Kein Grund zur Arroganz!

Predigt am 28. Oktober 2012 zu Römer 11,13-24 (Predigtreihe Römerbrief 33)

Manchmal passiert es einem, dass man Zeuge einer heftigen Auseinandersetzung in einer anderen Familie wird. Und das ist immer eine schwierige Situation, weil man nicht so recht weiß, was man tun soll: soll man sich mitstreiten? Das geht nicht. Soll man versuchen, zu vermitteln? Geht eigentlich auch nicht, weil die sich das meistens verbitten und sagen: du hast keine Ahnung von der Vorgeschichte. Also bleibt nur: sich diskret verabschieden, oder, wenn das nicht geht, zuhören und abwarten, bis es sich geklärt hat. Und manchmal bekommt man dann Sachen mit und denkt: ach du meine Güte, die haben ja Leichen im Keller! Das ist ja verfahren! Aber dann denkt man vielleicht auch: na gut, wenn bei uns einer Mäuschen spielen würde, der würde auch einiges zu hören bekommen!

Ein bisschen ging es uns in den letzten Kapiteln des Römerbriefes so, als Paulus ab Kapitel 9 über den Weg seines Volkes, über Israels Weg nachdachte. Er ließ uns mithören bei einer innerjüdischen Auseinandersetzung. Und weil er in der prophetischen Tradition seines Volkes steht, deshalb war es eine ganz kritische Auseinandersetzung mit seinem Volk, wo er zurückgreift auf die kritische Sicht der Bibel, genauer des Alten Testaments, auf das Volk Gottes.

Wir Nichtjuden haben dabei gestanden und zugehört, und hoffentlich haben wir auch etwas verstanden von der inneren Dynamik in einem Volk, das seit Jahrhunderten und Jahrtausenden im Gegenüber zu Gott lebt. Jetzt, schon fast am Ende seiner Darlegungen zum Thema, wendet sich Paulus ausdrücklich an die Christen, die nicht aus dem jüdischen Volk kommen, sondern aus den Heidenvölkern, und die von diesem Ausgangspunkt her angefangen haben, an Jesus zu glauben und so zum Gott Israels gekommen sind.

Und das klingt so:

13 Den Nichtjuden unter euch aber sage ich: Es stimmt, dass mein Auftrag als Apostel den nichtjüdischen Völkern gilt, und ich danke Gott dafür, dass es so ist. 14 Denn vielleicht kann ich durch meine Missionsarbeit die Angehörigen meines eigenen Volkes eifersüchtig machen und so wenigstens einige von ihnen retten. 15 Schon ihre Verstoßung hat der übrigen Welt die Versöhnung mit Gott gebracht, was wird dann erst ihre Wiederannahme bringen? Nicht weniger als die Auferstehung der Toten!
16 Wenn das erste Brot von der neuen Ernte Gott geweiht worden ist, gilt alles Brot von dieser Ernte als geweiht. Wenn die Wurzeln des Baumes Gott geweiht sind, sind es auch die Zweige. 17 Nun sind einige Zweige an dem edlen Ölbaum ausgebrochen worden, und unter die übrigen wurdet ihr als neue Zweige eingepfropft. Obwohl ihr von einem wilden Ölbaum stammt, habt ihr jetzt Anteil an den guten Säften des edlen Ölbaums. 18 Darum überhebt euch nicht über die Zweige, die ausgebrochen wurden. Ihr habt keinen Grund, euch etwas einzubilden! Nicht ihr tragt die Wurzel, sondern die Wurzel trägt euch. 19 Ihr werdet vielleicht sagen: »Die Zweige sind ausgebrochen worden, um uns Platz zu machen!« 20 Gewiss, aber sie wurden ausgebrochen, weil sie nicht glaubten. Und ihr gehört nur dazu, weil ihr glaubt – und wenn ihr im Glauben beharrt. Seid also nicht überheblich, sondern bedenkt, mit wem ihr es zu tun habt! 21 Wenn Gott schon die Juden nicht verschont hat, obwohl sie die natürlichen Zweige sind, dann wird er euch bestimmt nicht verschonen.
22 Ihr seht hier die Güte und zugleich die Strenge Gottes. Streng ist er zu denen, die sich von ihm abwenden. Gütig ist er zu euch – wenn ihr euch nur bewusst bleibt, dass ihr allein von seiner Güte lebt; sonst werdet ihr auch ausgehauen. 23 Aber auch die Juden werden wieder eingepfropft, wenn sie die Einladung zum Glauben nicht länger abweisen. Gott hat sehr wohl die Macht dazu. 24 Er hat euch als Zweige eines wilden Ölbaums ganz gegen die natürliche Ordnung in den edlen Ölbaum eingepfropft. Dann kann er erst recht die Juden als die natürlichen Zweige wieder in ihren eigenen Baum einpfropfen.

Wenn man das kurz zusammenfassen wollte, dann würde man sagen: es stimmt, es gibt in der Familie heftige Auseinandersetzungen, das wird nicht beschönigt, aber ihr habt keinen Anlass, euch einzubilden, dass ihr etwas Besseres wärt. Nein, ihr sollt euch die Auseinandersetzungen deshalb anhören, damit ihr gewarnt seid und euch das möglichst erspart bleibt. Wenn ihr aber denkt: mir kann das nicht passieren, wir streiten uns nicht so! dann seid ihr schon auf dem besten Weg dahin.

Ja, sagt Paulus, es stimmt, mein Volk in seiner Gesamtheit ist nicht den Weg Jesu mitgegangen. Sie haben nicht verstanden, dass das Gottes neuer Weg ist. In der Lesung vorhin (Matthäus 16,5-12) haben wir gehört, wie Jesus seine Jünger warnt vor den Meinungsführern der damaligen jüdischen Gesellschaft, den Sadduzäern, also den Machteliten, und vor den Pharisäern, also den Frommen. Jesus immunisiert seine Jünger geradezu und sagt: hört nicht auf den politischen und religiösen Mainstream! Passt auf, dass ihr euch von dem nicht beeinflussen lasst! Und so ist das geblieben, und auch Paulus hat sich in der Nachfolge Jesu heftig engagiert in diesem Familienstreit. Daran ist überhaupt nichts zu verschweigen oder zu beschönigen.

Man kann sogar sagen: es gereicht diesem Volk zu Ehre, dass da so schonungslos die eigenen Fehler aufgedeckt und ausgesprochen werden. Diese Haltung entschlossener Kritik an den eigenen Fehlentwicklungen, das ist die prophetische Tradition Israels, die sich durch die ganze Bibel zieht. Gott ist da nicht der Eiapopeia-Gott, der zu allem Ja und Amen sagt, was die Mächtigen anrichten, sondern zur Not stellt er sich massiv gegen seine eigenen Leute, wenn sie auf dem falschen Weg sind. Der Gott, der auch bei seinen eigenen Leuten nichts unter den Teppich kehrt, den kennen wir erst durch Israel.

Paulus sagt: da könnt ihr etwas lernen über die Strenge Gottes. Gott schaut darauf, was Menschen real tun und misst sie daran. Wenn Menschen ausbeuterisch oder ungerecht sind, dann drückt er nicht ein Auge zu, nur weil sie Juden sind oder weil sie mal getauft worden sind und sich Christen nennen. Er schaut darauf, was sie tatsächlich tun und glauben und reagiert darauf ohne Ansehen der Person. Das lernt man aus der Geschichte Israels.

Aber die Dinge sind vielschichtiger, und deshalb sagt Paulus zu uns Außenstehenden: Macht euch aber auch klar, dass selbst aus dieser zerstrittenen Familie immerhin die Rettung für euch alle gekommen ist. Gott ist drin in der Geschichte Israels, und er kann selbst mit zerstrittenem Bodenpersonal noch die Welt bewegen. Durch diese innerjüdische Auseinandersetzung hat schließlich das Evangelium die Grenzen Israels überwunden und ist zu den anderen Völkern gekommen. Diese Völker, bei denen die Götter immer auf der Seite der Mächtigen stehen, wo die Priester die Kanonen segnen und die Leute mit dem meisten Geld auch bei Gott vorne sitzen dürfen, die haben durch Israel einen besseren Gott kennengelernt. Selbst durch ein Israel, auf das Gott sehr kritisch schaut.

Also werdet nicht arrogant. Wenn Gott schon mit seinen zerstrittenen Leuten so viel bewegen kann, was wird er dann noch erreichen können, wenn sie eines Tages als Gesamtheit seinen Weg verstehen und mitgehen! Wenn Israel als Ganzes irgendwann zu Gott zurückfindet und ein Modell eines Volkes nach Gottes Herzen wird, dann erneuert sich die Welt. Das ist die Auferstehung der Toten!

Es gehört gerade zu den Errungenschaften Israels, dass man wie Paulus auf mehreren Ebenen denken kann und nicht im Schema von Entweder-Oder stecken bleibt. Aus Gottes Sicht hat nicht der eine schon deswegen Recht, weil der andere auf dem falschen Weg ist. Wenn Israel sich verirrt, bleiben deswegen die Irrwege der Heiden immer noch falsch. Jesus sagt: ich soll meinen Feind lieben, aber das ändert nichts daran, dass der Unrecht tut. Wir heute sehen sehr deutlich das hässliche Gesicht des Terrorismus, da gibt es nichts zu beschönigen, aber das ändert nichts daran, dass der Westen dazu beigetragen hat, dass Menschen auf den Weg der Gewalt getrieben worden sind.

Es ist diese Art des – ich möchte sagen: kontemplativen – Denkens, die Paulus hier mit uns einübt. Eine andere Art zu denken: wenn man nicht auf die menschlichen Entweder-Oder-Frontlinien sieht, wo einer sich dadurch rechtfertigt, dass der andere der eigentlich Böse ist, sondern wenn man von Gott her denkt, der sich nicht vor einen menschlichen Karren spannen lässt, dann sieht vieles anders aus, und dann öffnen sich neue Wege des Friedens.

Aber das ist schwer, weil uns dieses Entweder-Oder-Denken immer wieder neu eingetrichtert wird. Deswegen benutzt Paulus wie Jesus ein Gleichnis. Er nimmt das Bild vom Ölbaum und seinen Zweigen. Jeder kannte damals Ölbäume und hatte sie vor Augen. Der Ölbaum ist eine der charakteristischen Pflanzen der Mittelmeerwelt. Ölbäume waren immer etwas Besonderes, sie galten manchen als heilig, ihre Blätter waren ein Zeichen des Friedens. Bei Jeremia und Hosea ist der Ölbaum ein Bild für Israel. Eigentlich müsste man sagen: Olivenbaum, denn seine Früchte sind die Oliven. Aus diesen Oliven presst man Olivenöl, damals und in vielen Ländern bis heute ein Grundnahrungsmittel.

Olivenbäume werden sehr alt. Dann sind sie enorm dick, sie sind sehr robust und ziemlich schwer tot zu kriegen. Deswegen hat man schon damals manchmal einem wilden Ölbaum einfach die Zweige von edleren Baumsorten aufgepfropft, damit man besseres Öl bekam, so wie wir das heute mit Obstbäumen tun.

Wir kennen das eher von Äpfeln oder anderen Obstsorten, da wird so ein kleiner Trieb unter die Rinde des wilden Baumes gesteckt, dann wird er festgebunden und wächst da tatsächlich an, obwohl er von einem anderen Baum und von einer anderen Sorte stammt. Der Vorteil dabei ist, dass sich da die Kraft des wilden Baumes mit dem Aroma der edlen Zweige verbindet.

Paulus benutzt dieses Bild, aber er verbiegt es ein wenig, denn eigentlich setzt man edle Zweige in einen wilden Olivenbaum ein, und nicht wilde Zweige in einen edlen. Aber damit sagt er den Christen aus den nichtjüdischen Völkern: ihr seid die, die dazugekommen sind, und ihr lebt von der alten, guten Wurzel. Eure Kraft kommt aus der alten, langen Geschichte, die Gott mit Israel begonnen hat. Ihr habt nicht an dieser Geschichte vorbei eine Verbindung zu Gott. Ihr seid keine neue Religion, sondern eine Erweiterung des Gottesvolkes.

Gut, einige Zweige sind aus dem Baum ausgebrochen worden, und so gibt es da auch Platz für euch. Aber die Ursache dafür ist nicht, dass ihr besser seid – nein, ihr seid die wilden Zweige, die freundlicherweise einen Platz am edlen Baum bekommen haben. Dass andere Zweige ausgebrochen wurden, weil Teile des Volkes Israel Gottes Weg nicht mitgegangen sind, das gibt euch keinen Anspruch auf ihren Platz. Das ist eine Geschichte zwischen Gott und Israel. Es hat nichts damit zu tun, dass ihr Heiden besser wäret. Gott geht mit jedem seinen eigenen Weg, er redet mit jedem so, wie er es hören muss, und er redet mit mir nicht deswegen anders, weil er mit anderen Probleme hat. Gott fügt sich nicht in das Entweder-Oder-Schema.

Und überhaupt gibt es keinen Grund, auf irgendetwas stolz zu sein, als ob man das toll hingekriegt hätte: dass wir etwas schaffen, verdanken wir Gott, der uns so gemacht hat, wir verdanken es dem Glück, dass wir gefördert worden sind und etwas gelernt haben, dass wir in einer gesunden Umgebung aufgewachsen sind und im Frieden leben, und noch vielem anderen. Nichts davon ist unser Verdienst, und es gibt keinen Grund, andern gegenüber eingebildet zu sein.

Und wenn schon ein wilder Zweig auf einem Ölbaum von der guten Sorte wachsen kann, dann kann man die ursprünglichen Zweige erst recht wieder zurück verpflanzen an ihren Ursprungsbaum. Und Gott wird es tun. Gott ist mit Israel noch längst nicht zu Ende.

Und deswegen ist die Perspektive von Paulus für Gottes Volk: ein Baum mit unterschiedlichen Zweigen, die einen gehörten schon immer dazu, die anderen sind dazugekommen, noch andere waren zwischendurch mal nicht dran, aber am Ende ist es ein großer, gemeinsamer Baum. Er zieht seine Kraft aus der Wurzel der langen Geschichte Gottes mit seinem Volk. Gott hat diese Wurzel vor langer Zeit gepflanzt, mit Abraham, und er sorgt dafür, dass sein Ölbaum nicht verkommt. Wie ein wirklicher Olivenbaum wird er uralt, er trägt die Spuren vieler Jahrtausende, aber er wird dadurch nicht unfruchtbar.

Das ist die Geschichte Gottes mit seinem Volk. Es trägt die Spuren vieler unvorhersehbarer Überraschungen und Wendungen, und in den 2000 Jahren seit Paulus sind noch viele dazugekommen. Aber Gottes Volk lebt immer noch aus seiner ursprünglichen Wurzel, und diese Kraft bringt immer neue Früchte hervor. Der Baum ist immer noch vital. Viele haben in seinem Schatten Platz. Und Gott wird dafür sorgen, dass eines Tages dieser Ölbaum der ganzen Welt Segen und Frieden bringt.

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