Der Glanz der Solidarität

Predigt am 25. September 2016 (Erntedankfest) zu Jesaja 58,6b-11

Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! 7 Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, 10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. 11 Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.

Die Welt ist dafür geschaffen, dass Menschen sich gegenseitig beistehen. Die Welt belohnt Freundlichkeit, Güte und Solidarität. Und sie macht das, weil sie von einem freundlichen Gott ins Leben gerufen worden ist, der in seinem Innern voller Liebe ist.

Die verborgene Voraussetzung
Bild: Anemone123 via pixabay, Lizenz: creative commons CC0
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Das ist die Voraussetzung im Hintergrund, wenn der Prophet Jesaja sagt: gib Menschen frei, steh Hungrigen bei, gib Heimatlosen ein Dach über dem Kopf! Dann wird dir selbst geholfen, Gott wird dir beistehen und auch für dich sorgen. Viel später hat Jesus das noch mal aufgenommen und gesagt: ob du am Ende vor Gott bestehen kannst, das hängt davon ab, ob du dich um Gefangene, Hungrige, Flüchtlinge, Obdachlose und Kranke gekümmert hast.

Jesaja und Jesus sagen beide, dass diese Aufforderung zur Barmherzigkeit nicht künstlich an die Welt herangetragen wird. Das sind nicht irgendwelche Idealisten, die weltfremde Forderungen aufstellen würden, die völlig unrealistisch sind. Sondern sie sagen: genau so funktioniert die Welt, mit Liebe, Solidarität und Barmherzigkeit. So ist sie gedacht, und dass wir es auch anders erleben, das hängt damit zusammen, dass Menschen ihre Mitmenschen und Mitgeschöpfe falsch und schlecht behandeln. Wer liebt, ist Realist; wer dagegen glaubt, die Welt wäre ein Dschungel, in dem man gegen alle anderen kämpfen müsste, der hat keine Ahnung vom Leben und trägt mit dazu bei, dass es für alle schwerer wird.

Einfache Regeln, aktuelle Fragen

Der größte Teil dieses Abschnittes beschäftigt sich gar nicht so sehr mit der Frage, was man tun soll. Das ist schnell gesagt: Teile mit den Hungrigen, gib Leuten ein Dach über dem Kopf, die keins haben, sorge dafür, dass Menschen anständige Kleidung haben. Hör auf, Menschen in Abhängigkeit zu halten, befreie sie stattdessen. Und rede nicht abfällig über sie, verleumde nicht diejenigen, die in Not sind. Ganz einfache Regeln, aber sie funktionieren nur, wenn man glaubt, dass Gott seine Schöpfung so eingerichtet hat, dass genug für alle da ist. Zu danken für die Güter des Lebens, das bedeutet: wir sagen Ja nicht nur dazu, dass wir genug haben. Sondern wir erkennen in unserem Essen und Trinken, in der Heimat, die wir haben und in den Menschen, die zu unserem Leben gehören, den Urheber all dieser Segnungen, Gott. Und wir sagen Ja dazu, dass er eine gute Welt geschaffen hat, in der Lebensraum für alle ist, und in der alle ein gutes Leben führen können, wenn wir füreinander sind und nicht gegeneinander.

Liebe Freunde, das ist der Kern der Fragen, die seit einem Jahr ungefähr in unserem Land mit so viel Energie gestritten wird. Ist es richtig, gut zu sein, zu helfen, Zuflucht zu bieten, Menschen aufzunehmen, die aus zerstörten oder schlecht regierten Ländern zu uns kommen? Und an diesem Punkt ist die Bibel ganz eindeutig, überall sagt sie: das ist die beste Art, um Gottes Segen zu empfangen.

Wie es wieder bergauf geht

Die Leute, zu denen Jesaja und auch Jesus sprachen, waren übrigens alles andere als reich. Als unser Textabschnitt entstanden ist, da war Israel ein armes, zerstörtes Land, ungefähr so wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Leute hausten zwischen Trümmern, der Wiederaufbau kam nur im Schneckentempo voran, und viele hatten selbst nicht genug zu essen und anzuziehen. Einem anderen einen Mantel zu geben, das konnte bedeuten, dass er einem selbst fehlte. Und in diesem prophetischen Impuls geht es um den Weg, wie sich das ändern kann: helft denen, die es brauchen, das vertreibt die dunkle Wolke, unter der ihr lebt! Seid solidarisch, dann geht es wieder bergauf!

Jesaja behauptet nicht, dass das ein müheloser und schmerzfreier Weg wäre. Aber er sagt: es ist der gesegnete Weg. Es wird dir gut gehen, wenn du ihn einschlägst. Du wirst Gottes Hilfe und seine Nähe deutlich spüren.

Auch die ganz normale Wissenschaft, die die Zufriedenheit in Gesellschaften untersucht, stößt ja heute immer wieder auf die Tatsache, dass es uns nicht einfach dann gut geht, wenn uns alle Probleme abgenommen werden und unsere Luxusyacht die längste und teuerste von allen ist. Entscheidend sind unsere Beziehungen und der Rahmen, in dem wir unser Leben sehen. In einer Gesellschaft mit großer Ungleichheit und Ungerechtigkeit leiden alle, auch die da oben an der Spitze der Gesellschaftspyramide. Wenn sich im Leben ansteckende Depressivität ausbreitet, wenn Hoffnung selten ist und alle ihre Sorgen irgendwie zudröhnen, dann kannst du auch nicht mehr richtig Freude haben an dem, was du hast, egal, ob es viel ist oder wenig.

Glanz über der Welt

Es ist schwer zu definieren, was das eigentlich ist, was dem Leben Glanz gibt. Jesaja redet da ja auch nur in Bildern drüber: dein Licht wird hervorbrechen, Gott wird vor dir und hinter dir gehen. Du wirst wie ein wunderbarer Garten sein. Letzte Woche haben wir hier in der Kirche die Gärten gesehen, die die Vorkonfirmandengruppe im Unterricht gebaut hat. Wir Erwachsenen waren ganz beeindruckt, mit wieviel Begeisterung ihr diese Gärten gemacht habt, wieviel Freude ihr dabei hattet, und wie die Gärten mit den vielen Tieren und Pflanzen das auch ausgestrahlt haben. Man kann das nicht einfangen, die Fotos können das gar nicht richtig wiedergeben. Aber da ist einfach etwas Schönes passiert.

Oder etwas ganz anderes: als vor einem knappen Jahr hier von einem Tag auf den anderen in der Gebläsehalle eine Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge eingerichtet wurde, das war für alle, die dabei waren, ein großer Stress, viele haben gearbeitet, bis sie nicht mehr konnten, aber im Nachhinein kriege ich mit, wie viele sagen: das war eine tolle Zeit! Es war eine unglaublich wichtige Erfahrung, da dabei zu sein! Und man kann nicht wirklich sagen, was das war, aber dazu gehört die Erfahrung, wie alle an einem Strang zogen, wie auf einmal auch Behördenleute ganz unbürokratisch wurden, wie man merkte, wir sind durch eine ganz wichtige Sache verbunden, und viele geben ihr Bestes.

Oder ich denke an einen Kollegen, der ein ganzes Stück älter ist als ich und die Nachkriegszeit miterlebt hat auf einem Bauernhof, wo dann nach Kriegsende alle möglichen Leute am Tisch saßen, die das Schicksal auf den verschlungensten Wegen dorthin gebracht hatte. Und wenn dann diese Leute aus aller Herren Länder dort am Tisch saßen, dann sprach seine Großmutter das Tischgebet, und es hat für alle gereicht, und irgendwie muss da ein besonderer Glanz drauf gelegen haben, jedenfalls hat das wohl auch dazu beigetragen, dass der Junge von damals später Pastor geworden ist.

Unsere Welt ist dafür geschaffen, das sich über ihr ein Glanz entfaltet, dass sie Schönheit ausstrahlt, dass sie Freude erfüllt ist, und manchmal passiert das gerade da, wo die äußeren Bedingungen kümmerlich und karg sind. Wir sollen Not nicht idealisieren, sie ist nicht romantisch, aber manchmal entfaltet sich der Glanz gerade in einem Moment, wo es vorne und hinten klemmt. Das ist nicht garantiert, das kann man nicht planen oder erzwingen, aber es gehört zur Realität unserer Welt.

Nicht messbar, aber wirksam

Oder denken wir daran, wie sie früher Erntedank gefeiert haben, in Zeiten, als alle bei der Ernte mit anfassen mussten, damit der Ertrag der Arbeit rechtzeitig und trocken geerntet werden konnte. Wir können das heute nicht wiederholen, zu viel hat sich geändert inzwischen, aber vielleicht können wir uns vorstellen, was das für ein Fest gewesen sein muss, wenn sie alle ganz praktisch erfahren haben: Es ist wieder genug Essen für den Winter zusammengekommen, wir werden genug haben.

Die Welt ist nicht nur plumpe Materie, Kalorien und Tonnen, sondern sie hat immer auch eine verborgene Seite, sie ist mit Bedeutung erfüllt, Segensströme fließen durch sie hindurch, und wenn es gut geht, dann wird das auch an vielen Punkten sichtbar und in vielen Augenblicken spürbar. Und das gibt uns eine Energie, die nicht in Kilowatt zu messen ist, sondern es ist Zuversicht, Begeisterung, Kraft und Mut. Glanz. Das Verborgenen wird für einen Moment sichtbar, wir können dabei sein, aber wir können es nicht festhalten und speichern. Aber davon leben wir so sehr wie von Brot und Kalorien. Und wenn es fehlt, dann funktioniert auch das rein Materielle nicht mehr lange.

Und Jesaja sagt: wenn jeder festhält, was er hat, wenn jeder auf sich schaut und nicht teilen mag, dann verliert ihr genau diesen Glanz, des Segen, den Gott auf euer Leben legt. Dann wird alles mühsam und umständlich. Dann gibt es Formulare und Vorschriften ohne Ende, aber die können nicht Gerechtigkeit und Segen erzwingen, sondern sie machen das Leben nur noch mühsamer. Alle sind verdrossen und nörgeln, auch wenn sie eigentlich genug zum Leben haben.

Vortrupp des Lebens

Deswegen: wenn ihr möchtet, dass es aufwärts geht, wenn Zuversicht einkehren soll, wenn Glanz über dem Leben liegen soll, dann seid solidarisch. Übt euch darin zu teilen. Blendet die Menschen nicht aus, die es schwer haben, in der Nachbarschaft oder an den Grenzen Europas. Eine Gesellschaft, die mit aller Kraft Not bekämpft, die das, was sie hat, dankbar aus Gottes Hand entgegen nimmt, die großzügig teilt und sich auch einschränkt, wenn es nötig wird; eine Gesellschaft, in der die Lasten gleichmäßig geteilt und von allen mitgetragen werden, das ist eine Gesellschaft, die sich keine Sorgen machen muss. In so einer Gesellschaft lebt man gerne. In so einer Gesellschaft ist es leicht, sich zu begeistern und sich zu freuen.

Und Jesus setzt dann später dazu: auch wenn ihr in einer Gesellschaft lebt, die das ganz anders macht, dann könnt ihr doch als meine Jünger so leben. Es wäre gut, wenn alle das tun, aber ihr seid in jedem Fall der Vortrupp des Lebens. An euch soll sichtbar werden, dass die Welt von Liebe zusammengehalten wird. Wenn alle glauben, dass sie die Ellbogen ausfahren müssten, dann seid wenigstens ihr Realisten und lebt als versöhnte Leute, bis alle den Glanz entdecken, der über der Welt liegt.

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