Leben für tote Knochen (Hesekiel III)

Predigt am 7. Juli 2002 zu Hesekiel 37,1-14

37,1 Ich spürte, wie der HERR seine Hand auf mich legte. Er führte mich im Geist durch die Luft und setzte mich mitten in der Ebene nieder. Der ganze Boden war mit Totengebeinen bedeckt.
2 Der HERR führte mich überall herum und zeigte mir die Gebeine. Es waren unzählige, und sie waren völlig ausgetrocknet. 3 Dann fragte er mich: »Du Mensch, können diese Knochen wieder zu lebenden Menschen werden?« Ich antwortete: »HERR, das weißt nur du!«
4 Und er fuhr fort: »Rede als Prophet zu diesen Gebeinen! Ruf ihnen zu: ‚Ihr vertrockneten Knochen, hört das Wort des HERRN! 5 So spricht der Herr, der mächtige Gott, zu euch: Gebt acht, ich bringe Lebensgeist in euch, und ihr werdet wieder lebendig!6 Ich lasse Sehnen und Fleisch auf euch wachsen und überziehe euch mit Haut. Und dann hauche ich euch meinen Lebensgeist ein, damit wieder Leben in euch kommt. Ihr sollt erkennen, dass ich der HERR bin!’«
7 Ich tat, was der HERR mir befohlen hatte. Während ich noch redete, hörte ich es rauschen. Die Knochen rückten zueinander, so wie sie zusammengehörten. 8 Ich sah, wie Sehnen und Fleisch darauf wuchsen und sich eine Haut bildete. Aber es war noch kein Lebensgeist in ihnen.
9 Da sagte der HERR zu mir: »Du Mensch, sprich als Prophet zum Lebensgeist, sag zu ihm: ‚So spricht der Herr, der mächtige Gott: Komm aus allen vier Himmelsrichtungen und hauche diese Toten an, damit wieder Leben in sie kommt!’«
10 Ich tat, was der HERR mir befohlen hatte. Da kam der Lebensgeist in sie, und sie wurden lebendig und standen auf. Es war eine riesige Menschenmenge.
11 Dann sagte der HERR zu mir: »Du Mensch, diese Totengebeine sind das Volk Israel. Du hörst doch, wie sie sagen: ‚Unsere Gebeine sind vertrocknet, unsere Hoffnung ist dahin; wir haben keine Zukunft mehr!‘ 12 Darum rede als Prophet zu ihnen und sage: ‚So spricht der Herr, der mächtige Gott: Gebt acht, ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, heraus; ich führe euch heim ins Land Israel. 13 Ihr werdet erkennen, dass ich der HERR bin, wenn ich das tue – wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus ihnen heraushole. 14 Ich gebe meinen Geist in euch, damit wieder Leben in euch kommt, und bringe euch in euer Land zurück. Ihr sollt erkennen, dass ich das angekündigt habe und dass ich tue, was ich sage, ich, der HERR.’«

Diese Vision Hesekiels von der Ebene voller Knochen ist für mich immer verbunden mit dem Bild einer anderen Ebene, auf der ich selbst gestanden habe, einer Ebene in Polen. Eine grüne Ebene voll Buschwerk und Wiesen, durchzogen von hohen Stacheldrahtzäunen und übersät mit kleinen und größeren Haufen von alten Trümmern. Wir standen dort mit unserer Gruppe, lauter junge Leute aus Deutschland, und unser polnischer Führer bat uns, auf die Erde zu schauen. Mitten in der harten, dunklen Erde des Weges zeigte er uns kleine weiße Steinchen, nicht größer als ein paar Millimeter, wie grobkörniger Kies. »Das sind keine Steinchen«, sagte unser Führer, »das sind Knochensplitter.« Ich habe selbst nachgeschaut, so ein Steinchen in die Hand genommen – tatsächlich, es war Knochenmaterial. Viel leichter als ein Stein. Bröckelig nach so langer Zeit. Hier hatten sie die Asche und die Überreste der Ermordeten hingekippt, sie hatten damit Wege und Plätze planiert. Erst hatte man die Menschen in den Gaskammern getötet, dann in den Krematorien verbrannt, und das wenige, das von den Hunderttausenden und Millionen von Menschen noch übriggeblieben war, das war nun verstreut über die Ebene von Auschwitz. Das war von ihnen übriggeblieben, von all den Menschen, die hierhergebracht worden waren, weil sie Juden waren, Polen, Russen, Zigeuner, Kommunisten, Christen oder weil sie irgendwie anders ins Visier des nationalsozialistischen Deutschlands gekommen waren. Kleine weiße Steinchen.

Damals habe ich diese Vision des Hesekiel von der Wiederbelebung der Totengebeine ganz unmittelbar verstanden als die große Hoffnung, dass Gott sich damit nicht abfinden wird und auch für die Toten der Völkermorde noch ein Leben vorbereitet hat. Dass er das nicht auf sich beruhen lassen wird, sondern dem Tod diese Beute noch einmal entreißen wird. Dass sie alle dabei sein werden, wenn er die Erde erneuert. Dass in dieser Sache noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.

Dann, im Lauf der Zeit ist mir klar geworden: das ist zwar eine berechtigte Ausweitung des Bildes, Hesekiel hat damals eine Vision empfangen, in der viel mehr drin ist, als er selbst schon wusste. Aber auch Hesekiel hätte sich damals Auschwitz nicht vorstellen können. Er spricht in einem Bild und weiß noch nicht, dass dieses Bild einmal grausame Wirklichkeit werden wird. Er schildert in seinem Bild Leute, die von sich sagen: wir haben keine Zukunft mehr, wir sind nur noch vertrocknete Knochen. Er spricht vom Gottesvolk, das nicht weiß, ob es jemals wieder eine Rolle spielen wird. Das war damals in Babylon, als sich zeigte, dass das Gottesvolk den Bund mit seinem Gott immer wieder gebrochen hatte und nun als Folge davon sein Land und seinen Tempel verloren hatte. Sie standen äußerlich und innerlich vor dem Nichts. Sie sagten: wir sind tot, erledigt, aus uns wird nie wieder was.

Und so gesehen muss man diese Ebene des Todes in Auschwitz auch so verstehen, dass da nicht nur Millionen von Toten aus allen Völkern Europas liegen, sondern dass sich dort auch die Frage stellt, wie so etwas passieren konnte in einem Europa, das sich über lange Jahrhunderte als christlich bezeichnet hat. Was ist da schief gelaufen, warum war die christliche Substanz nicht stark genug, um diese Katastrophe zu verhindern? Ja, es hat gar nicht wenig Menschen gegeben, die von ihrer christlichen Verwurzelung her Hitler und seinen Leuten mutig widerstanden haben, und man kann an ihnen ablesen, wieviel Kraft zum Widerstehen der Glaube geben kann. Das Problem ist aber, dass das nicht der Hauptstrom des Christentums war. Dass ganz viel von dem, was die Menschen unter Kirche und Christentum verstanden, nicht in der Lage war, ein kräftiges und unüberhörbares Nein zu Gewalt und Mord zu sagen. Und wozu taugt denn ein Christentum, dass das nicht schafft?

Man muss deshalb sagen, dass in der Ebene von Auschwitz in Wirklichkeit auch die Trümmer von Jahrhunderten europäischer und deutscher Christentumsgeschichte liegen. Und die Frage ist: kann daraus eigentlich überhaupt noch einmal etwas werden?

So wie Hesekiel die Frage gestellt bekommt: glaubst du, dass diese toten Knochen noch einmal lebendig werden können? Glaubst du, dass es noch einmal Zeiten geben könnte wie die Zeit König Davids, oder die Zeit von Mose oder von Abraham? Zeiten, in denen Menschen mit Gott redeten wie mit einem Freund?

So heißt für uns die Frage: glaubst du, dass aus dem europäisch geprägten Christentum noch etwas werden kann? Glaubst du, dass wir noch einmal zurückkönnen – hinter Auschwitz und die Inquisition und die Kreuzzüge zurück, zurück zur Christenheit des Anfangs, die noch nicht von den herrschenden politischen Mächten gezähmt und kontrolliert war? Die soviel Distanz zu ihrer Umwelt hatte, dass sie sich nicht hineinziehen ließ in die Gewalt, die um sie herum herrschte?

Und diese Vision des Hesekiel sagt: ja, es gibt Zukunft, aber es ist eine Zukunft, die nur aus einem völligen Neuanfang kommt. Der Prophet wird ja extra gefragt: Glaubst du, dass aus diesen Knochen noch einmal etwas werden kann? Und die einzig mögliche Antwort eines Menschen wäre natürlich: Nein, diese Gebeine werden hier verrotten und vergehen. Aber der Prophet antwortet anders. Er sagt: Herr, das weißt nur du! Und daran merken wir, dass er noch eine Hoffnung hat, die Hoffnung, dass Gott neues Leben aus dem Tod schafft.

Hesekiel hat mitten in der Katastrophe Hoffnung, aber es ist nicht die Hoffnung, sich irgendwie durchschlängeln zu können, sondern die Hoffnung, dass Gott einen echten Neuanfang schafft.

Es gab damals auch Menschen, die in Israel die Katastrophe überlebt hatten und sich dort im Land irgendwie durchschlugen. Die dachten sich: kommt Zeit, kommt Rat. Irgendwann werden wir schon wieder stärker werden, und dann geht es weiter wie vorher. Aber was Hesekiel verkündet, das ist wirklicher Neuanfang, ein Sterben des Alten, oder man sollte genauer sagen: das Anerkennen, dass da etwas Altes an sein Ende gekommen ist, was man vielleicht noch eine Zeitlang mit Mühe am Leben halten kann, aber es hat keine Zukunft und etwas Neues muss beginnen.

In dieser Zeit des Nationalsozialismus, schon in der zweiten Hälfte des zweiten Weltkriegs, saß der Christ Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis, weil er beteiligt war an staatsfeindlichen Aktionen, und er stellte sich schon damals genau diese Frage: wird es bei uns überhaupt noch eine Zukunft des Glaubens geben? Oder ist unsere Geschichte mit dem Christentum an sein Ende gekommen?

Und er schrieb an sein Patenkind: da kommt etwas Neues und Umwälzendes, wir ahnen es schon, aber wir können es noch nicht fassen und aussprechen. Das Christentum muss erst wieder neu geboren werden. Und wenn es zu früh wieder äußere Macht bekommt, dann wird das den wirklichen Neuanfang sogar verzögern, dann sind wir in der Gefahr, ohne Umkehr einfach weiterzumachen wie früher.

Es scheint, dass man diesen Gedanken an einen Neuanfang klarer denkt, wenn ringsum alles in Trümmern liegt. Das verbindet Bonhoeffer mit Hesekiel.

In der Vision des Hesekiel wird er aufgefordert, in prophetischer Vollmacht zu den toten Knochen zu sprechen. Und sie fangen wieder an zu wachsen und sich mit Haut und Fleisch zu bedecken, und dann kommt der Geist Gottes und erweckt diese Volk wieder zum Leben. Gott kündigt das durch seinen Propheten an, lange bevor er es tut. »Ihr werdet erfahren, dass ich Gott bin« sagt er. Gott will, dass wir es glauben, bevor er es tut. Denn wenn wir es nicht vorher schon glauben, dann werden wir nicht darauf vorbereitet sein und wir werden es nicht verstehen, wenn es soweit ist.

Und mehr noch, es soll Menschen geben, die das aussprechen und so dafür sorgen, dass Gottes Wort sein Werk auch wirklich tun kann.

Und dann wird es geschehen, dass von oben her der Gegenangriff beginnt und der Geist des Lebens die Menschen ergreift, und sie rufen neu nach Gott und fragen nach seinem Geist und nach einer Gemeinde, die nicht in menschlicher Kraft lebt, sondern aus der Vollmacht Jesu Christi. Geist bedeutet ja, dass der innerste Kern eines Menschen vom göttlichen Willen bewegt wird; dass man Menschen nicht mehr mit Vorschriften oder Manipulation zu etwas bringen muss, weil sie aus ihrem Inneren her gesteuert sind. In dieser ganzen gottentfremdeten und gottvergessenen Welt wird es geschehen, dass der Geist hineinfegt und Menschen ergreift und erneuert. Menschen, die gedacht haben, dass für sie Gott keine Rolle mehr spielen wird, die werden erstaunt erkennen, dass da von außen etwas in unsere Welt hineinkommt, was ganz anders ist, als die Dinge, die wir kennen, aber genau das, was wir brauchen. Und die Todesmächte, die sich immer wieder in unserer Welt erheben und Menschen verschlingen und vernichten, die werden endlich einem wirklicher Gegner gegenüberstehen, den sie fürchten. Der Wind Gottes wird über die Erde wehen, und die Gemeinde Gottes wird da sein, als ein Licht auf dem Berg und überall wird Erneuerung geschehen.

Und wir sind heute hier, damit wir das glauben und darauf hoffen und am Ende sehen, dass Gott treu ist. »Ihr werdet erkennen, dass ich Gott bin« sagt er. Er kündigt es an, bevor es geschieht, damit wir nicht denken, dass es ein Zufall wäre. Heute glauben wir das nur mit Bangen und fragen: Gott, wie lange wird es noch dauern? Und wird es wirklich kommen? Aber wenn es dann soweit ist, dann werden wir sagen: natürlich, warum haben wir gezweifelt, die Zeichen waren doch alle da, und wir hätten es wissen können. So warten wir heute sehnsüchtig auf jeden Windstoß, der uns zeigen kann, dass der Wind sich gedreht hat und der Geist Gottes dabei ist, sein totgeglaubtes Volk von neuem ins Leben zu rufen.