Der zukünftige Tempel (Hesekiel IV)

Predigt am 14. Juli 2002 zu Hesekiel 40,1 – 43,12 pass.

Wir haben an den vergangenen drei Sonntagen gehört, wie Hesekiel dabei war, als die Herrlichkeit Gottes den Tempel von Jerusalem verließ; wir haben gehört, wie er die Resignierten auf ihre eigenen Möglichkeiten hinwies; und wir haben diese Vision der Hoffnung von den wiederbelebten toten Knochen bedacht.

Heute geht es um die Perspektiven des Neuanfangs in Jerusalem, später, nach der Katastrophe, wenn es dort wieder möglich sein würde, zu leben. Denn in einer Zeit, in der eine Rückkehr nach Jerusalem immer noch völlig ungewiss war, hatte Hesekiel wieder eine Vision – vom wiederaufgebauten Jerusalem.

40,1 Im 25. Jahr unserer Verbannung, am Jahresanfang, am 10. Tag des Monats – das war im 14. Jahr nach der Einnahme der Stadt Jerusalem -, spürte ich, wie der HERR seine Hand auf mich legte und mich genau dorthin brachte. 2 In einer Vision führte er mich ins Land Israel und setzte mich auf einem sehr hohen Berg nieder. Auf der Südseite des Berges sah ich etwas, das aussah wie eine Art Stadt. 3 Am Tor stand ein Mann, der wie Bronze glänzte. In den Händen hielt er eine leinene Messschnur und eine Messlatte.
4 Er sagte zu mir: »Du Mensch, mach deine Augen und Ohren auf und merke dir genau, was ich dir zeige! Denn dazu bist du hierhergebracht worden. Berichte den Leuten von Israel alles, was du hier siehst.« 5 Ringsum war die ganze Anlage von einer Mauer umschlossen. Der Mann maß die Mauer aus; sie war eine Messlatte. hoch und ebenso dick. Die Messlatte hatte eine Länge von 6 Ellen. 6 Dann ging der Mann die Stufen hinauf, die zum östlichen Toreingang führten, und maß die Tiefe der vorderen Toröffnung aus: sie betrug eine Messlatte. 7-10 Im Inneren hatte das Tor auf beiden Seiten je drei Nischen, die durch Pfeiler voneinander getrennt waren. Der Mann maß die Nischen aus; sie waren alle eine Messlatte. lang und eine Messlatte. breit. Die Pfeiler zwischen den Nischen waren 5 Ellen dick.

Hesekiel sieht eine ganze Tempelstadt. Über mehrere Kapitel wird sie beschrieben: mit zwei Vorhöfen, mit dem Tempelgebäude und dem Opferaltar, mit den Umkleideräumen der Priester und den verschiedenen Küchen. Und dann sieht Hesekiel wieder ein entscheidendes Ereignis:

43,1 Dann führte der Mann mich zum östlichen Tempeltor. 2 Dort sah ich die Herrlichkeit des Gottes Israels von Osten herankommen. Ein Rauschen ging von ihr aus wie von der Brandung des Meeres, und ihr Glanz tauchte die ganze Umgebung in strahlendes Licht. 3 Es war dieselbe Erscheinung, die ich am Fluss Kebar gesehen hatte und dann noch einmal, als der HERR sich aufmachte, um Jerusalem zu vernichten. Ich warf mich zu Boden, 4 während die Herrlichkeit des HERRN durch das Osttor in den Tempel einzog.
5 Da hob mich der Geist von der Erde auf und brachte mich in den inneren Vorhof des Tempels. Ich sah, dass die Herrlichkeit des HERRN das ganze Tempelhaus füllte. 6 Der Mann, der mich geführt hatte, stand neben mir. Aus dem Tempel aber hörte ich eine Stimme, 7 die sagte: »Du Mensch, hier ist der Ort, an dem mein Thron steht und der Schemel, auf den ich meine Füße stelle! Hier will ich für alle Zeiten in der Mitte des Volkes Israel wohnen! Die Leute von Israel sollen meinen heiligen Namen nie mehr durch schändlichen Götzendienst entehren und durch die Leichen ihrer Könige, die sie in meiner Nähe bestatten. 8 Ihre Könige sollen ihre Paläste nicht mehr neben meinem Tempel bauen, nie mehr Tür an Tür mit mir wohnen, so dass nur eine Wand sie von mir trennt. Die Abscheulichkeiten, die ihre Könige begingen, haben meinen heiligen Namen geschändet. Deshalb musste ich sie in meinem Zorn vernichten. 9 Aber wenn die Leute von Israel keine Götzen mehr verehren und die Leichen ihrer Könige von mir fernhalten, werde ich von nun an für immer in ihrer Mitte wohnen.
10 Du aber, du Mensch, sollst den Leuten von Israel den Tempel beschreiben, den du geschaut hast. Wenn sie sich seine Ausmaße vergegenwärtigen, werden sie sich schämen, dass sie mich früher so sehr missachtet haben. 11 … Zeichne vor ihren Augen einen Plan, und sag ihnen alle Vorschriften und Anordnungen für den Tempeldienst, damit sie sie künftig genau befolgen. 12 Die wichtigste Bestimmung aber ist: Der gesamte Tempelbezirk auf dem Gipfel des Berges ist mir geweiht. Selbst die Vorhöfe des Tempels sind im höchsten Grade heilig, genauso heilig wie das Innere des Tempelhauses. Dies ist das grundlegende Gesetz des Tempels.«

In seiner Vision sieht Hesekiel, wie die Herrlichkeit Gottes wieder einzieht in diesen neuen Tempel. Gott kommt zurück, die Zeit seiner Abwesenheit ist zu Ende. Hier ist wieder ein Platz, wo er wohnen kann. Und Gott nennt zwei Gründe für seine Abwesenheit vom Tempel:

  • zum einen den Götzendienst, der dort im Tempel stattgefunden hat,
  • zum anderen die große Nähe zu den Königen, deren Palast gleich nebenan gelegen hat, die auf diese Weise Einfluss genommen haben und sogar ihre Grabstellen im Tempel hatten.

Das gehört natürlich beides zusammen, die Könige haben schließlich dafür gesorgt, dass der Götzendienst nach Israel kam. Die Verweltlichung des alten Tempels ist fest mit den Königen verbunden. Deshalb beschreibt Hesekiel hier die Vision eines Israel, in dem die Könige nur noch wenig Bedeutung haben. Sie haben ihren Platz, aber weit weg vom Tempelbezirk, sie sind sozusagen aus dem Zentrum gerückt, und stattdessen steht im Zentrum die Tempelstadt.

Diese Vision für den Wiederaufbau Jerusalems bedeutet also: der ganze Weg der Könige von Saul an war ein Irrtum. Die haben uns im Wege gestanden, wenn wir zu Gott kommen wollten. Die haben mit ihren Machtinteressen den Tempel daran gehindert, der Ort der Orientierung auf Gott hin zu sein, der er eigentlich sein sollte. Dieser ganze Weg der Könige war ein Irrweg. Sie haben uns von der wirklichen Gottesverehrung abgehalten. Stattdessen soll in Zukunft der ganze Tempelbezirk heilig sein, und weltliche Einmischungen sollen da keinen Platz haben.

Man könnte es so zusammenfassen: statt des Königs soll der Priester im Mittelpunkt stehen.

Und so ungefähr ist es dann tatsächlich auch gekommen. Wirkliche politische Macht hat Israel später nur noch ganz selten besessen. Meistens war es eine Provinz eines größeren Reiches, und die Bedeutung der örtlichen Machthaber war eher gering. Aber der Tempel als geistliches Zentrum, der blieb bestehen. Und so kam es, dass etwa zur Zeit Jesu das eigentliche Zentrum Israels der Tempel war. Da fielen die Entscheidungen. Die Könige, Fürsten und Statthalter wechselten, nur der Tempel mit seiner Priesterschaft, der blieb bestehen.

Aber nun machten die Menschen zu Jesu Zeiten die Entdeckung, dass es nicht unbedingt besser wurde, wenn man den König durch den Priester ersetzte. Der Tempel des Herodes war zwar nicht genau nach dem Muster Hesekiels angelegt, aber er war auch so groß, und dazu gehörte eben auch eine große Organisation mit vielen Priestern und Oberpriestern; und dieser ganze Tempelapparat war dann auch ziemlich geistlos, sehr geldgierig und stellte sich am Ende gegen Jesus.

So dass die Bilanz der Geschichte Israels in der Zeit Jesus lautete: die Könige haben den Karren in den Dreck gefahren und die Priester haben ihn drin stecken lassen. Und als dann im Tempel der Hohe Rat den Beschluss fasste, Jesus zu beseitigen, da zeigte es sich, dass eine religiöse Institution genauso gottlos sein kann wie eine weltliche.

Jesus selbst hatte ja gleich am Anfang seines Aufenthaltes in Jerusalem die Händler und Wechsler aus dem Tempel gejagt; und nach einer halben Woche voller Anfeindungen verließ er ihn endgültig. Und es heißt (Markus 13,1-2):

1 Als Jesus danach den Tempel verließ, sagte einer seiner Jünger zu ihm: »Lehrer, sieh doch nur diese gewaltigen Steine und diese prachtvollen Gebäude!« 2 Da sagte Jesus: »Du bewunderst diese mächtigen Bauten? Hier wird kein Stein auf dem andern bleiben. Alles wird bis auf den Grund zerstört werden!«

Als Jesus den Tempel verließ, der das Zentrum des Widerstandes gegen ihn war, und in dem sein Tod schon beschlossene Sache war, da verließ die Herrlichkeit Gottes noch einmal den Tempel. Deswegen konnte Jesus sagen: das wird alles zerstört werden. Ein Tempel Gottes, in dem Gott keinen Platz mehr hat, der ist nutzlos und kann in Trümmer gelegt werden.

Aber was machte Jesus, nachdem er den Tempel endgültig verlassen hatte? Am Abend des nächsten Tages saß er mit den Jüngern zusammen und feierte mit ihnen zum ersten Mal Abendmahl. Es ist, als ob er sagen wollte: Wenn Gott in dem Tempel keinen Platz hat, dann sorge ich dafür, dass er einen anderen Platz auf der Erde findet. Hier bin ich mitten unter meinen Jüngern, und hier ist Gott, und ich sorge dafür, dass das auch immer so bleiben wird.

Sehen Sie, die Frage ist doch: was müssen Menschen tun, um einen Platz zu schaffen, an dem Gott auf der Erde wohnen kann? Ein Tempel ist so ein Platz. Aber es war noch nicht der richtige Platz. Er machte die Menschen in ihrer Beziehung zu Gott abhängig von einer großen Institution, die ihre Eigeninteressen hatte. Und sie waren in einer merkwürdigen Hassliebe mit dieser Institution verbunden, die ihnen einerseits den Weg zu Gott öffnete und sie andererseits in Abhängigkeit hielt.

Jesus gab uns dagegen die Möglichkeit, Gott zu finden unabhängig von so einer Institution. Er brauchte dazu nur ein ganz normales Haus und die Grundnahrungsmittel, die jeder hatte, Brot und Wein. Und eine Gruppe von Menschen, die an ihn glaubten. So hatte Jesus einen Platz geschaffen, wo man Gott überall auf der Welt ohne großen äußeren Aufwand begegnen konnte. Abendmahl feiern, das geht auch in Gefängnissen, Krankenhäusern und Lagern. Dazu braucht man keinen Tempel mit seiner Priesterschaft. Deshalb kann Paulus später schreiben (1. Korinther 3,16-17):

16 Wisst ihr nicht, dass ihr als Gemeinde der Tempel Gottes seid und dass der Geist Gottes in euch wohnt? 17 Wer den Tempel Gottes zugrunde richtet, wird dafür von Gott zugrunde gerichtet. Denn der Tempel Gottes ist heilig, und dieser Tempel seid ihr.

Oder wie Jesus es sagt: »Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich in ihrer Mitte.«

Die Herrlichkeit Gottes, die Hesekiel gesehen hat, das ist der Heilige Geist, der nun in Menschen wohnt. Die Gemeinde ist das, was früher der Tempel war: der Platz, wo Gott auf der Erde wohnt. Und so, wie früher ein machthungriger König oder eine machthungrige Priesterschaft diesen Zugang zu Gott verderben konnte, so ist das natürlich immer noch möglich, dass Menschen Gott vertreiben. Aber jetzt sind es nicht mehr »die da oben«, die schuld sind, sondern jetzt liegt die Verantwortung ganz bei den Menschen selbst. Natürlich vertreibt es Gottes Gegenwart,

  • wenn Menschen kleingemacht werden,
  • wenn da ein Klima des Angreifens und Beschuldigens herrscht,
  • wenn Menschen in Oberflächlichkeit leben und die Empfänglichkeit für den Heiligen Geist deckeln, oder
  • wenn Menschen in deutlicher Sünde leben.

Aber wenn jetzt irgendetwas Gottes Gegenwart im Weg steht, dann sind wir es selber. Das heißt aber auch: die Chance, zu Gott zu finden, ist wirklich in Reichweite, sie ist ganz nah. Wenn wir die Verantwortung haben, ob Gott sich aus unserer Mitte zurückzieht, dann haben wir auch die Möglichkeit, so miteinander Gemeinde zu sein, dass er bei uns wohnt.

Gott hat von seiner Seite aus alles dafür vorbereitet. Er hat sich in einen Menschen übersetzt, damit er uns ganz nahe kommen kann. Aus seiner schreckenerregenden, blendend hellen Herrlichkeit ist der Heilige Geist geworden, der Geist Jesu.

Ist das nicht wirklich kaum zu fassen, dass wir in unserer Reichweite das haben, wofür für frühere Generationen einen Tempel brauchten, ein großes Aufgebot von Priestern, einen enormen Aufwand an Opfertieren, ein umfangreiches Fachwissen darüber, wie man die ganzen heiligen Handlungen vollziehen muss, die Energie eines ganzen Volkes, das so ein Heiligtum unterhalten hat? Das alles ist jetzt den paar Menschen anvertraut, die sich in Jesu Namen in irgendeinem Haus treffen, irgendwo auf der Welt. Was in der gewaltigen Tempelstadt Hesekiels wohnen sollte, hat jetzt Platz in einer Wohnküche.

Und trotzdem ist das nicht weniger als die Herrlichkeit Gottes, die im Jerusalemer Tempel wohnte. Gott hat nichts abgestrichen, aber er hat einen Weg gefunden, wie die ganze Fülle der göttlichen Herrlichkeit durch den Heiligen Geist erst in Jesus und dann in der Gemeinde Jesu wohnen kann. In normalen Menschen und unter normalen Menschen wohnen kann.

Darum geht es, liebe Freunde, das soll unter uns geschehen, das ist der Kern des christlichen Glaubens.