Karl Barth: Befreiung von der Zerstörung

Karl Barth über eine unheilvolle Engführung der abendländischen Theologie

Was ist der Anfang, wenn man das Evangelium erklären will? Ist es die menschliche Sünde und Unzulänglichkeit, oder nicht eher die Schöpfung und Berufung des Menschen zum Ebenbild Gottes und zu einem Leben voll Freude vor IHM? Womit man anfängt, das setzt schon den Rahmen, in dem die Antwort liegen wird. Wer mit der Sünde einsetzt, wird es in der Regel schwer haben mit dem Können und dem Werk des Menschen, und auch die Freude wird misstrauisch angesehen werden. Dieser Gedanke ist in „Emergent“-Kreisen nicht neu. Die üblichen Verdächtigen (insbesondere Augustin) sind schnell benannt.

Ich habe jetzt bei Karl Barth eine Überlegung aus dem Jahre 1955 (Kirchliche Dogmatik IV/2,258) gefunden, die in die gleiche Richtung geht – nur dass hier als besserer Bezugsrahmen nicht die Schöpfung, sondern das Reich Gottes und die dadurch geschehene Befreiung von den Todesmächten benannt wird. Aber das ist kein Gegensatz. Im Reich Gottes geht es ja gerade um die Befreiung der Schöpfung zur Freiheit der Kinder Gottes.

Wie war es nur möglich, dass die Reformation und dann – auf den Wegen Luthers und auf denen Calvins – der ganze alte und erst recht der neue Protestantismus, von gewissen Einzelgängern abgesehen, diese im Neuen Testament doch so klar bezeugte Dimension des Evangeliums: seine Kraft als Botschaft der erbarmungsvoll mächtigen, vorbehaltlos vollzogenen Befreiung, eben von der Phthora [dem Verderben], vom Tode, vom Bösen als der Gewalt des Üblen, so gänzlich übersehen konnte? Wie kam es, dass der Protestantismus im Ganzen – Augustin, dem „Vater des Abendlandes“ nur zu getreu – sich so einseitig anthropologisch (am Problem der Buße, statt an deren Voraussetzung: dem Reiche Gottes!) orientieren, und das hieß dann im Resultat: zu einer so einseitig moralischen und darum so glanzlosen, der Frage nach dem Menschen selbst gegenüber so gleichgültigen und darum so unfreudigen Angelegenheit werden musste?

Übrigens erwartet Barth vom Katholizismus da erst recht nichts Besseres, konstatiert aber, dass in der ostkirchlichen Tradition noch einiges zu finden sei. Schade, dass bei Barth viele Schätze in den Tausenden von Seiten der Kirchlichen Dogmatik doch sehr versteckt sind. Und seine oft sehr breit ausformulierten Sätze sind auch nicht jedermanns Sache. Trotzdem, für alle, die sich von dem Zitat oben nicht haben entmutigen lassen, hier noch der Folgesatz:

Wie war es nur möglich, dass man auch das übersehen konnte: welche strahlende Begründung und Bestätigung gerade [für] die spezifisch reformatorische Lehre von der Rechtfertigung und von der Heiligung man sich damit entgehen ließ, dass man nicht ganz anders auf den gerade in den Wundertaten Jesu, in diesen „Werken Gottes“ sichtbaren Charakter der Selbstoffenbarung Gottes in ihm, dem Menschensohn, achtete: eben auf die Freiheit der in ihm erschienenen Gnade?

Das bedeutet: die Konzentration auf Schuld und Buße ist eine anthropologische Engführung. Erst von der Revolution des Reiches Gottes her bekommen die Fragen von Moral, persönlichem Heil usw. ihren angemessenen Platz. Es geht um Befreiung von den Todesmächten, die diese Welt in ihren Fängen halten. Werden Sünde und Buße von diesem größeren Zusammenhang isoliert und zum Zentrum gemacht, dann bekommt man all die Probleme, die die Rechtfertigungslehre für Denken und Lebenspraxis mit sich bringt, wenn sie vom Schuldparadigma dominiert wird.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. ebbelwain

    Danke! Sehr ermutigend, und immer noch sehr neu für mich. Für mich war das Schuldparadigma allerdings nie ein Problem, aber ich verstehe immer besser, warum für viele andere…

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