Die wirklich wichtigen Fragen zur Wahl

Predigt am 20. September 2009 mit Sprüche 14,28 und 29,18

Zu Beginn war eine war eine Theaterszene zu sehen, in der sich zwei Personen über die kommende Bundestagswahl unterhielten.

Wir haben vorhin hier ein politisches Gespräch über die »wirklich wichtigen Fragen« verfolgt, und natürlich war das überzogen – aber nehmen wir das mal ernst. Was wird in solchen Mosereien sichtbar? Was sind die wirklich wichtigen Fragen, die dahinterstehen?

Natürlich gibt es Sachfragen, z.B. Fragen nach Steuern, Bildung, Atomkraft, Regelungen für die Wirtschaft usw. Ich würde nie bestreiten, dass das wichtige Fragen sind. Und ich habe dazu auch eine Meinung. Aber trotzdem hat man den Eindruck, dass dahinter eigentlich noch andere Fragen stehen. Tiefere, grundlegendere, radikalere, wie man es auch sagen will.

Ich möchte dazu heute auf Verse aus dem Buch der Sprüche Salomos hören. Das Buch der Sprichwörter enthält praktisches Alltagswissen aus vielen Bereichen. Da geht es nicht so oft ausdrücklich um Gott, sondern da haben Menschen durch geduldige Beobachtung die Regeln und Prinzipien herausdestilliert, die Gott in seine Schöpfung hineingelegt hat und nach denen sie funktioniert. Dabei sind auch immer wieder Weisheiten für und über den König. Einen König haben wir heute nicht mehr, aber regiert wird natürlich immer noch, egal, ob das ein König tut, oder ob seine Rolle auf die Institutionen einer Republik verteilt ist und von vielen Menschen ausgeführt wird.

Da heißt es etwa in den Sprüchen in Kapitel 14,28:

Wenn ein König viel Volk hat, das ist seine Herrlichkeit; wenn aber wenig Volk da ist, das bringt einen Fürsten ins Verderben.

Das ist eine Erinnerung daran, dass Menschen ein Potential sind, die Grundlage aller Stärke. Wenn keine Untertanen, keine Bürger, kein Volk da ist, dann ist auch nichts zu regieren.

Das ist heute nicht mehr so offensichtlich wie früher, weil inzwischen der Stand der Technik und Wissenschaft in einem Land eine viel größere Rolle spielt als früher. Deswegen kann ein mittleres Land wie Deutschland u.U. mehr produzieren als ein riesiges Land wie China. Und ein Soldat, der in einem modernen Panzer Flugzeug sitzt, bedeutet eine viel größere militärische Macht als einer, der nur mit einem Gewehr rumläuft.

Trotzdem ist das eine elementare politische Regel: die Menschen sind die Grundlage aller Stärke. Die Menschen muss man hegen und pflegen. Im Buch der Sprichwörter wird ganz pragmatisch gedacht, einfach von dem her, was funktioniert und was nicht. Da spielen Moral und Werte wie etwa die Menschenwürde gar keine so große Rolle – das tun sie in anderen Teilen der Bibel. Hier wird einfach gesagt: liebe Regierende, vergesst nicht, dass es ohne Menschen nicht geht, sonst bekommt ihr Probleme.

Menschen sind kein Problem, sondern ein Potential. Menschen haben eine große schöpferische Kraft. Wir haben in den letzten Jahrzehnten so viel von der Bevölkerungsexplosion gehört, dass wir uns schon daran gewöhnt haben, Menschen als Problem zu sehen. Und wir sind ja allmählich wirklich so weit, dass wir die Kapazitätsgrenze unseres Planeten erreichen. Aber der andere Zusammenhang ist bisher viel stärker: dass mehr Menschen nicht nur mehr essen, sondern auch mehr produzieren.

Als ich in die Schule kam, gab es auf der Welt drei Milliarden Menschen. Heute sind es knapp sieben Milliarden. Und sie leben und essen trotz aller pessimistischen Prognosen. Klar, es gab früher und heute Hunger und Unterernährung, aber das ändert nichts daran, dass dieser riesige Zuwachs an Menschen in so kurzer Zeit sich doch zum größten Teil selbst ernährt.

Ich beschreibe das so ausführlich, weil man heute manchmal den Eindruck hat: die Verantwortlichen an der Spitze der Gesellschaft empfinden große Zahl von Menschen eigentlich als eine Last. So viele Menschen, die alle etwas wollen: sie wollen Bildung und Erziehung, sie wollen Löhne haben, sie wollen Sozialleistungen haben, sie kosten Geld, wenn sie zum Arzt gehen, sie kosten Geld, wenn sie in Rente gehen, sie kosten Geld, wenn sie gepflegt werden, sie kosten Geld, wenn sie kriminell werden, sie kosten Geld, wenn sie Kinder kriegen, sie kosten Geld, wenn sie mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. Hätte man weniger Menschen, dann müsste der Staat nicht so viel ausgeben. Dann müssten die Unternehmen auch nicht so viel Löhne und Sozialleitungen zahlen.

Oder noch anders gesagt: von oben sieht es vielleicht so aus, dass man einen Teil dieser vielen Menschen eigentlich nicht brauchen würde, um die moderne Gesellschaft am Funktionieren zu halten. Man braucht die sogenannten Spitzenleute, davon gibt es immer zu wenig, aber all die anderen? Und wenn man es schon nicht ändern kann, dass es so viele Menschen gibt, dann sollen sie wenigstens nicht so anspruchsvoll sein und sich mit weniger zufrieden geben. Wir wollen international wettbewerbsfähig sein, da könnt ihr doch nicht einfach so in Saus und Braus leben! Da muss doch mal Schluss mit lustig sein!

Und so ist ja auch der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen in den letzten Jahrzehnten kräftig gesunken. Oder, eine andere Entwicklung_ Die ärmsten 20 % werden immer ärmer und die reichsten 20 % werden immer reicher.

Aber das heißt natürlich auch, dass es eine große Unsicherheit gibt, ob man vielleicht nicht selbst auch mal abrutscht in diese Gruppe der Menschen, die angeblich überflüssig sind. Werde ich vielleicht auch eines Tages zu denen gehören, an deren Versorgung immer wieder herumreformiert wird, ob es nicht noch ein bisschen billiger geht?

Wenn man diese Entwicklung sieht: Trügt mich mein Eindruck, dass »die da oben« eigentlich nicht glücklich sind mit ihrem Volk? So würde das natürlich keiner sagen, im Gegenteil, aber irgendwie hat man schon den Eindruck, dass es bei unseren Oberen keine wirkliche Begeisterung für ihr Volk gibt.

Dabei kann man eben schon in den Sprüchen Salomos lernen, dass es schon aus Eigennutz richtig ist, wenn ein »König« sein Volk hegt und pflegt. Und heute, wo die Bildung und das Denken wichtiger sind als je, gehört dazu auch, dass Menschen immer wieder qualifiziert werden, dazulernen, ihre Möglichkeiten entfalten können. Immer wieder überlegen, was man tun muss, damit das Potential der Menschen nicht brach liegt. Menschen sind kein Problem, sondern ein Potential! Wenn das durchgehend das Bewusstsein in den Institutionen der Gesellschaft wäre, hätten wir weniger Probleme.

Was würde das bedeuten für Schulen, für den Arbeitsmarkt und die Firmen, auch für das Gesundheitswesen, die Sozialeinrichtungen und viele andere, wenn man Menschen durchgehend als Reichtum, als Potential sehen würde und nicht als Problem? Wir würde das aussehen, wenn Menschen deshalb auch mit mehr Achtung begegnet würde?

Ich hab mal ein Schlüsselerlebnis gehabt, als ich einmal für jemanden beim Sozialamt in Peine angerufen habe. Und da hatte ich so eine Tussi am Telefon, die mich fertigmachen wollte in einem völlig unmöglichen Ton, weil ich ja überhaupt keine Ahnung von ihren Vorschriften habe. Normalerweise hätte ich ihr sehr deutlich gesagt, dass sie von meine Steuergeldern bezahlt wird, und dass ich mir diese unverschämte Art verbitte und ich wäre notfalls grob geworden. Aber ich wollte ja für jemanden anders was erreichen, und wenn ich Ärger gemacht hätte, hätte der das vielleicht ausbaden müssen. Wenn die mit mir aber schon so umgehen, wie werden die erst mit jemandem umgehen, der da wirklich irgendeinen Antrag stellen muss und wirklich keine Ahnung hat, wie man mit so einer Organisation umgeht? Die können den doch endlos schikanieren, weil die natürlich immer erstmal am längeren Hebel sitzen, selbst wenn einer am Ende vielleicht vor Gericht Recht bekommt.

Wenn ein Mensch nicht mehr als Potential gesehen wird, sondern als Problem, dann geht man automatisch weniger achtungsvoll mit ihm um, und das spiegelt sich im persönlichen Verhalten von so einer Sozialamtsfrau genauso wie in Verordnungen und Gesetzen.

Wenn wir in diesem Grundverständnis in unserem Land wieder einen besseren Konsens bekämen, dann wäre es auch viel selbstverständlicher, dass sich Politiker hinstellen und sagen: und dafür brauchen wir das nötige Geld. Dafür brauchen wir Steuern von euch. Es ist kein gutes Zeichen, wenn Parteien darum wetteifern, wer die Steuern am meisten senkt. Ein guter Staat ist nun mal nicht zum Nulltarif zu haben. Natürlich zahlt keiner gerne Steuern, aber wenn sich Politiker dieser Steuersenkungsideologie beugen, dann zeigen sie damit, dass sie ein schlechtes Bild von ihrer Arbeit haben. Natürlich kann man die Steuern und Abgaben immer weiter senken, aber wollen wir wirklich schlechtere Straßen und immer mehr Einsparungen im Gesundheitswesen und bei den Schulen und Kindergärten? Wollen wir das wirklich, dass Leute, die Hartz IV beziehen, immer mehr gegängelt werden? Wollen wir das wirklich, dass ein ziemlich großer Teil der Kinder an der Armutsgrenze aufwächst?

Ich glaube aber, dass das eigentliche Problem noch nicht mal das Geld ist. Noch einmal ein Vers aus den Sprüchen Salomos (29,18):

Wo keine Offenbarung ist, wird das Volk wild und wüst; aber wohl dem, der auf die Weisung achtet!

Das hat mal jemand sehr pointiert so übersetzt: ein Volk ohne Vision geht zugrunde! Offenbarung, damit ist prophetische Weisung gemeint, Gedanken und Worte, die über den Status Quo hinausgehen und sich nicht vom finanziell Machbaren den Horizont setzen lassen. Bilder, in denen uns gezeigt wird, wer wir sein könnten, wozu wir berufen sind. Wozu gibt es uns eigentlich, sowohl persönlich und als auch als politische Größe?

Helmut Schmidt hat zwar mal gesagt, wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, und das ist durchaus stilbildend geworden. Aber er hat dabei vergessen, dass wir unseren Staat überhaupt erst Visionären zu vedanken haben, die mitten in den Trümmern nach dem zweiten Weltkrieg die Vision hatten, dass aus Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat wird, und diese Vision im Grundgesetz festgeschrieben haben. Und auf dieser Basis haben wir jetzt 60 Jahre ziemlich gut und in Frieden gelebt. Vielleicht kann man als Politiker kein Visionär sein, aber dann kann man wenigstens dafür sorgen, dass die Visionäre gehört und nicht verachtet werden. Wenn es uns an etwas mangelt, im Großen wie im Kleinen, dann ist es nicht so sehr das Geld, auch wenn alle immer nur ans Geld denken. Viel dringender brauchen wir eine Perspektive, wo wir eigentlich hin wollen.

Vor einem Jahr haben alle nach Amerika geschaut, zum Wahlkampf, der durch die Person von Obama irgendwie etwas Besonders, Ungewohntes war. Der Mann hat wirklich eine Vision. Der will die Wunden überwinden, die die Rassentrennung und andere Ungerechtigkeiten seinem Land geschlagen haben. Und der will dafür sorgen, dass so etwas wie Solidarität wächst. Das sind sicher andere Probleme als bei uns, und natürlich muss er das jetzt in der verzwickten Wirklichkeit der Tagespolitik umsetzen. Und da wird er auch Fehler machen und es wird weniger gut werden als geplant. Aber er hat wenigstens eine Vision, ein Ziel, eine Leitvorstellung, und er hat die laut und deutlich ausgesprochen, so dass jeder sie verstehen konnte, und daran kann er gemessen werden.

Ist es vielleicht so, dass bei uns sich da keiner so aus dem Fenster hängen kann, weil die Visionen schon längst eingemottet sind und keiner sie mehr versteht? Weil das einzige Motto, das quer durch die Parteien noch da ist, lautet: Opposition ist Mist? Und wenn es keine Visionen gibt, für die man das Potential der Menschen braucht, dann verkümmert es eben, und die Menschen werden tatsächlich träge und verantwortungslos. Und dann hängen sie eben rum und fühlen sich frustriert und blicken nicht durch und saufen oder kiffen und kommen am Ende auf dumme Gedanken.

Nur wenn da eine Vision ist, dann verstehen Menschen, wozu sie da sind und sich anstrengen sollen. Wer es nicht schafft, über den Tellerrand hinaus zu blicken, der wird den Menschen nicht gerecht.

Wir sind – wie oft beschrieben – ein Land ohne große Rohstoffe, deswegen sind die Menschen der entscheidende Faktor. Deswegen ist Bildung so wichtig, das stimmt. Aber ein mindestens ebenso wichtiger Faktor ist eine Vision, warum es uns eigentlich geben soll. Was ist es, was wir einzubringen haben in das Konzert der Menschheit? Was ist unsere Berufung?

Vielleicht hält mancher solche Fragen bloß für Gedöns, aber in Wirklichkeit sind sie es, die langfristig über den Weg eines Volkes und eines Menschen entscheiden. Ich glaube, die Politik und dann eben auch der Wahlkampf krankt vor allem daran, dass das keiner mehr versteht.

Und das muss vielleicht erst wieder von unten wachsen, wenn es oben verschwunden ist, und das wird dann auch eine Rückenstärkung sein für alle, die da oben Visionen noch nicht aufgegeben haben.