Ein neuer Blick auf die Vergangenheit

Predigt am 2. September 2012 zu Römer 10,4-21 (Predigtreihe Römerbrief 31)

4 Christus ist das Ziel des Gesetzes; wer an den glaubt, der ist gerecht. 5 Mose nämlich schreibt von der Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt (3.Mose 18,5): »Der Mensch, der das tut, wird dadurch leben.« 6 Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht so (5.Mose 30,11-14): »Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren?« – nämlich um Christus herabzuholen -, 7 oder: »Wer will hinab in die Tiefe fahren?« – nämlich um Christus von den Toten heraufzuholen -, 8 sondern was sagt sie? »Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen.« Dies ist das Wort vom Glauben, das wir verkündigen. 9 Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet. 10 Denn wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet. 11 Denn die Schrift spricht (Jesaja 28,16): »Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.« 12 Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen; es ist über alle derselbe Herr, reich für alle, die ihn anrufen. 13 Denn »wer den Namen des Herrn anrufen wird, soll gerettet werden« (Joel 3,5).
14 Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne einen, der die Botschaft verkündet? 15 Wie sollen sie aber verkündigen, wenn sie nicht gesandt werden? Wie denn geschrieben steht (Jesaja 52,7): »Wie lieblich sind die Füße der Freudenboten, die das Gute verkündigen!« 16 Aber nicht alle sind dem Evangelium gehorsam. Denn Jesaja spricht (Jesaja 53,1): »Herr, wer glaubt unserer Botschaft?« 17 So kommt der Glaube aus der Botschaft, die Botschaft aber durch das Wort Christi.
18 Ich frage aber: Haben sie es nicht gehört? Doch, es ist ja »in alle Lande ausgegangen ihr Schall und ihr Wort bis an die Enden der Welt« (Psalm 19,5).
19 Ich frage aber: Hat es Israel nicht verstanden? Als Erster spricht Mose (5.Mose 32,21): »Ich will euch eifersüchtig machen auf ein Nicht-Volk; und über ein unverständiges Volk will ich euch zornig machen.« 20 Jesaja aber wagt zu sagen (Jesaja 65,1): »Ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten, und erschien denen, die nicht nach mir fragten.« 21 Zu Israel aber spricht er (Jesaja 65,2): »Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt nach dem Volk, das sich nichts sagen lässt und widerspricht.«

Manchmal schreiben wir unsere Vergangenheit um. Wenn z.B. ein Paar nach vielen Jahren noch einmal alte Fotos anschaut, vielleicht von dem Ort, wo sie sich zuerst kennengelernt haben, oder wo sie gemeinsam Urlaub gemacht haben, oder von den Häusern, wo sie früher mal gewohnt haben, da kann es sein, dass die Vergangenheit auf einmal ganz anders aussieht.

Vielleicht sagt einer zum andern: da haben wir doch zusammen im Sandkasten gespielt, und da mochte ich dich eigentlich auch schon. Aber der andere sagt: ich fand dich damals immer ziemlich gemein, wenn du den anderen ihre Sandkuchen kaputt gemacht hast. Und wenn es dumm kommt, dann fährt er fort: und so bist du heute immer noch. Du bist ein ein Kaputtmacher geblieben, und das gefällt mir an dir gar nicht! Und daraus können sich dann sehr unangenehme Diskussionen entwickeln.

Aber so muss es ja nicht kommen. Vielleicht könnte ja auch einer sagen: weißt du noch, der schreckliche Urlaub, wo es nur geregnet hat, und wir waren auch noch in diesem langweiligen Kaff? Und vielleicht ist dann die Antwort: ich fand es aber toll von dir, wie dir trotzdem jeden Tag etwas eingefallen ist, was wir machen konnten – ich habe damals erst gemerkt, wieviel gute Ideen du immer hast. Und auf einmal merken beide, wie sehr tatsächlich ihre Gemeinschaft schon immer von den guten Ideen des einen bereichert worden ist.

So ist unsere Vergangenheit nicht abgeschlossen und fertig, sondern im Lauf der Zeit entdecken wir darin neue Zusammenhänge und Muster, wir werten vieles anders, und der Anlass dazu ist meistens irgendeine Veränderung in der Gegenwart. Auch ganze Völker tun das: sie sehen ihre Vergangenheit im Licht der Gegenwart und entdecken Neues, was man vorher noch nie so gesehen hatte.

So macht das auch Paulus hier mit der Geschichte Israels. Deswegen zitiert er in diesem Kapitel so oft das Alte Testament. Er denkt von Jesus Christus her und liest jetzt seine Bibel völlig anders als vorher. Im vierten Kapitel des Briefes hat er hinter die Gesetzgebung vom Sinai zurückgegriffen auf Abraham und hat gesagt: unsere zentrale Urerfahrung ist Abrahams Aufbruch in das neue Land, wie Gott ihn aus allen Bindungen herausrief, damit er sich mit Gott allein auf den Weg machte – und Abraham hörte den Ruf, er glaubte Gott und gehorchte ihm. Merkt ihr? Bei Abraham ist schon etwas aufgeleuchtet von der Art, wie Jesus war.

Und jetzt schaut Paulus noch einmal auf die Gesetzgebung vom Sinai unter Mose und sagt: die war nicht falsch, da ist viel Gutes und Richtiges drin, aber ihr Ziel war es, uns so lange zu leiten, bis der Messias kommt, und jetzt, wo wir den Messias Jesus kennen, können wir das alles tiefer und besser verstehen.

Und dann zitiert er einen Vers aus dem 5. Buch Mose, Kapitel 30. Da ist die Rede davon, wie Israel nach einer Zeit der Zerstreuung und des Unglücks wieder zu Gott umkehrt und er es neu segnen wird. Viele Juden empfanden es damals so, als ob sie immer noch in dieser Unglückszeit lebten, die schon bei Mose angekündigt war. Aber in 5. Mose 30 lasen sie davon, dass diese Zeit der Zerstreuung und des Unglücks einmal zu Ende gehen würde. Dann, so heißt es bei Mose, würde sich Israel wieder zu Gott wenden, und das sei dann ganz einfach, weil Gottes Gebot dann ganz nahe sei, im Mund und im Herzen der Menschen.

Diese Stelle nimmt Paulus und sagt: jetzt, nachdem wir den Messias Jesus kennen, jetzt können wir diese Stelle richtig verstehen. Damit ist der Glaube gemeint, von dem wir reden. Der Glaube ist nichts Fernes und Fremdes, man muss ihn nicht erst irgendwo her holen, man muss ihn nicht mühsam irgendwie aktualisieren, sondern er wohnt in deinem Mund und in deinem Herzen. Wenn dich die Überzeugung erfüllt, dass Jesus auferstanden ist und der wahre Herr der Welt ist – das hat man damals laut ausgesprochen, wenn man getauft wurde –, dann bist du auf der richtigen Seite, dann ist für dich diese Zeit des Unglücks und der Depression zu Ende, du hast zurückgefunden aus der Zerstreuung zu einem gesegneten Leben.

Wenn wir das heute lesen, dann stehen wir vielleicht etwas ratlos davor und fragen uns: einfach dadurch, dass jemand sagt »Jesus ist Herr« soll sich sein Leben schon ins Positive drehen? Einfach, indem man die richtige Formel spricht, und sei es bei der Taufe?

Das ist für uns heute schwer zu verstehen, weil wir die Brisanz kaum nachfühlen können, die damals in dem Satz »Jesus ist Herr« gesteckt hat. »Herr« war der Titel des römischen Kaisers. Der war der Herr der Welt. Und wer erklärte »Jesus ist Herr«, der kündigte dem Kaiser und seinem System die Loyalität auf. Die Entscheidung für Jesus in der Taufe war die Entscheidung zur Fundamentalopposition. Aber keine Opposition von chronischen Nörglern oder von Leuten, die mit 35 noch in der Pubertät stecken, sondern eine tiefverwurzelte Überzeugung: mit diesem mörderischen System habe ich nichts mehr zu tun. Selbst noch meine Opposition gegen das System bedient sich nicht der Mittel des Systems, ich mache das nicht militärisch, ich werde kein Terrorist wie die Römer (die die unterworfenen Völker terrorisierten), sondern ich gehe den Weg Jesu. Der ist die einzige echte Alternative zu dieser korrupten, gewalttätigen Welt. Der Weg Jesu, wie er z.B. in der Bergpredigt zusammengefasst ist, der ist tatsächlich so anders, dass von da aus dieser ganze Bau zerlegt werden kann.

Wenn also für dich die Zeit des Unglücks und der Depression zu Ende gehen soll, wenn du hineinkommen willst in den Segen, den Gott schon durch Mose verheißen hat, dann musst du dich mit Jesus außerhalb des ganzen Systems stellen, du musst raus aus dem Verblendungszusammenhang, in dem die anderen alle drinstecken, du musst die Verbindungen kappen, die dich mit den Herren dieser Welt verbinden, mit ihren Krisen, Kriegen und Neurosen, du musst ihre Seilschaften verlassen und ihre Propaganda abschalten und musst stattdessen dein Herz und deinen Mund von Jesus erfüllen lassen. Denn man kann nicht einfach für gar nichts sein, nicht einfach nur dagegen sein. So eine radikale Opposition kann man nur durchhalten, wenn man etwas Besseres hat, wofür man ist. Etwas, von dem man so erfüllt ist, dass man noch nicht einmal mehr negativ auf das alte System fixiert ist.

Wenn der Segen zu dir kommen soll, dann musst du den Herren dieser Welt die Loyalität kündigen.

Und aus dieser Sicht ist dann Religion nicht mehr wichtig. Das Zentrum Israels war ja in der Zeit vor Jesus der Tempel. Die Fundamentalopposition Gottes gegen die Tyrannen dieser Welt trug dort eine Zeit lang ein religiöses Gewand. Das ging damals nicht anders, die Menschen waren noch nicht so weit, sie konnten Gott nur verstehen, wenn er sich religiöser Symbole bediente, und deshalb hat er es getan. Auch all die religiösen Bräuche, Opfer, Beschneidung, Speisegebote, all das, was uns aus heutiger Sicht irgendwie merkwürdig und willkürlich erscheint, das hatte die Funktion, darauf hinzuweisen, dass es hier um etwas ganz anderes geht, das noch nicht da ist. Die religiösen Unterscheidungen waren ein Platzhalter für die grundlegende Alternative, die es noch nicht gab und die erst kommen sollte.

In dem Moment aber, wo mit Jesus diese grundlegende Alternative da ist, da werden die religiösen Traditionen unwichtig. Da ist nur noch wichtig, ob man »glaubt«, also: ob man den alternativen Weg Jesu mitgeht oder nicht. Und die einen entdecken dann in Jesus den eigentlichen Sinn ihrer religiösen Traditionen, und die anderen finden ohne religiöse Vorbildung zur Logik Jesu. Egal. Jeder, der den Namen des Herrn anruft (und es geht eben, wie beschrieben, nicht einfach um die korrekte theologische Formel), wird gerettet.

Das Problem sind nur diejenigen, die an der religiösen Tradition festhalten, ohne den neuen Weg mit zu gehen. Das gibt es ja oft genug, dass Religion sich mit den Herren dieser Welt verbündet und den schlechten Verhältnissen einen Heiligenschein aufsetzt. Die ganzen heidnischen Religionen im römischen Imperium machten es so: sie verehrten den Kaiser, sie sagten Ja zu seinem System, und dann machten sie jeweils ihr spezielles Ding je nach Gusto. Die Juden weigerten sich als einzige beharrlich, den Kaiser zu verehren, aber irgendwie hatten auch sie schließlich ihren Platz im System gefunden, auch wenn der immer wacklig blieb. Und genau so hat es in der Christenheit dieses Bündnis von Thron und Altar gegeben, wo man Hand in Hand gearbeitet und der Sache Jesu so riesigen Schaden zugefügt hat.

Und in der Auseinandersetzung mit diesen – wie wir es heute nennen würden – religiösen Traditionalisten geht Paulus alle Entschuldigungsmöglichkeiten durch: haben sie es vielleicht noch gar nicht gehört? Nein, sagt Paulus, Gott hat doch eine ganze Bewegung ins Leben gerufen, um Jesus überall als Alternative verfügbar zu machen. Ich selbst bin doch Teil dieser Bewegung. Es braucht keinen Tempel und keine Priester mehr, nur Menschen, die weitersagen, dass Gottes Alternative jetzt in der Welt ist.

Nein, an Unwissenheit kann es nicht liegen. Es ist etwas anderes. Schon die alten Propheten hatten ihre Mühe mit dem Widerstand gegen Gott, der sich mitten im Volk Gottes festgesetzt hat. Jesaja klagt über ein Volk, dass sich mit frommen Worten gegen Gott abschirmt. Und schon in seinen Worten liest Paulus etwas davon, dass Gott sich dann stattdessen anderen zuwendet, um sein eigenes Volk zurückzuholen zu seiner Berufung.

Um das in unsere Zeit zu übersetzen: es erinnert daran, wie sich die Kirchen im 19. Jahrhundert bei uns zum allergrößten Teil nicht um die Arbeiter gekümmert haben. Die Arbeiter lebten damals unter entsetzlichen Bedingungen, es gab ein massenhaftes Elend, aber wenn sie dagegen protestierten, dann hatten sie ausgerechnet die Kirchen gegen sich, die sagten: keinen Aufstand gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit! Dafür kamen dann die Sozialdemokraten und sorgten dafür, dass es den Arbeitern langsam besser ging. Und weil sie in der Stunde der Not nur sehr wenig Hilfe bei den Kirchen gefunden haben, deshalb entwickelten in Europa die Armen eine große Distanz zur Kirche, die bis heute zu spüren ist.

Da ist viel Vertrauen kaputt gegangen – bis das mal überwunden ist, werden die Christen erst noch öfter zeigen müssen, dass sie an der Seite der Menschen stehen und nicht der verlängerte Arm der Obrigkeit sind. Ein bisschen Propaganda reicht da nicht.

In anderen Teilen der Welt ist das heute zum Glück anders. Aber hier in Europa sind die Kirchen damals keine Alternative gewesen sind, und deshalb hat Gott sich anderen zugewendet, um uns an unsere Berufung zu erinnern.

Die Frage bleibt: haben solche Gruppen, die sich verrannt haben, noch eine Chance? Wenn man Paulus hört, wie er über sein verhärtetes Volk klagt, dann bleibt eigentlich nur die Antwort: das ist gelaufen. Sie haben ihre Chance gehabt, sie haben sie zurückgewiesen, und sie denken nicht daran, ihre Meinung zu ändern.

Aber überraschenderweise sieht Paulus doch noch einen anderen Weg. Davon beim nächsten Mal – Fortsetzung folgt.

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