Das Dunkle vor Gott bringen

Predigt am 29. April 2012 zu Römer 8,26-30 (Predigtreihe Römerbrief 26)

26 Und auch der Geist ´Gottes` tritt mit Flehen und Seufzen für uns ein; er bringt das zum Ausdruck, was wir mit unseren Worten nicht sagen können. Auf diese Weise kommt er uns in unserer Schwachheit zu Hilfe, weil wir ja gar nicht wissen, wie wir beten sollen, um richtig zu beten. 27 Und Gott, der alles durchforscht, was im Herzen des Menschen vorgeht, weiß, was der Geist ´mit seinem Flehen und Seufzen sagen` will; denn der Geist tritt für die, die zu Gott gehören, so ein, wie es vor Gott richtig ist. 28 Eines aber wissen wir: Alles trägt zum Besten derer bei, die Gott lieben; sie sind ja in Übereinstimmung mit seinem Plan berufen. 29 Denn alle, die er im voraus erkannt hat, hat er auch im voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben. Er ist das Bild, dem sie ähnlich werden sollen, denn er soll der Erstgeborene unter vielen Brüdern sein. 30 Und weil Gott sie für dieses Ziel bestimmt hat, hat er sie auch berufen. Und weil er sie berufen hat, hat er sie auch für gerecht erklärt. Und weil er sie für gerecht erklärt hat, hat er ihnen auch Anteil an seiner Herrlichkeit gegeben.

Ich weiß nicht, ob Ihnen das aufgefallen ist: seit einiger Zeit findet man in der Zeitung immer öfter Bilder von Menschen, die missmutig in die Kamera schauen und mit der Hand anklagend auf irgendetwas zeigen: auf ein Grundstück, das ihrer Meinung nach nicht ausreichend gesichert ist; auf eine Kreuzung, wo ihrer Meinung nach eine Ampel oder ein Verkehrsschild aufgestellt werden müsste; auf einen Bürgersteig, der von Hundekot bedeckt ist; auf einen Park, der dringend in Stand gesetzt werden müsste und ähnliche Dinge. Immer wieder das Thema: ich bin unzufrieden mit irgendetwas, und jetzt werde ich endlich mal gehört.

Nun gibt es sicherlich viele Probleme, die mit größerem Recht beanspruchen könnten, endlich mal gehört zu werden. Aber interessant ist doch, wie stark anscheinend der Wunsch von Menschen ist, mit ihrem Ärger, ihrer Klage oder ihrer Unzufriedenheit gehört zu werden. So wichtig, dass andere sich Einfluss verschaffen können, indem sie ihnen eine Plattform dafür bieten. Und wenn man jetzt mal an Menschen denkt, denen wirklich Furchtbares geschehen ist, wie groß muss da erst der Wunsch sein, wahrgenommen und verstanden zu werden.

Wahrscheinlich haben das viele von uns noch erlebt, dass uns ältere Menschen aus der Kriegszeit erzählt haben. Oft haben sie nur eine knappe Minute gebraucht, um von jedem beliebigen Thema auf die Flucht oder auf ihre Kriegserlebnisse zu kommen. Da war etwas in ihnen, das unbedingt zu Wort kommen sollte. Und ich jedenfalls habe mich dann oft missbraucht gefühlt und gedacht: »hey, hast du mich eigentlich jemals gefragt, ob ich das Publikum für deine Vergangenheitsbewältigung sein möchte?« Und ich denke, wenn ich einen anderen mehr oder weniger zwinge, meine Geschichte anzuhören, dann nützt mir das nichts. Denn eigentlich kann einem das nur geschenkt werden, dass ein anderer mich und meine Geschichte wahrnimmt. Wenn das passiert, dass jemand aus freiem Entschluss und ohne dass ich ihn irgendwie dahin manipuliere, bereit ist, meine Geschichte wahrzunehmen – das ist ein ganz großes Geschenk, aber man kann es wirklich nur als freies Geschenk bekommen, auf das man keinen Anspruch hat. Wenn man es erzwingen will, verdirbt es.

Und Paulus sagt hier im Römerbrief: das ist das Geschenk der Christen an die ganze Welt, dass das namenlose, stummer Leiden aller Kreaturen von uns wahrgenommen und vor Gott ausgesprochen wird.

Als wir Anfang des Monats zum letzten Mal auf den Römerbrief hörten, da war das die Stelle, wo Paulus von der Hoffnung für die ganze Schöpfung redet, und er sagt: am Ende werden sich auch die Leiden und die Schmerzen gelohnt haben. Die Herrlichkeit der kommenden Welt ist so überwältigend, dass sie das alles aufwiegt. Wir wissen nicht, wie das gehen soll, aber am Ende werden wir sagen: ja, es hat sich doch gelohnt.

Und wenn man diesen Gedanken logisch fortsetzt und fragt: wie zeigt sich denn diese Hoffnung in der Gegenwart, dann ist die Antwort das, was Paulus hier schreibt: wer Hoffnung für die ganze Welt hat, der zeigt das in der Gegenwart dadurch, dass er das Leiden der Schöpfung vor Gott bringt und es damit in eine hoffnungsvolle Verbindung bringt.

All diese großen und kleinen Beschwerden, all die lauten und leisen Klagen haben letztlich, egal wo sie geäußert werden, immer nur einen Adressaten: nämlich Gott. Ärgerlich oder verzweifelt, anklagend oder flehend, egal in welchem Ton sie geäußert werden: da ist doch etwas nicht in Ordnung, warum muss das so sein, wie lange soll ich das noch aushalten, merkt denn keiner, wie es mir geht? – unabhängig von allen konkreten menschlichen Zuhörern ist es am Ende eigentlich nur Gott, der darauf eine gültige Antwort geben kann.

Und deshalb ist es tatsächlich der Dienst der Christen, diese ganze Menge an berechtigtem und unberechtigten Ärger, großem und kleinem Schmerz, zugefügtem und selbstgemachtem Leid vor Gott so auszusprechen, dass das eine Perspektive nach vorn bekommt, dass es mit Hoffnung verbunden wird. Es soll so ausgesprochen werden, dass Gott damit etwas anfangen kann. Es soll versöhnt werden.

Eine klassische Situation ist es, wenn wir an einem Grab stehen und uns von einem Menschen verabschieden mit all den Licht- und Schattenseiten, die sein Leben gehabt hat. Das ist ja alles Wirklichkeit, das haben Menschen miterlebt und oft auch erlitten. Und dann soll es auch so ausgesprochen werden, dass nichts beschönigt oder weggeredet wird, dass auch der Schmerz eines Verlustes nicht ignoriert wird, aber dass es eine Perspektive nach vorn bekommt, dass es in Verbindung gebracht wird mit der neuen Welt und dass es eine Hoffnung gibt: auch für diesen Tod ist noch nicht das letzte Wort gesprochen, und auch die Dunkelheiten dieses Lebens haben noch eine Versöhnung vor sich. Dafür Worte zu finden, das haben vor langer Zeit einmal die Menschen in diesem Land den Christen zugetraut und anvertraut. Und wie man sich denken kann, ist das nicht immer einfach. Und hier in diesen Versen des Briefes bestätigt Paulus das ausdrücklich, und er redet noch nicht einmal von öffentlichen Traueransprachen, sondern er redet vom Beten. Das ist sozusagen die Grundfunktion, die dem Reden noch vorausgeht.

Und Paulus sagt: wir wissen doch noch nicht mal immer, wie wir beten sollen, so verworren, wie es manchmal ist, und so schrecklich, wie es manchmal ist. Da fehlen uns schon zum Beten die Worte.

Ich glaube übrigens, dass Paulus nicht meint, dass wir grundsätzlich nicht beten könnten. Für viele Dinge können wir Gebetsworte finden und sollen es natürlich auch. Aber gar nichts so selten kommen wir in eine Lage, wo wir uns fragen: was soll ich denn hier sagen? Soll ich dafür beten, dass jemand eine gute Note in der nächsten Arbeit schreibt, oder dass er fleißiger wird, oder dass der Lehrer die Klasse besser vorbereitet? Na gut, das kann man zur Not noch irgendwie zusammenkriegen. Aber wenn du für eine schwierige Beziehung beten willst: soll die einfach irgendwie besser werden, oder soll man darum beten, dass ein Partner endlich den Mut findet, einen Schlussstrich zu ziehen? Oder ein alter Mensch ist sehr krank – sollst du darum beten, dass er wieder gesund wird, oder dass er jetzt in Frieden sterben kann? Und wenn es dann noch in den größeren Bereich geht, wo wir das Schicksal von ganzen Völkern vor Gott bringen: um Befreiung für Unterdrückte zu beten, hört sich gut an, aber welche Opfer wird diese Befreiung kosten? Um Frieden zu beten, kommt auch immer gut an, aber wer wird den Preis eines ungerechten Friedens bezahlen müssen? Sollen wir dann vielleicht so allgemein beten, dass keiner, auch Gott nicht, weiß, was wir eigentlich gemeint haben?

An solche und wahrscheinlich noch ganz andere Situationen denkt Paulus, wenn er sagt: wir wissen nicht, was wir beten sollen, um richtig zu beten. Und er sagt: dann wird tief in unserem Herzen der Heilige Geist für uns reden. Wenn du vom Evangelium bewegt und angerührt worden bist, wenn du den Ruf zum Glauben und zur Taufe gehört und beantwortet hast, wenn die Liebe und das erbarmen Gottes ausgegossen ist in dein Herz, dann öffnet sich in dir ein Raum für den Heiligen Geist, der an deiner Stelle anfängt, zu Gott zu reden. Das sind gar keine artikulierten Worte, sondern das ist ein Seufzen und Flehen, für das du gar keine Begriffe hättest.

Paulus denkt dabei an die urchristliche Praxis des Zungenredens oder wie man es nennen will. Er hat lange darum gekämpft, zu verstehen, was das eigentlich bedeutet. Es gab damals Leute, die sagten: das ist eben die Sprache des Himmels, die Sprache der Engel, und wer so reden kann, der zeigt damit, dass er ein besonders fortgeschrittener Christ ist. Und Paulus hat schwer damit zu kämpfen gehabt, wenn das sozusagen als Statussymbol für besonders tolle Christen galt. Hier an dieser Stelle merken wir, was er schließlich gefunden hat: das Reden in Zungen ist die Art, wie der Heilige Geist den Schmerz der Welt durch uns vor Gott bringt. Es ist der unartikulierte Schrei der ganzen Schöpfung nach Freiheit von Tod und Verderben.

Und Paulus sagt: Gott wird diesen Schrei nach Freiheit und Erlösung hören, verstehen und beantworten. Macht euch keine Sorgen darum, ob ihr es alles angemessen formuliert: der Heilige Geist vertritt euch, und Gott, der die Herzen erforscht, steht mit seinem Geist in Verbindung und nimmt dessen Gebet an. Und wenn die dunklen Tiefen und die Schmerzen der Schöpfung vor Gott gebracht werden, dann ist Hoffnung. Dann kann Gott auch aus dem Bösesten und Dunkelsten Gutes machen, wie Dietrich Bonhoeffer es einmal formuliert hat, unter Bezug auf diese stelle im Römerbrief: »Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.«

Das ist es, was Paulus sagt: denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen. Es gibt keine Wirklichkeit, und sei sie auch noch so dunkel, vor der Gott kapitulieren müsste. Aber wir geben zu schnell auf und verlieren die Hoffnung und laufen weg aus der Situation.

Ich habe vorhin gesagt, dass man sich schnell missbraucht fühlen kann, wenn ein anderer einen ungefragt als Mülleimer für seine ungelösten Probleme benutzt. Die viel größere Schwierigkeit ist aber, dass es für uns alle so hart ist, bei den Schmerzen der Welt auszuhalten und nicht wegzugehen und die Menschen und die Welt mit ihrem Schmerz allein zu lassen. Heilung kommt, wenn Menschen freiwillig bereit sind, das alles zu teilen, und sei es nur so, dass wir dem Heiligen Geist und seinem Klagen in uns Raum geben. Das ist nichts, was man verlangen und einklagen könnte – das gibt es nur als Geschenk.

Deswegen haben wir vorhin die Geschichte aus den Evangelien gehört, wie Jesus in Gethsemane betet: er spürt ja, wie die ganze Last der Unterdrückung seines Volkes sich zusammenballt und in Gestalt der Kreuzigung auf ihn wartet. Und als er da in Gethsemane gebetet hat, ich weiß nicht, ob er da für alles Worte gefunden hat, aber auf jeden Fall ist da der Heilige Geist mit dabei gewesen und hat die Klage und den Schmerz der ganzen unterdrückten Welt vor Gott gebracht. Und dann ist Jesus tatsächlich dabeigeblieben, er ist nicht weggelaufen aus der Situation, wie die Jünger, die sich in den Schlaf flüchteten. Er hat alles bis zum bitteren Ende erlitten, und nur so konnte Gott zeigen, dass er wirklich auch aus dem Bösesten Gutes macht. Nur weil Jesus die ganze Last bis zum Ende trug, konnte Gott mit der Auferstehung antworten. Und gerade so ist Jesus der König der Welt geworden. Wirkliche Macht erlangt man, indem man das auf sich nimmt, was sonst keiner tragen will.

Wir sehen an Jesus übrigens auch, dass es nicht nur ums Beten geht, sondern auch ums Handeln. Er hat sich in Gethsemane im Gebet zu seinem Weg durchgerungen, aber dann musste er ihn natürlich auch gehen. Das Gebet hat das nicht ersetzt. Aber es ist die elementare Grundhaltung, unabhängig von den Unwägbarkeiten der jeweiligen Lage. Und die setzt sich dann ins Handeln um.

Indem wir diese Grundhaltung einnehmen, benutzt Gott auch das Böseste, um uns unserem Ziel entgegenzuführen: Er ist das Bild, dem wir ähnlich werden sollen. Weder Bonhoeffer noch Jesus kannten diese merkwürdige Leidenssucht, der man bei manchen Christen begegnet. Sie liebten das Schöne und das Leben, und sie haben sich nicht zum Leiden hingedrängt. Aber sie wussten, wann es dran war, und als es soweit war, sind sie nicht weggelaufen. Und jeder Nachfolger Jesu, der in der einen oder anderen Weise einen Raum in seinem Leben frei macht, durch den die Schmerzen und Leiden der Welt zu Gott gebracht werden, der wird dadurch nach dem Bild Jesu geformt.

Gott kann auch das Böseste in seinen Plan einbauen und seinem Sohn dadurch viele Schwestern und Brüder erschaffen.

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