In der Wahrheit leben (Disziplin VI)

Predigt am 19. März 2000 zu Sprüche 6,12-19

12 Nichtsnutzige, heimtückische Menschen laufen umher und verbreiten Lügen. 13 Sie zwinkern mit den Augen, um andere zu täuschen, und geben Zeichen mit den Händen oder Füßen. 14 Ihr Herz ist falsch; immerzu schmieden sie böse Pläne und zetteln Streitereien an. 15 Darum nehmen sie ein schreckliches Ende. Unerwartet wird das Verderben sie treffen, und nichts wird es abwenden können. 16 Sechs Dinge verabscheut der HERR, und das siebte kann er erst recht nicht ausstehen: 17 überhebliche Augen, eine lügnerische Zunge, Hände, die schuldlose Menschen töten, 18 einen Kopf, der böse Pläne ausheckt, Füße, die auf verbrecherischen Wegen laufen, 19 einen Zeugen, der nicht die Wahrheit sagt, und einen Menschen, der Brüder gegeneinander aufhetzt.

Unter den sieben Dingen, die Gott nicht ausstehen kann, sind mindestens drei, die damit zu tun haben, daß jemand nicht bei der Wahrheit bleibt: eine lügnerische Zunge, ein Zeuge, der nicht die Wahrheit sagt, und jemand, der Brüder gegeneinander aufhetzt, was ja auch mit verleumderischen Worten geschieht.

Gott ist durch und durch wahr und zuverlässig. Jesus hat von sich selbst gesagt: ich bin die Wahrheit. Deshalb verabscheut Gott alle Formen der Lüge. Alles Böse in der Welt kommt durch eine schiefe Sicht auf die Wirklichkeit. Als die Schlange die ersten Menschen dazu brachte, die verbotene Frucht zu essen und sich von Gott abzuwenden, da tat sie es, indem sie ihnen die Sicht auf die Welt verdrehte.

Jede Lüge geht von der Überzeugung aus: die Welt ist so, wie sie ist, zumindest für mich schlecht, und deshalb muß ich die Wirklichkeit zurechtbiegen, damit sie besser zu meinen Interessen paßt. Das ist schon ein Affront gegen Gott, der die Wirklichkeit geschaffen hat. Wir trauen ihm nicht zu, daß seine Welt gut für uns ist. Anstatt es darauf ankommen zu lassen, ob er uns nicht doch einen Weg zeigt, wie wir ein Problem bewältigen können, versuchen wir das Problem zu verleugnen oder zu überspielen.

Nehmen wir an, Sie wären an einem Abend viel zu lange aufgeblieben, Sie hätten morgens den Wecker zwar gehört, ihn aber entschlossen wieder ausgedrückt und hätten noch eine Stunde länger geschlafen. Jetzt kommen Sie zur Arbeit oder in die Schule und sagen: »Entschuldigung, mein Wecker muß einen Defekt haben. Er hat nicht funktioniert, da habe ich verschlafen.«

Was ist die Folge dieser Lüge?

Zum einen glaubt Ihnen das natürlich keiner, weil das mit dem Wecker zu den ältesten und dümmsten Ausreden gehört. Und wenn Ihnen das zum zweiten Mal passiert, wird man Sie als unsicheren Kandidaten einordnen. Aber auch wer sich bessere Ausreden ausdenkt, bei dem wird man im Lauf der Zeit das Gefühl bekommen: irgendwas stimmt da nicht!

»Wahrheit besteht für immer, Lüge nur einen Augenblick« heißt es in den Sprüchen (12,19). Normalerweise haben Lügen kurze Beine. Wir haben es in den letzten Monaten in der Politik gesehen, wie am Ende doch meistens herauskommt, was jemand lange Zeit heimlich tun konnte. Aber es ist klar, in der Politik geht es nicht anders zu als sonst im Leben auch, und auch abseits der Fernsehaufnahmen kommen Lügen irgendwann heraus. Selbst wenn du es nicht beweisen kannst, du merkst es, wenn jemand dich öfter anlügt. Du spürst es einfach. Und du ziehst es vor, mit jemand befreundet zu sein, bei dem du spürst, daß er normalerweise nichts zu verbergen hat.

Aber bleiben wir noch bei der »Mein-Wecker-ist-kaputt«-Ausrede! Die hat nicht nur unangenehme Folgen nach außen, sie hat auch problematische Auswirkungen nach innen. Denn diese Ausrede erspart Ihnen die Frage: Gibt es etwas, was ich bei mir ändern muß? Muß ich in Zukunft nicht doch früher schlafen gehen? Muß ich mich innerlich besser darauf einstellen, daß ich aufstehen muß?

Nun könnte einer sagen: die Fragen kann ich mir doch auch dann stellen, wenn ich mich nach außen herausgeredet habe! Stimmt, aber das ist nur theoretisch. In der Praxis passiert das nicht. Nur wer die Peinlichkeit durchgestanden hat, ehrlich auszusprechen, woran es gelegen hat, der hat dann einen starken Antrieb, dafür zu sorgen, daß das nicht noch einmal passiert! Wenn die Sache vorerst auch per Lüge zu regeln ist, dann werde ich darauf vertrauen, daß das beim nächsten Mal auch klappt. Man gewöhnt sich schnell ans Lügen. Wenn ich aber weiß, daß ich nicht den Weg einer Ausrede nehmen werde, dann ist das ein starker Antrieb, nicht wieder zu verschlafen.

Es gibt also äußere und innere Gründe, weshalb wir unbedingt bei der Wahrheit bleiben sollen. Der stärkste innere Grund ist: weil wir sonst die Notwendigkeit der Umkehr nicht sehen. »Umkehr« klingt vielleicht etwas hochtrabend. Gemeint ist einfach: Veränderung. Überall da, wo wir nicht in der Wahrheit bleiben, da gibt es einen Konflikt zwischen innen und außen, und die Lüge versucht diesen Konflikt zu vertuschen. Dabei wäre das ein produktiver Konflikt! Wenn der Konflikt offen ausgesprochen würde, dann könnte sich etwas ändern, aber wenn er vertuscht wird, dann bleibt alles beim Alten und gärt vor sich hin.

Wenn die Wahrheit ausgesprochen würde, dann müßte ich meine Lebensgewohnheiten ändern. Vielleicht könnte das aber auch bedeuten, daß sich da draußen tatsächlich etwas ändern müßte: man könnte die Arbeitszeit ändern oder Gleitzeit einführen, wenn es geht, damit die Morgenmenschen und die Abendmenschen sich beide wohler fühlen könnten.

Wer sich diesen Konflikt, der auf Veränderung drängt, durch eine Lüge erspart, der sagt damit indirekt auch etwas über sich selbst. Er sagt: das ist viel zu schwierig für mich! Ich habe überhaupt nicht die Möglichkeiten, in dieser Sache etwas zu bewirken! Ich muß das irgendwie anders regeln. Und so machen wir uns mit jeder Lüge klar: ich bin schwach, ich bin nicht fähig, da draußen etwas zu verändern, und ich bin zu faul, bei mir selbst etwas zu ändern. Und am Ende werden wir wirklich so.

Würden wir uns dagegen diesem Konflikt stellen, dann würden wir die Erfahrung machen: ich kann ja etwas bewegen! Ich bin gar nicht so ohnmächtig wie ich immer dachte. Die Wahrheit macht stark und frei, Lügen machen schwach und nehmen uns immer mehr gefangen. Es gibt sogar Menschen, die mit Absicht versuchen, uns in Lügen zu verstricken, damit sie uns dann um so leichter unter Kontrolle bringen können.

Die Weisheit der Sprüche hat stattdessen einen anderen Menschen vor Augen: »Lügen sind Gott zuwider« heißt es da (12,22), »aber an zuverlässigen Menschen hat er Gefallen.« Gott möchte, daß wir zuverlässige Menschen sind, auf deren Wort man sich verlassen kann. Jesus hat seinen Jüngern sogar verboten, ihre Worte noch besonders mit einem Schwur zu bekräftigen, weil das ja bedeuten würde, daß sie es normalerweise mit der Wahrheit nicht so genau nehmen.

Gott hat einen Menschen vor Augen, der ganz selbstverständlich in der Wahrheit lebt und in sich völlig klar und zuverlässig ist, ohne verborgene Bereiche und ohne offene Hintertür. Man kann ja Lügen in zwei Arten unterteilen: weiße Lügen und schwarze Lügen. Eine schwarze Lüge ist eine wissentlich falsche Aussage. Wenn man sie vor Gericht macht und es kommt heraus, wird man dafür bestraft. Eine weiße Lüge ist eine Aussage, die nicht falsch ist, die aber einen wesentlichen Teil der Wahrheit ausläßt.

Diese Unterscheidung ist wichtig, weil weiße Lügen in vielen Lebensbereichen akzeptiert sind. Sie kommen meistens nicht ganz ohne echte schwarze Lügen aus, aber man kann auch durch einfaches Weglassen von Tatsachen schon einen hübschen Effekt erzielen. Ich bin z.B. als kleiner Junge manchmal zu unserer Nachbarin gegangen und habe mich beklagt, daß ihr Sohn, der zwei Jahre älter war, versucht hatte, mich zu schlagen. Das stimmte wirklich, nur hatte ich irgendwie vergessen, auch zu erzählen, daß ich ihn vorher schon ganz schön lange mit Worten geärgert hatte. Ein paar Mal hat es geklappt, der Nachbarsjunge wurde sogar bestraft, aber es dauerte nicht lange, bis seine Mutter das durchschaute und mir gar nichts mehr glaubte. Hätte der mich nun wirklich mal willkürlich geschlagen, dann hätte ich schlechte Karten gehabt.

Weiße Lügen sind im Grunde schlimmer als direkte schwarze Lügen, weil sie weniger leicht zu enttarnen sind. Wenn eine schwarze Lüge herauskommt, dann ist die Peinlichkeit groß, und der Betreffende hat die Möglichkeit, deutlich zu merken, was er getan hat. Bei einer weißen Lüge hat einer immer noch die Möglichkeit, vor sich selbst zu sagen: ich habe ja gar nicht die Unwahrheit gesagt. Weiße Lügen vor Gericht, also Weglassen, werden auch selten bestraft. Weiße Lügen setzen sich als Tabus in den Herzen fest: man spricht nicht aus, daß es in der Familie schon lange kriselt; alle sehen darüber weg, daß der Schwager doch ein bißchen viel trinkt; alle tun so, als ob sie es nicht merken, wie schnell bei jemandem die Mitarbeiterinnen wechseln; keiner fragt im Vorstand nach, wo denn das Geld hergekommen ist oder wo es geblieben ist; und wenn Elternversammlung ist, dann hört man auf einmal gar nichts mehr von dem, worüber sich die Eltern sonst alle aufregen. Es gibt unhaltbare Verhältnisse, von denen alle wissen, aber sie bleiben über viele Jahre bestehen, weil niemand sie ausspricht.

Sicherlich ist es nicht sinnvoll, in jeder Lage einem andern etwas an den Latz zu knallen. Es gibt ja Leute, die so ein Selbstbild haben: »ich bin eben ehrlich, deshalb ecke ich überall an.« Wahrheit soll natürlich produktiv bleiben, und deshalb muß sie mit Liebe verbunden werden. Aber zu oft werden im Namen der Liebe unangenehme Wahrheiten nicht ausgesprochen, die endlich mal dazu führen könnten, daß man den Dingen ins Auge sehen müßte. Jesus hat sehr deutlich Tabus geknackt, die sich wie ein lähmendes Netz über die Gesellschaft gelegt hatten. Deshalb wollten sie ihn ja auch beseitigen. Er hat die religiösen Funktionäre seiner Zeit als Heuchler, Unterdrücker und Raffzähne gekennzeichnet, was ihm unter heutigen Christen sicher als grobe Lieblosigkeit angekreidet würde. Aber er konnte diese Tabus und weißen Lügen durchbrechen, weil er selbst völlig ehrlich war, ein treuer, verläßlicher Mensch, an dem kein Falsch war.

Wir sind ja gegen solche Tabus oft hilflos, weil wir selbst nicht in der Wahrheit stehen. Wir haben Angst, daß wir selbst auf einmal angekratzt werden könnten. Und eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Wenn fast alle irgendwann mal in der Steuererklärung ein paar Zinsen vergessen haben, dann können sich auch die großen Fische sicher sein, daß sie irgendwie durchkommen.

Dagegen setzt die biblische Weisheit das Bild eines integeren Menschen, auf dessen Wort jederzeit Verlaß ist. Ein Mensch, der keine Leichen im Keller seiner Seele hat, der keinen geheimen Lebensbereich hat, von dem keiner wissen darf. Ein Mensch, der sich mutig der Realität stellt und darauf vertraut, daß Gott ihm dabei zur Seite stehen wird. Ein Mensch, der von anderen nicht korrumpierbar und dann auch nicht erpreßbar ist. Ein Mensch, der die Wahrheit so ausspricht, daß die Welt sich dadurch verwandelt. Ein Mensch, der ganz in Gott verankert ist.

Genaugenommen gibt es natürlich nur einen, bei dem das so ist, nämlich Jesus. Aber wenn wir auf ihn schauen und zu ihm gehören, dann wird das rüberkommen zu uns. Wir werden dann immer stärker an ihn erinnern. Und einer der wichtigeren Schritte auf diesem Weg ist es, daß wir uns entscheiden, nicht zu Lügen Zuflucht zu nehmen. Es wird uns enorm stärken und es wird uns Gottes Gunst und Beistand verschaffen.