Liebe: gewohnheitsmäßig, verantwortungsvoll, einflussstark

Predigt am 20. Januar 2019 zu Römer 12,9-16

Wenn man Menschen fragen würde, was das Wichtigste am christlichen Glauben oder an Religion überhaupt ist, dann würden sie wahrscheinlich sagen: dass man gut zu anderen ist, dass man Liebe übt, tolerant ist und all diese Dinge. Und eigentlich, so würden wohl viele sagen, braucht man dazu keine komplizierte Theologie und Dogmatik, sondern man sollte eben einfach anständig, nett und freundlich sein, und dann würde es schon klappen in der Welt. Nicht diese ganzen komplizierten akademischen Theorien, sondern einfache, praktische Anweisungen zum täglichen Leben.

Merkwürdigerweise funktionieren diese praktischen Regeln aber oft nicht. Es gibt so viel Krieg und Gewalt, Ungerechtigkeit und Ausbeutung, Hass und Verleumdung. Zwischen Staaten wie in Familien und überall dazwischen. Warum nur, wenn es doch eigentlich ganz einfach ist, ein bisschen freundlich zu sein?

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Über diese Frage hat Paulus in den ersten 11 Kapiteln des Römerbriefes intensiv nachgedacht. Für ihn ist klar, dass Moral, Ehrlichkeit, Freundlichkeit und Liebe längst nicht so einfach sind, wie viele glauben. Für Paulus ist das gerade die Frage, wie denn überhaupt in unserer beschädigten und vergifteten Welt Liebe wachsen kann. Das ist keineswegs selbstverständlich, sondern da geht es um fundamentale Probleme, auf die wir alle im Großen und Kleinen dauernd stoßen, und wer die für sinnlos erklärt, hat noch nicht genug nachgedacht.

Aber hier im 12. Kapitel hat Paulus all diese Fragen schon geklärt und ist da angekommen, wo er hin will: bei der Beschreibung der Liebe, und bei der Beschreibung des praktischen Verhaltens von Menschen, die Liebe üben. Und das ist eine der Sternstunden im Römerbrief, wo einem das Herz übergehen kann, wenn man diese Worte hört:

9 Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. 10 Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. 11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. 12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. 13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. 14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und verflucht sie nicht. 15 Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden. 16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch zu den niedrigen. Haltet euch nicht selbst für klug.

Was muss das für eine Gemeinschaft sein, in der man ernsthaft damit rechnen kann, dass Menschen so miteinander umgehen! Nicht in jedem Fall, nicht zu 100%, nicht ohne schwere Rückfälle natürlich. Paulus hat immer wieder erlebt, wie Menschen es ganz anders gemacht haben, auch in seinen Gemeinden. Wer mit klarem Blick hinschaut, weiß natürlich, wieviel Mist in der Kirche passiert, auch abseits von den Skandalen und Katastrophen, die es bis in die Zeitungen schaffen. Ich könnte natürlich auch jede Menge davon erzählen. Man soll sich das wirklich nicht schönreden. Aber hier gibt es etwas viel Wichtigeres:

Feindesliebe ist eine Gewohnheit

Denn was muss das für eine Gemeinschaft sein, wo einer wie Paulus überhaupt auf die Idee kommen kann, dass normale Menschen so miteinander umgehen könnten:

»Segnet, die euch verfolgen, segnet und flucht nicht!«

Was müssen das für Menschen sein, die in sich so gelassen und klar sind, dass sie sich nicht von Gemeinheiten anstecken lassen, dass sie sich nicht auf das fokussieren, was schief läuft, sondern einfach bei dem bleiben, was sie bei Jesus und seinen Nachfolgern gelernt haben: Seid ein Licht in der Welt, Dunkelheit gibt es genug. Stärkt nicht das Böse in der Welt, indem ihr mit Ärger, Neid, Abneigung, Gezeter und Vergeltungswünschen reagiert. Behandelt die Menschen um euch herum gut und freundlich, entwickelt einen Blick dafür, was sie brauchen und was ihnen helfen würde, segnet sie, betet für sie, und macht das sozusagen ganz beständig, beinahe könnte man sagen: routinemäßig, so dass das für euch die Normalität ist, unabhängig davon, ob die das verdienen oder nicht.

Feindesliebe ist kein geistlicher Stabhochsprung für besonders opferbereite religiöse Athleten, sondern sie entsteht daraus, wenn Menschen sich über lange Zeit angewöhnt haben, ihrer Umgebung positiv zu begegnen, so dass es für sie viel anstrengender wäre, wenn sie jetzt plötzlich wieder zu Wutbürgern würden, schimpfen, intrigieren und sich empören müssten, nur weil in ihrer Umgebung so ein Stinkstiefel aufgetaucht ist.

Gemeinschaften voller Respekt

Man merkt daran, wie wichtig es auch für die – ich sage mal: moralische Hygiene – in der öffentlichen Diskussion ist, dass der christliche Einfluss nicht völlig den Bach runtergeht. Wir erleben ja im Moment, wie Wut, Hass, Egoismus, Bitterkeit, Ressentiments, Rachsucht und so weiter sich auch kräftig in die öffentliche Diskussion einmischen. Die organisieren sich ja inzwischen nicht nur bei Facebook, sondern in richtigen politischen Parteien und Bewegungen, wie man sich das vor 10-20 Jahren noch nicht hätte träumen lassen. Das war natürlich schon immer da, machen wir uns nichts vor, aber es wurde doch sogar noch von der schwachen Christlichkeit in unserem Land ein Stück weit begrenzt.

Es ist wichtig für ein Land, dass es Gemeinschaften gibt, wo es selbstverständlich ist, dass man so nicht miteinander umgeht. »Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor!« Ehrerbietung ist das, was man heute wohl eher mit »Respekt« übersetzen würde. Wenn das nirgendwo mehr gelebt wird, dann wird geschimpft und getrollt und gepöbelt, erst bei Facebook und dann auch auf der Straße. Aber wenn es Menschen gibt, die sich sicher sind, dass man so nicht miteinander umgeht, das strahlt aus. Das legt die Messlatte des Anstands auch in der Gesellschaft wieder höher. Zum Glück gibt es sehr, sehr viele Menschen, die anständig bleiben. Aber sie sind oft ratlos, wie sie auf die Trolle reagieren sollen.

Deshalb müssen wir verstehen, wie wichtig für die Gesellschaft unsere persönliche menschliche Reife ist, unser Verhaltensstil und unsere geschärfte Urteilsfähigkeit, mit der wir Gut und Böse erkennen. Das alles ist inzwischen fast unmittelbar politisch. Ganze politische Bewegungen wie die Piraten sind gescheitert, weil die menschliche Reife beim Führungspersonal gefehlt hat. Und deswegen gibt es dann auf der politischen Bühne dauernd Gezänk und völlig unnötige Machtproben, die allen schaden. Aber die, die sich darüber aufregen, sind oft selbst gar nicht so anders gestrickt, aber über sie schreibt die Zeitung zu ihrem Glück nur manchmal.

Wir sind Romantiker und denken an Emotionen, die Bibel ist viel sachlicher
»Hasst das Böse, hängt dem Guten an.«

Damit sind nicht Emotionen gemeint. Es geht einfach darum, was man will und was man nicht will. Es ist unsere heutige romantische Idee, dass die Emotionen ehrlich sein sollten und dass die das Entscheidende sind. Die Bibel ist da viel realistischer. Wenn du jemandem von deinen Problemen erzählst, und er schwingt voll mit, unterstützt dich emotional, sagt ganz aufrichtig: Wie schrecklich! Du Armer! Gib mir Bescheid, wenn du Hilfe brauchst! dann ist das schön. Aber wenn er dann nicht in die Emails schaut, seinen Anrufbeantworter nicht abhört und vergisst, dir seine neue Adresse mitzuteilen, dann nützen dir alle seine positiven Emotionen nichts.

Dem Guten anzuhängen hat auch mit so nüchternen Dingen zu tun wie Pünktlichkeit (also dass man Leute nicht unnütz warten lässt), Zuverlässigkeit, Worthalten und Klugkeit. Wie kannst du effektiv gegen das Böse sein, wenn du die 1000 Verkleidungen nicht erkennst, mit denen sich die Gemeinheiten normalerweise tarnen? Und wie kannst du wirklich für das Gute sein, ohne in 100 Situationen vernünftig darüber nachzudenken, was jetzt wirklich hilfreich ist?

Stell dir vor, du hast einen Unfall, liegst auf der Straße und blutest und weißt nicht, was mit dir los ist. Brauchst du dann jemanden, der sagt: »das ist ja furchtbar! Du tust mir so leid! Ich leide so mit dir! Ich halte deine Hand!« Oder jemanden der sagt: »Lasst mich durch! Ich habe den großen Erste-Hilfe-Kurs gemacht und meinen Verbandskoffer dabei!«

Werdet Verantwortliche!

Deswegen heißt es bei Paulus:

Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt.

Ich übersetze das für uns so: übernehmt Verantwortung! Wir kennen das schon aus ganz kleinen Zusammenhängen: der für den Haushalt verantwortliche Mensch – in 70-80 % der Fälle dürfte das die Frau sein – beklagt sich: »Alles bleibt an mir hängen! Warum kann mir denn keiner mal ein bisschen helfen? Muss ich jetzt auch noch den Müll allein rausstellen?« Und dann sagen Mann und Kinder, weil sie freundliche Menschen sind: »sag doch was! Wir machen das ja! Wie sollen wir es denn wissen, wenn du nichts sagst!« Nur das ist gerade der Punkt: nicht die 10 Minuten wöchentlich für die Müllsäcke sind das Problem, sondern das Dran-Denken. Heute schieben wir uns nicht so sehr die eigentliche Arbeit gegenseitig zu, sondern die Verantwortung. Viele Leute sind ganz bereitwillig und helfen gerne im Haushalt oder wo auch immer, aber sie erwarten, dass andere natürlich für sie die Müllsäcke organisieren und den Abfuhrkalender beachten und sie zweimal daran erinnern. Und dann kommt vielleicht doch noch kurzfristig eine wichtige Angelegenheit dazwischen.

Mit Verantwortung, »nicht träge sein« nach Paulus, ist gemeint: ich mache von mir aus die Augen auf und finde die Aufgaben, die zu lösen sind, und dann auch die Lösungen. Kennt ihr das, wie gut es tut, wenn du verantwortungsvolle Menschen um dich herum hast, wo du weißt: auf die kann ich zählen! Die stellen auch mal was in die Geschirrspülmaschine, wenn sie gerade nicht dran sind.

Organisierte Verantwortungslosigkeit

Ich habe das jetzt an so einer Minisituation im Haushalt durchgespielt, aber ich glaube, dass das im Moment für unsere ganze Gesellschaft ein Riesenproblem wird, dass alle sich die Verantwortung gegenseitig zuschieben. Habt ihr das jetzt gehört von dem Prozess um das Unglück bei der Loveparade in Duisburg 2010? 21 Menschen sind gestorben, über 500 wurden verletzt, und jetzt sagt das Gericht: wir können nicht herausfinden, wer schuld war. Im Gewirr der Zuständigkeiten und Vorschriften versickert die Verantwortung, und keiner ist es gewesen! 21 Menschen sind tot, Hunderte Familien sind betroffen, Tausende tragen noch den Schrecken in sich, und keiner ist schuld daran! Noch nicht mal rückwirkend bekennt sich jemand zu seiner Verantwortung. Alle haben sich im Großen und Ganzen an ihre Vorschriften gehalten, aber keiner hatte den Mumm, die Verantwortung zu übernehmen, die Reißleine zu ziehen und zu sagen: diese Veranstaltung wird ein Desaster, wir müssen sie stoppen!

In der Konsequenz werden jedes Mal neue Sicherheitsvorschriften erlassen, bis am Ende keiner mehr solche Veranstaltungen durchführen kann. Aber Vorschriften können nicht Menschen ersetzen, die gewohnt sind, Verantwortung zu übernehmen. Und dann passieren Sachen wie der Berliner Flughafen, oder der Stuttgarter Hauptbahnhof, Milliarden werden versenkt, vom Brexit rede ich gar nicht erst, und keiner ist es gewesen. Ich vermute: auch bei solchen Milliardenpleiten ist eben keiner dagewesen, der Verantwortung übernommen hat. Alle haben es gesehen und es trotzdem laufen lassen. Das muss noch nicht mal Korruption sein, sondern das ist einfach Trägheit.

Oder wieviel Zeit und emotionale Energie wird in unserer Gesellschaft Tag für Tag dafür verbraucht, dass Menschen auf den Anruf oder die Mail von jemandem warten, der versprochen hat, zurückzurufen! Alle brauchen seine Information, aber er meldet sich nicht! Alle brauchen eine Entscheidung, damit es weitergehen kann, aber keiner trifft sie.

Wo man Verantwortung lernen kann

Deswegen Paulus: Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. In der Gemeinde geht es um Gottes eigene Sache, die ist die Hoffnung der Welt, und da sollen wir nicht träge sein. Und nebenbei wird auch die Gesellschaft enorm von Menschen profitieren, die in der Gemeinde gelernt haben, Verantwortung zu übernehmen.

Liebe Freunde, ich könnte noch stundenlang weiter erzählen, über jeden einzelnen Vers, wie praktisch und wie nötig das ist, was da steht. Lest es euch durch, meditiert es, setzt es um, jeden Tag ein bisschen. Wir müssen die ersten 11 Kapitel des Römerbriefes kennen, damit wir wissen, wie überhaupt solche Zonen der Freundlichkeit und Solidarität entstehen können. Aber wir müssen dann immer wieder auch das 12. Kapitel meditieren, damit wir ständig besser herausfinden, wie das Tag für Tag funktioniert. Wir sind eine Gemeinde, die Bibel und Leben eng zusammendenkt. Je klarer wir das täglich miteinander üben, um so besser sind wir gerüstet für große und beanspruchende Herausforderungen, die auch kommen werden.

Wir sind Christen! Wir sind keine Angsthasen und Bedenkenträger. Wir haben nicht die Hose voll, wenn es mal Probleme gibt. Wir haben Jesus Christus. Wir sind Freunde Gottes. Wir sind Christen mit Hoffnung im Herzen, wir finden Lösungen statt Probleme, und wir sind ins Gelingen verliebt:

Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.

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