Kirche im bürgerlichen Zeitalter

Abschied vom bürgerlichen Christentum (2)

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Diese fünfteilige Reihe wurde ursprünglich 2015 auf dem Blog von Emergent Deutschland veröffentlicht und wurde jetzt leicht überarbeitet.

Im ersten Teil der Reihe wurden die religiösen Konstellationen in Europa am Anfang der Neuzeit beschrieben: die Begegnung einer dominanten spiritualistischen Kirche (ich benutze diesen Begriff im Anschluss an Walter Wink) mit einem aufstrebenden, revolutionären Bürgertum. Im zweiten Teil geht es nun um die Reaktion des Christentums auf diese neue gesellschaftliche Großwetterlage.

Ideologisch kam es am Ende zu einer Arbeitsteilung: die Kirche beschäftigte sich mit Moral, Seelenheil und dem Einzelnen und hielt sich – außer zur Abgabe patriotisch-reaktionärer Kundgebungen im Kriegsfall – aus der Politik heraus. Der öffentliche Diskurs hatte sich auf das Fundament der Vernunft zu gründen (sofern nicht gerade Volk, Vaterland, Rasse u.ä. angesagt waren); im privaten Raum mochte jeder so glauben, wie er glauben zu müssen meinte. Innerkirchlich standen Modernisierer in einem ewigen Konflikt mit Bewahrern der Tradition, die die Besonderheit der Kirche durch Rückgriff auf Stil, Sprache und Musik früherer spiritualistisch geprägter Zeitalter zu bewahren meinten. Beide Fraktionen waren sich meistens darin einig, dass die Kirche die Finger von der Politik lassen und sich lieber mit dem “Eigentlichen” beschäftigen sollte.

So entwickelten die Kirchen eine Doppelstrategie: patriarchaler Konservatismus für das Volk; wohltemperiertes, vernünftiges Kulturchristentum für die seelische Erhebung der bildungsbürgerlichen und Oberschichten, sofern sie dafür zugänglich waren. Für alle die Begleitung in Krisensituationen des Lebens durch Taufe, Trauung, Trauerfeier.

Das ist ungefähr der Rahmen, in dem sich die bürgerliche Spielart des Christentums entwickelte, und der über lange Zeit erstaunlich stabil geblieben ist. Auch die Frommen im Lande akzeptierten ihn stillschweigend, wenn auch oft erst mit jahrzehntelanger Verzögerung. Generationen von Theologen haben sich daran abgearbeitet, das Verhältnis von öffentlich und privat, Vernunft und Glauben immer wieder neu zu justieren. Unzählige Modernisierungsschübe trieben die Kirchen vor sich her, und der Wirklichkeitsbereich, für den das Christentum „heute noch“ zuständig war, schrumpfte immer weiter zusammen.

In diesem Rahmen ist der Zweifel ein steter Begleiter des neuzeitlichen Christen. Hin- und hergerissen zwischen der öffentlich gültigen Weltanschauung, die nur das Fundament der Vernunft kennt, und seiner ihm selbst oft unbegreiflichen Verbindung mit dem doch eigentlich überholten Christentum seiner Kindheit und Jugend, lebt der moderne Christ häufig vor allem im Modus der Scham oder der Rebellion. Er schämt sich seines eigentlich längst widerlegten Glaubens und seiner unzeitgemäßen Kirche, er rebelliert im Bündnis mit den Liberalen gegen überholte theologische Grundsätze und kirchliche Bräuche und bleibt bei allem doch immer eine tragische Gestalt, die ihres Glaubens nicht froh wird. Er umwirbt die Moderne bis zur Selbstaufgabe und kann ihr Herz und ihre Anerkennung doch nicht wirklich gewinnen. Ja, gerade wenn er sich dem gesellschaftlichen Mainstream einmal besonders nahe weiß (wie in der protestantischen Identifikation mit dem Vaterland vor, während und nach dem ersten Weltkrieg), wird er einige Jahrzehnte später gerade dafür wieder Prügel beziehen.

Versucht der neuzeitliche Christ aber umgekehrt, sich tapfer auf den Standpunkt der Entweltlichung zu stellen und an unaufgebbaren Essentials festzuhalten, auch wenn sie von gestern sind, so muss er erleben, dass die gesellschaftliche Entwicklung ihn erst recht überrollt und die nächste Generation sich um so mehr bemüht, den Vorsprung aufzuholen, den der Zeitgeist inzwischen schon wieder gewonnen hat.

Daraus ergibt sich eine chronische Schwäche, die das neuzeitliche Christentum begleitet und es bis heute davon abhält, die bürgerliche Neuzeit ernsthaft mit den Verheerungen zu konfrontieren, die sie weltweit Menschen, Kulturen und dem ganzen Planeten antut.

Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit der Konservativen wie der Modernisierer auf – Sex. Er ist das Territorium, auf dem die Stellvertreterkriege um Tradition und Modernisierung geführt werden. Im Schnittpunkt von Privatheit, Moral und Innerlichkeit liegend, eignet er sich hervorragend, um die alte Geschichte von Freiheit, Rückständigkeit und Fortschritt in immer neuen Varianten und aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu erzählen. Und so kreisen die Gedanken vieler Christen jeder Couleur unablässig um ihr Thema Nummer eins. In fruchtlosen Konflikten wird die Energie vergeudet, die angesichts der Zukunft des Planeten an anderen Stellen dringend gebraucht würde.

Nein, sorry, im dritten Teil geht es nicht mit Sex weiter. Es geht um den Unterschied zwischen der anderen Welt und einer Welt, die anders ist; um die Sprache Luthers, und wer im Wald zu Gott findet. Und ein ganz klein wenig Sex kommt doch noch.

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