Flüchten oder Standhalten?

Predigt am 14. November 2004 zu Römer 8,18-26

18 Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. 19 Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. 20 Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung; 21 denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.
22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.
23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. 24 Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht?
25 Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld. 26 Desgleichen hilft auch der Geist unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.

Paulus zeigt uns, wo der Weg zur Herrlichkeit Gottes beginnt: mitten im Leiden und unter den Seufzern der gequälten Kreatur. Deshalb habe ich vorhin zur Lesung die Bilder aus dem Ersten Weltkrieg gezeigt, wo man sieht, dass damals gemeinsam mit den Menschen auch die Natur gestorben ist – verkohlte Bäume auf einem von Granaten umgepflügten Schlachtfeld.

Aber Paulus hat eine große Hoffnung nicht nur für die Menschen, sondern für die ganze Schöpfung: auch die Schöpfung soll befreit werden. In der kommenden Welt Gottes werden nicht nur Seelen leben, sondern da wird auch die ganze Schöpfung in Herrlichkeit erneuert werden.

Es ist erstaunlich, wie Paulus damals schon vom Seufzen der Kreatur sprechen konnten, lange bevor wir ganz deutlich erleben, wie die Natur von Menschenhand bedroht wird. Und ich glaube, es ist so: gerade weil Paulus diese Hoffnung der Erneuerung für die ganze Schöpfung im Herzen trug, deshalb konnte er spüren, wie sehr auch die nicht menschliche Kreatur seufzt und leidet, weil die Welt sich durch menschliche Schuld so sehr von Gott abgewendet hat.

Gerade weil Paulus diese weit ausgespannte Hoffnung kennt, deswegen versteht er den Ausdruck des Leidens in der stummen Natur. Und er merkt, dass wir diesem Leiden ganz genau so unterworfen sind. Auch wenn wir zu Christus gehören und seinen Heiligen Geist haben, dann haben wir das alles doch nicht hinter uns gelassen, nein, dann fangen wir erst richtig an, die Schmerzen in der Welt und in uns selbst zu spüren.

Neulich erzählte mir eine Kollegin, die viel mit russischen Aussiedlern zu tun hat, was die mittlere Generation dieser Russlanddeutschen unter Gottesdienst versteht. Von denen hört sie immer: Gottesdienst, das sind alte Frauen, die stundenlang beten und weinen. Offensichtlich ist da der Gottesdienst über viele Jahre hinweg so ein Ort gewesen, wo die Menschen all das zur Sprache bringen konnten, was ihn an Leid angetan worden war: die Deportation nach Sibirien, die Trennung der Familien, die Armut und der Hunger, die tägliche Ungewissheit und das viele Sterben, dass diese Menschen erlebt haben.

Die nachwachsende Generation hat dann da offensichtlich nicht mehr so einen Zugang zu gehabt, aber die haben anscheinend diese ganze Zeit der Bedrückung durchstehen können, weil sie ihren ganzen Schmerz im Gottesdienst aussprechen und zu Gott bringen konnten.

In Gewaltstaaten versucht man, das zu verhindern, dass der Schmerz der Menschen ausgedrückt wird. Wenn er nicht ausgedrückt wird, dann sieht es so aus, als ob er nicht da ist. Deswegen gab es im Zweiten Weltkrieg für die gefallenen Soldaten oft Todesanzeigen mit so verrückten Formulierungen wie »in stolzer Trauer«. Man durfte nicht-öffentlich schreiben, wie weh einem das getan hat, den Mann, den Sohn, den Bruder oder den Freund zu verlieren. Es musste immer gleich dabei stehen, dass man ja stolz darauf war, ihn für Führer und Vaterland gegeben zu haben. Aber das war ja nicht nur die äußere Darstellung, nein, diese Verwirrung hat auch die Menschen im Inneren ergriffen, und sie konnten sich ihrer Trauer gar nicht stellen, denn diese einfache, normale und natürliche Trauer, jemanden verloren zu haben, der ganz nah zu einem gehört hat, die war nicht erwünscht, und dann hat man sie auch verlernt. Und deswegen sind viele über Jahrzehnte nicht herausgekommen aus dieser Trauer, weil sie im entscheidenden Moment nicht oder nicht richtig ausgesprochen werden konnte.

Deswegen sagt Paulus hier, dass der heilige Geist uns gerade dabei hilft, das auszusprechen, was man vielleicht den stummen Schrei der gequälten Kreatur nennen könnte. »Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen«. Die Leiden dieser Zeit sollen eben nicht unausgesprochen bleiben, sondern sie sollen vor Gott kommen, damit sie geheilt werden können. Davon spricht Jesus, wenn er sagt: »Selig sind die Trauernden, denn sie sollen getröstet werden.« Da, wo Schmerz empfunden und ausgedrückt wird, kann er auch geheilt werden. Und wenn wir keine Worte haben, um das alles auszudrücken, dann tritt Gottes Geist für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen.

Wir kennen auch heute noch genügend Menschen, die ihr eigenes Leiden und auch das von anderen übertönen mit Lärm, mit einer großen Klappe, mit Albernheiten, mit Drogen und Alkohol, mit Statussymbolen. Und deswegen kommen sie nicht davon los, weil sie sich nicht der Realität stellen. Und diese Realität heißt Angst, Trauer oder Schmerz. Und die soll nicht ins Bewusstsein rücken. Aber sie sucht sich dann andere Wege.

Wie viele Krankheiten z.B. sind in Wirklichkeit ein Zeichen für eine Realität, die anders nicht ausgedrückt und wahrgenommen wird. Da drückt der Körper etwas aus, was der Geist nicht angemessen zur Kenntnis genommen hat. Unser Körper ist der die Schnittstelle, über den wir untrennbar verbunden sind mit der ganzen Schöpfung. Unser Geist gibt uns den Eindruck, wir seien einzigartig, und das ist nicht falsch. Aber unser Körper stellt uns trotzdem in eine tiefe Solidarität mit Pflanzen und Tieren und mit der Erde, aus der wir gemacht sind. Die verschiedensten Religionen versuchen den Menschen einzureden, sie müssten ihren Körper möglichst vergessen oder abtöten, um wirklich geistige Wesen zu werden. Am weitesten in diese Richtung geht der Buddhismus, aber leider haben sich solche Strömungen auch ins Christentum eingeschlichen. Dabei war es gerade der Impuls des Christentums von Anfang an, dass es Hoffnung für diese ganze Erde gibt, nicht nur für abstrakte Seelen.

Manche Sekten versprechen das bis heute ihren Mitgliedern, dass eines Tages ein Ufo kommt und sie endlich abholt aus dieser schrecklichen Welt. Meistens müssen sie für diese Fahrkarte auch ordentlich an den Guru bezahlen. Aber was ist das für ein hoffnungsloses Denkschema! Schnell weg von hier, bevor es noch schlimmer wird! Die Christen haben stattdessen immer standgehalten mitten in den Leiden, unter denen dieser Welt ächzt und schreit. Wenn die Heiden vor einer Seuche aus der Stadt geflohen sind, dann sind die Christen hingegangen und haben die Kranken gepflegt. Denn sie hatten Hoffnung, und sie wussten, dass Gott da am nächsten ist, wo die Gefahr real ist und man allen Mut zusammennehmen muss.

Wenn wir in Versuchung sind, mindestens gedanklich diese Welt hinter uns zulassen, dann ist es unser Körper, der uns daran erinnert, dass Gott uns in diese Welt gestellt hat. Und Hoffnung haben wir nur gemeinsam mit all den andern Kreaturen. Gottes neue Welt wird nicht nur für die Menschen sein. Vielleicht denkt ihr jetzt einfach mal an euren Körper. So lange begleitet er uns schon, aber wir achten meist nur auf ihn, wenn er nicht funktioniert. Fühlt einfach mal für einen Augenblick, wie schwer er ist. Fühlt, wie er voll Leben ist, das pulsiert und fließt. Vom Kopf bis zu den Füßen, bis hinein in die Fingerspitzen und Zehen. Und lasst uns Gott aus vollem Herzen Dank sagen für diesen Körper, den wir haben. Stellt euch vor, Gott hat ihn mit eigenen Händen gemacht. In der Schöpfungsgeschichte lesen wir, wie Gott mit eigenen Händen den Lehm zu einem menschlichen Körper formte. Er hat ihn wunderbar gemacht, er ist wahrscheinlich das kunstvollste Gebilde im ganzen Universum. Jeder von uns hat so einen Körper geschenkt bekommen. Danke Gott! Ich habe irgendwo gelesen, dass gar nicht wenige Menschen ihren Körper hassen oder ihn jedenfalls nicht mögen. Das hat er nicht verdient. Tag für Tag leben wir mit ihm, und wir sollten befreundet sein.

Manche von uns werden jetzt auch spüren, wo Ihr Körper schmerzt oder wo er überfordert ist. Natürlich ist es gut, wenn wir darauf achten und unserem Körper helfen, wieder heil zu werden. Aber ein Leben lang völlig gesund zu sein, das ist eine Illusion. In einer kranken Welt kann keiner von uns einfach gesund bleiben. Unser Körper erinnert uns immer wieder daran, wie es der ganzen Schöpfung geht. Sie ist der Vergänglichkeit unterworfen, dem Verletztwerden, dem Sterben. Und obwohl wir wissen, dass das nicht ewig so bleiben wird, berührt uns doch das Leiden der Schöpfung, und der häufigste Weg dazu führt über unsern Körper. Aber Gott nutzt das, um in uns die Sehnsucht zu stärken, dass diese Welt endlich an ihr Ziel kommen möge. Dass endlich die Kinder Gottes offenbar werden, die erwachsenen Söhne und Töchter Gottes, die die Schöpfung so regieren, wie es geplant war.

In der Kraft des Geistes Gottes sollen wir genau an diesen Platz stehen: das Leiden und die Schmerzen zu spüren, und Ausschau zu halten nach der Rettung, von der nur wir wissen. Und je stärker die Sehnsucht wird, umso mehr kann durch uns von Gott her in die Welt kommen.

Leid will gehört und verstanden werden. Letzten Endes ist es ein Schreien nach Gott. Neulich haben mir Hinterbliebene von den letzten Wochen ihres verstorbenen Vaters erzählt (nicht hier aus Ilsede). Sie haben ihn in dieser Zeit begleitet und sind fast immer bei ihm gewesen. Er hatte zuletzt schlimme Schmerzen und hat da kurz vor seinem Tod noch eine Entdeckung gemacht. Er war sein Leben lang immer ein nüchterner Mensch gewesen. Aber dann hat er ihnen gesagt: »ich hätte es nie für möglich gehalten, aber einfach davon, dass einer von euch meine Hand hält, kann ich das leichter ertragen.«

Das ist für die Angehörigen auch nicht einfach gewesen, diesen quälenden Abschied mitanzusehen, aber weil sie davor nicht geflohen sind, sondern am Krankenbett des Vaters dem Leiden der Kreatur standgehalten haben, deshalb ist es für ihn leichter gewesen. Ich weiß nicht, wie klar ihnen diese Zusammenhänge waren, aber sie haben faktisch danach gehandelt. Und wenn wir das tun, dann tut Gott das Seinige und ist nicht weit mit seiner helfenden und heilenden Kraft. So wie er auch Jesus auferweckt hat, als der eben nicht weggelaufen ist vor dem Kreuz und dem qualvollen Sterben. Wenn Gott dabei ist, dann ist keine Situation mehr hoffnungslos.

Liebe Freunde, das ist unsere Situation: wir sollen warten, weil Gott dieser Zeit braucht, um sein Werk zu Ende zu führen und Menschen hervorzubringen, wie er sie im Sinn gehabt hat, als er uns schuf. Und er tut das mit dem, was mit uns passiert, wenn wir in Geduld warten. Geduld meint ja in der Bibel eben nicht das fatalistische Abwarten, wo man sich sagt: ich kann ja doch nichts machen. In der Bibel ist Geduld ein engagiertes Dranbleiben, ein Drunterbleiben unter der Last, die diese Erde immer wieder darstellt in ihrer ganzen Gottferne. Nicht weglaufen, sondern dranbleiben. Geduld weiß, dass wir zur Hoffnung berufen sind, für die Welt im Ganzen, aber auch immer wieder für die Situation, wo wir persönlich mit dem Seufzen der Schöpfung verbunden werden und daran Barmherzigkeit lernen sollen.