu, weil er der Lebendige ist. Maria ist nicht die Letzte, die mit ihm so vertrauten Umgang hat. Sein Herz ist groß genug für alle und für uns.

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