Was ist die Säkularisierung eigentlich heute?

Die Bedeutung des christlichen Backgrounds

Es ist schon einige Zeit her, dass Tobias auf seinem Blog mehrere Beiträge (hier, hier, hier und hier) (und jetzt auch hier) zur religiös-geistigen Situation der Gegenwart veröffentlicht hat. Er macht dabei keine Schnellschüsse, sondern versucht ausdrücklich, unser Heute im Rahmen einer längeren Entwicklungsgeschichte zu verstehen. Also keine kurzfristigen Handlungsrezepte, sondern zuerst einmal verstehen, was eigentlich vorgeht: in welchem Prozess wir uns im Augenblick befinden.

Dazu stellt er verschiedene Theorieansätze vor, mit denen die Situation der Religion – vor allem in Europa – beschrieben worden ist:

  • Der bisher wirkungskräftigste Ansatz war die Säkularisierungsthese: Religion ist eine vorwissenschaftliche Denkweise, die durch rationalere Denkmuster ersetzt werden wird und auf ihr Aussterben zugeht.
  • Diese These wird jedoch inzwischen einfach durch das faktische und vitale Überleben der Religion im Weltmaßstab widerlegt. Sie ist auch nicht mehr das herrschende Denkmuster in der Religionssoziolgie.
  • Vielmehr gerät die Säkularisierungsthese selbst in Ideologieverdacht: sie hat zum Teil erst die Wirklichkeit hervorgebracht, die sie zu beschreiben vorgibt; sie war selbst ein Kampfbegriff. Aber sogar im stark säkularisierten Europa, das im Weltmaßstab eine Ausnahme ist, greift sie nicht: die länderspezifischen Unterschiede (etwa das katholische Polen neben dem gottlosen Ostdeutschland, dem ebensolchen Tschechien und dem gemischten Westdeutschland …) sind nicht nach dem Muster Fortschritt/Rückständigkeit zu erklären.
  • Der Religionspädagoge Dressler schlägt einen anderen Erklärungsrahmen vor: die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft lässt es nicht zu, dass ein Subsystem (die Religion) die ideologische Kontrolle über die ganze Gesellschaft übernimmt.

Tobias hat ausdrücklich zum Mit- und Weiterdenken eingeladen. Das will ich mit einiger zeitlicher Verzögerung hier tun.

Ich empfinde es als zentrales Defizit all dieser Theorien, dass sie von einem allgemeinen Religionsbegriff ausgehen und die christliche Religion darunter subsummieren. Wenn die Religionssoziologie inzwischen feststellt, dass es Säkularisierung eigentlich nur in Europa und bei den weltweiten europäisch geprägten Eliten gibt, dann stellt sich ja die Frage nach dem Grund dieser Sonderstellung.

Die naheliegende Hypothese wäre dann doch, dass die Säkularisierung kein allgemeines Gesetz ist, sondern eine Frucht der besonderen Religion, die Europa geprägt hat: des Christentums. Wieso ist gerade auf dem Boden des Christentums eine mindestens teilweise religionslose Gesellschaft entstanden? Ist das historischer Zufall, oder hängt das mit den spezifischen Inhalten des Christentums zusammen?

Die Frage so zu stellen bedeutet natürlich, dass man das Zweite vermutet. Genauso kann man dann aber auch unterstellen, dass es ein blinder Fleck der Religionssoziologie ist, wenn sie diesen spezifisch christlichen Sonderweg der Religion in Europa nicht angemessen wahrnimmt (ich kenne mich allerdings nicht gut genug auf diesem Felde aus, um sagen zu können, ob das durchgehend so ist. Das weißt du sicher besser, Tobias!).

Ich denke, dass eine angemessene Theorie der christlichen Religion in Europa mindestens die folgenden Besonderheiten berücksichtigen müsste:

  1. Den besonderen inhaltlichen Impuls des Christentums (Max Weber hat gezeigt, welche revolutionären gesellschaftlichen Entwicklungen der angestoßen hat)
  2. Die konkurrenzlose Monopolstellung des Christentums in Europa („Religion“ bedeutete hier über Jahrhunderte „Christentum“ – in anderen Gegenden der Welt erlebt man durchaus mehrere Religionen nebeneinander)
  3. Die staatsgestützte ideologische Dominierung der Gesellschaft durch die Kirche(n)
  4. Die Verformung des christlichen Impulses durch diese dominierende Stellung
  5. Der besondere Charakter des Widerstandes gegen die kirchliche Dominanz in der Aufklärung und der weitere Verlauf dieser Auseinandersetzung.

Meine Vermutung dazu ist, kurz gesagt: die europäische Säkularisierung ist gewachsen aus dem gesellschaftlichen Widerstand gegen die kirchliche Dominanz. Weil die so umfassend war (faktisch und ideologisch – Stichwort Monotheismus, Absolutheitsanspruch des Christentums), konnte es keinen religiösen Widerstand geben, sondern nur einen anti-religiösen, der sich nominell gegen „die Religion“, faktisch aber gegen das Christentum richtete. Eine Spätfolge davon ist das Phänomen, dass die Menschen im Augenblick zu unser aller Erstaunen wieder religiös werden, aber nicht christlich.

Dieser Widerstand gegen kirchliche Dominanz speiste sich aber – jedenfalls teilweise – aus dem christlich-jüdischen Impuls selbst (aber auch antik-heidnische und asiatische Impulse spielen eine Rolle). Nicht umsonst kamen/kommen viele Religionskritiker aus einem christlichen oder jüdischen Umfeld (Pfarrhäuser sind da recht beliebt). Die religionskritischen Impulse der Bibel sind hier auf fruchtbaren Boden gefallen, wenn auch in anderem Kontext. Das führt zu einer sehr undurchsichtigen Gemengelage.

Schließlich müsste man das Ganze auch auf der viel weniger theoretischen Ebene des Alltags, aus der Perspektive des „Volkes“ durchspielen: die zwiespältigen Erfahrungen mit Kirchen (bzw. Pastoren), die einerseits Organe gesellschaftlicher Kontrolle und andererseits auch Repräsentanten von Menschlichkeit und Menschenwürde waren. Diese beiden Ebenen (Theorie und Alltag) sind aber – vor allem durch die Arbeiterbewegung – auch miteinander verbunden.

Spannende Fragen sind für mich in diesem Zusammenhang:

  • War das Bündnis von christlichem Impuls und Religion eigentlich ein Missverständnis, oder gibt es da eine Schnittmenge (und welche)?
  • Aktuell gewendet bedeutet das: ist Religion nur eine vorübergehende Gestalt des christlichen Impulses? vielleicht noch nicht einmal eine gute? Pointiert gesprochen: wieviel Religion braucht eigentlich das Evangelium? Sollten wir uns der gegenwärtigen Renaissance der Religion anschließen oder nicht? Oder wie?
    Das ist für mich keine rhetorische, sondern eine echte und praktische Frage!
  • Hier wäre auch nach der bleibenden Bedeutung von Bonhoeffers Prophezeiung einer kommenden „religionslosen“ Zeit zu fragen. Wenn man sie als die Prophezeiung einer „christentumslosen“ Zeit verstehen würde, dann wäre diese These jedenfalls nicht einfach durch die Entwicklung widerlegt.
  • Muss sich christlicher Glaube eigentlich immer in Form einer Religion organisieren? Die frühen Christen jedenfalls wurde eher als Anti-Religion wahrgenommen.
  • Ist es möglich, relgionskritische Impulse der Aufklärung wieder mit ihren biblischen Wurzeln zu versöhnen?
  • Auffällig ist schließlich, dass sich der Katholizismus in den Ländern bis heute hält, in denen er sich über lange Zeit mit einer unterdrückten Nation verbunden hat (Polen, Irland), während er in Frankreich mit dem Ancien Regime verbunden war und sich von der Revolution nicht wieder erholt hat. Ist also für das Überleben einer Religion (oder wenigstens des Christentums) die Positionierung in gesellschaftlichen Konflikten entscheidend?

Tobias hat zur Diskussion eingeladen. Ich möchte das unterstreichen. Die Verhältnisse sind eine so unübersichtliche Gemengelage. Da muss einfach mehr Klarheit rein. Lasst uns hier Nachdenken investieren! Wer macht mit?

Dieser Beitrag hat 5 Kommentare

  1. tobiK

    Danke Walter – das freut mich natürlich. Hier einige kurze Gedanken/ Rückfragen: Wie würdest Du christlichen Impuls und Religion voneinander unterscheiden? Kann man das überhaupt? Bzw. die Frage ist ja auch: Was versteht man überhaupt unter Religion? Ich denke, die vorgestellten Texte behandeln den Begriff der Religion erstmal ganz pragmatisch als Sammelbegriff.

  2. tiefebene

    Ja, würde ich auch so sehen, dass „Religion“ erstmal pragmatisch einen Haufen Phänomene zusammenfasst. Da ist nichts gegen zu sagen.
    Aber: in der Antike fiel die christliche Bewegung aus dem Raster der „normalen“ Religionen heraus. Sie hatten keine Tempel, keine Priesterschaft usw. Anscheinend beschränkten sich ihre „Riten“ auf Lieder und wenige Vollzüge (wie Taufe, Abendmahl – auch wenn heutige Exegeten oft verzweifelt versuchen, quasi amtskirchliche Elemente dort zu entdecken). Wenn man die spärlichen neutestamentlichen Beschreibungen von Gemeindeversammlungen anschaut, hat man von der Form her eher den Eindruck, man befände sich in … einer Therapiegruppe? einem Treffen einer politischen Gruppe? oder einer Nachbarschafts-Selbsthilfegruppe? Trifft es alles nicht so recht, aber man wird auch nicht an antike Tempelgottesdienste oder an heutige liturgisch geregelte Gottesdienste in einer Kirche erinnert.
    Die nächste Parallele in der Antike waren vielleicht die privaten Mysterienkulte. Aber da fehlte die umfassende Gestaltung des Lebens, die bei den Christen dazugehörte.
    Die christliche Bewegung war immer umfassender als das, was man unter „Religion“ verstand. Wo man sie auf Religion reduziert hat, wurde sie verstümmelt. Aber natürlich haben auch relgiöse (im pragmatischen Sinn) Elemente dazugehört.
    Das ist natürlich alles begrifflich sehr unscharf. Aber deswegen finde ich eine Diskussion so wichtig, um mehr Klarheit zu kriegen. Gerade jetzt, wo wir das Wiederaufleben religiöser Vollzüge beobachten. Was davon sollten wir aufnehmen, wovon die Finger lassen?

  3. Arne

    Hey Walter, hab den Beitrag erst jetzt entdeckt.
    Max Weber ist ein gutes Stichwort, denn der gibt ja durchaus Deutungsmuster, die erklären helfen, wieso gerade Atheismus auf dem Boden des Christentums entstehen kann. Man kann vielleicht davon ausgehen, dass das Christentum in der Frühen Neuzeit einen Prozess in Gang gesetzt hat, der beinahe zu seiner eigenen Abschaffung hätte führen können. Die Welt wurde ja zunächst entzaubert, weil man die Souveränität Gottes sichern wollte. Der cartesische Dualismus war ja ein tiefgläubiger Dualismus (siehe Charles Taylor, der das genauer beschreibt). Doch während man zuerst die Unsichtbare Welt als die wichtigere annahm, verlegte sich der Fokus mehr und mehr auf die sichtbare. Wenn man mit streng empirischen Mitteln an die Religion herangeht, landet man entweder im Atheismus oder im Pietismus (wahr ist, was ich fühle).
    Zweitens: ich würde auch vorsichtig sein, Religion so negativ zu besetzen. Dies ist ein polemischer Religionsbegriff, der auf Luther zurückgeht, der aber a) für die religionssoziologie nicht brauchbar ist und b)meiner Ansicht nach schnell zu Selbstgerechtigkeit und zu blinden Flecken führt.

  4. tiefebene

    Hallo Arne,
    findest du, dass ich „Religion“ zu negativ beschrieben habe? Ich wollte eigentlich mehr eine pragmatische, eher religionssoziologische Sichtweise nehmen. Und dann von da aus beschreiben, inwieweit neutestamentliches Christentum sich von anderen Religionen unterscheidet. Und fragen, wieviel Religion wir im Christentum brauchen.
    Wie meinst du das: „wenn man mit streng empirischen Mitteln an die Religion herangeht, landet man entweder im Atheismus oder im Pietismus“ – ist das eine geschichtliche Einordnung, bezieht sich das auf meine Fragestellung oder beides?

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