Die Mitte des Briefes: Christus in uns

Predigt am 26. Februar 2012 zu Römer 8,10-13 (Predigtreihe Römerbrief 23)

10 Wenn aber Christus in euch ist, dann ist zwar der Leib tot aufgrund der Sünde, der Geist aber ist Leben aufgrund der Gerechtigkeit. 11 Wenn der Geist dessen in euch wohnt, der Jesus von den Toten auferweckt hat, dann wird er, der Christus Jesus von den Toten auferweckt hat, auch euren sterblichen Leib lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt. 12 Wir schulden also dem Fleisch nichts, Brüder, so dass wir nach dem Fleisch leben müssten. 13 Wenn ihr nach dem Fleisch lebt, müsst ihr sterben; wenn ihr aber durch den Geist die (sündigen) Taten des Leibes tötet, werdet ihr leben.

Jetzt allmählich lässt Paulus die Katze aus dem Sack. Langsam bekommt das, was er in seinem Brief Kapitel für Kapitel vorbereitet hat, deutliche Konturen. Darauf lief es die ganze Zeit hinaus: Christus, der in uns lebt; der Heilige Geist, der uns bewegt.

Vorhin in der Lesung (Johannes 15,5-8) haben wir gehört, wie Jesus sagt: ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben, und deshalb fließt mein Leben durch euch hindurch und bringt Frucht. Hier sagt es Paulus in seinen Worten, aber darum geht es: Jesus, seine Worte und seine Kraft in uns.

Als wir vor drei Wochen auf die vorherigen Verse gehört haben, da hat Paulus noch die Zombie-Welt beschrieben, in der wir leben, eine Welt der Untoten, die irgendwie versuchen, ihre schwindende Lebenskraft so lange wie möglich festzuhalten. Und sei es dadurch, dass sie anderen die Lebenskraft rauben, um auf Kosten der anderen ein bisschen besser zu leben. Er hat diese düstere, angefressene Welt das »Fleisch« genannt, einen Bereich, der von Gott geschaffen ist und von ihm lebt und sich trotzdem gegen ihn verschließt.

Heute erreichen wir sozusagen das andere Ufer. Heute wird die die positive Wirklichkeit sichtbar, von der aus Paulus schon immer argumentiert hat: Christus in uns. Wir schulden dem Fleisch nichts. Diese ganze Welt ohne Gott hat keinen Anspruch auf uns. Denn sie ist nicht alternativlos. Es gibt für uns keine zwingende Nötigung, nach den Regeln dieser Zombie-Welt zu leben. Wir schulden ihr nichts, weil Jesus Christus in uns lebt.

Wir sollten uns einen Augenblick klar machen, welche große Bedeutung Schuld und Schulden haben. Spätestens seit den Schuldenkrisen einiger europäischer Länder dürfte das für jeden deutlich sein. Früher waren es nur irgendwelche exotischen Länder in Übersee, denen Schulden die Luft abdrückten. Jetzt sind es schon europäische Länder, die nicht mehr Herr im eigenen Haus sind, die gezwungen werden, ihre Menschen knapp zu halten und ihre Souveränität einzuschränken. Wie geraten Länder in solch eine Lage? Indem sie Schulden machen.

Genauso ist es mit Menschen. Als ich zur Schule ging, da gab es den Weltspartag, an dem man bei der Sparkasse ein kleines Geschenk bekam, wenn man sein Sparschwein schlachtete und das Geld aufs Konto einzahlte. Die Banken haben geworben: kauft euch nicht Lutscher oder Lakritzschnecken, sondern sorgt für die Zukunft vor. Gebt uns euer Geld, dann bekommt ihr Zinsen und Zinseszinsen und könnt euch später mal ein Hüttenwerk kaufen oder eine Tankstelle oder eine Wohnungseinrichtung.

Heute ist das längst Vergangenheit. Heute werben Banken damit, wie einfach und schnell man bei ihnen Kredit bekommt für jeden Wunsch, den man gerade hat, flexibel und individuell, mit Wunschkonditionen. Nur den Kredit, den man nicht zurückzahlen muss, den bietet meines Wissens noch keine Bank an. Und so nehmen Menschen Kredite auf, machen Schulden, für Handys, für Autos, für Reisen, aber auch für sinnvolle, vernünftige Investitionen, und wundern sich dann manchmal, was das mit ihnen macht. Das sieht man niemandem an, Schulden sind eine verborgene Realität, und nur die Statistiken sagen uns, wie viele Menschen davon betroffen sind.

Was aber ist der Effekt von Schulden? Die Schulden, die jemand hat, sprechen in seinen Gedanken immer mit. Sie überschatten seine Gedanken, weil er nicht frei ist. Er kann nicht sagen: ich ändere mein Leben, ich fange etwas Neues an, ich mache eine Weltreise. Nein, da sind ja immer noch die Schulden, die erst abbezahlt werden müssen. Da kann man nicht einfach aufhören oder krank werden oder was ganz anderes machen. Und es darf auch nichts schief gehen, kein Arbeitsplatzverlust, keine Scheidung, kein Unglück, keine Fehlentscheidungen. Und das führt dazu, dass so ein Grauschleier von Sorgen über dem Leben liegt und Menschen behindert und bremst. Die äußeren Zwänge ziehen auch in den Kopf ein und begrenzen die Gedanken. Man denkt dann nur noch im Rahmen des Spielraums, den man hat. Das kann das Lebensgefühl ganzer Länder verdüstern, das kann in Städten und Gemeinden dazu führen, dass Schuldenabbau ein Totschlagsargument wird, das alle Fantasie erstickt, und das kann bei Einzelnen dazu führen, dass sie keinen Mut zu Neuem und keine Freude am Leben mehr haben.

Und finanzielle Schulden sind ja nur ein Spezialfall dessen, dass man überhaupt jemandem »etwas schuldig ist« und deshalb in seinem Entscheidungsspielraum eingeschränkt ist, so als ob man mit vielen Stricken überall angebunden und gefesselt wäre. Wie viele Leute versuchen, uns zu kontrollieren, indem sie uns einreden, wir seien ihnen irgendwie etwas schuldig und müssten auf sie hören!Wie viele Leute wollen uns ein schlechtes Gewissen machen, bis wir meinen, wir müssten bei ihrem Spiel mitspielen! Und man gewöhnt sich daran und weiß irgendwann gar nicht mehr, wie es sich ohne Schulden und Schuldig­sein lebt. Man denkt immer nur: »ich muss doch! ich bin doch dazu verpflichtet!« Und man vergisst darüber, wie Freiheit sich anfühlt.

Deshalb sagt Paulus: ihr schuldet dem Fleisch nichts, ihr seid keiner Nötigung unterworfen, nach den kaputten Regeln der Zombie-Welt zu leben. Realisiert, dass ihr frei seid. Seid nicht wie Leute, die sich so an die roten Zahlen auf ihrem Kontoauszug gewöhnt haben, dass sie sich mit schwarzen Zahlen schon irgendwie vorkommen würden wie im falschen Film. Nein, ihr habt euren Entscheidungsspielraum wieder, eure Gedanken können sich neuen und anderen Zielen zuwenden.

Paulus hat dabei im Sinn, was er in Kapitel 6 über die Taufe gesagt hat: als wir getauft wurden, sind wir sind der Sünde gestorben, sie hat keine Macht mehr über uns. Jetzt sagt er es mit dem Bild von den Schulden: wir haben keinerlei Verpflichtung, nach den Regeln dieser kaputten Welt zu leben. Und das fängt damit an, dass wir im Kopf davon frei werden. Die wirkliche Gefangenschaft und die wirkliche Freiheit beginnen beide im Kopf.

Deshalb durchtrennt die Taufe die Bindung an die Selbstverständlichkeiten der kaputten Welt. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass man möglichst viel kontrollieren muss, es ist nicht mehr selbstverständlich, dass Lebenskraft ein knappes Gut ist, um das man mit anderen kämpfen muss, es ist nicht mehr selbstverständlich, dass der Tod das Schlimmste ist, was uns passieren kann. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass sich alles um unsere kleine Welt und ihre Wehwehchen dreht. Jesus lebt in uns, wir tragen in uns die Quelle des Lebens, wir können schenken und geben, wir leben nicht aus dem Mangel, sondern aus der Fülle. Wir sind Teil einer neuen, größeren Geschichte geworden. Und das ist zunächst einmal so ein fremdes Gefühl, wie wenn jemand mit einem Schlag all seine Schulden los ist.

Wer aber sein Leben lang mit Schulden gelebt hat und die auf einmal los ist, der muss sehr gut aufpassen, dass er nicht gleich wieder in seinen gewohnten Lebensstil zurück rutscht. Und so sind wir auch immer in Gefahr, zurück zu rutschen in den Zombie-Lebensstil. Wir müssen lernen, auf die Stimme des heiligen Geistes zu hören, der uns signalisiert, wenn sich der alte Lebensstil wieder meldet.

Man muss sich das so vorstellen: wenn Jesus in uns wohnt, dann mischt sich der Heilige Geist ein in den beständigen Fluss unserer Gedanken, in die Selbstgespräche, die wir kontinuierlich führen. Dann gibt es irgendwo dazwischen auch Gedanken wie: ‚eigentlich könnte ich es doch auch anders machen.‘ ‚Was würde Jesus jetzt machen?‘ ‚Ich könnte auch mal beten.‘ ‚Hey, was der mir da erzählt, das stimmt doch vorn und hinten nicht.‘ ‚In dieser Gesellschaft fühle ich mich irgendwie unwohl.‘ Oder man hat einfach nur das Gefühl: da passt jetzt irgendwas nicht.

Nicht all solche Gedanken sind immer vom Heiligen Geist, aber wir sollten auf sie achten und sie wahrnehmen. Der heilige Geist bringt uns Jesus direkt ins Zentrum unserer Person. Und im Lauf der Zeit verstärkt sich unsere Sensibilität dafür, wir erkennen seine Stimme besser, wir unterscheiden sie leichter von all dem anderen Stimmengewirr, das auf uns eindringt. Wir bekommen einen inneren Kompass, der uns durch die Grauzonen des Lebens hindurchlotst.

Wie gesagt, das geht nicht von jetzt auf gleich. Es gibt auch ein paar Wege, um diesen Prozess zu stärken. Zuerst natürlich die Bibel – weil man da dieses neue Denken an der Quelle lernen kann. Man guckt sich da Denkmuster ab, und dann hat es der Heilige Geist viel leichter, sie zu aktivieren, wenn sie gebraucht werden. Aber es geht eben nicht um den Gebrauch der Bibel als Gesetzbuch – das funktioniert nach Paulus‘ Meinung nicht – , sondern darum, dass der Geist Gottes die alten Worte nimmt und in einen neuen Zusammenhang stellt. Und im Lauf der Zeit fallen einem dann nicht nur einzelne Bibelsprüche ein, sondern man bekommt ein Gefühl für die ganze Art, wie Gott die Dinge sieht. Man merkt dann schnell, wo etwas nicht stimmt, sogar, wenn man noch nicht klar formulieren kann, was es ist.

Wichtig sind auch andere Menschen, mit denen zusammen man auf die Stimme Gottes hört. In der Regel kommt man gemeinsam zu einem besseren Ergebnis. Es ist einfach eine Menge Denkarbeit, uns allmählich herauszulösen aus den alten, kaputten Selbstverständlichkeiten. Für einen allein ist das einfach zu viel. Wir bauen immer auf auf der Denkarbeit, die andere schon getan haben.

Dazu kommen Gewohnheiten, die uns helfen, die Quellen freizulegen, die in uns sprudeln. Gott spricht eher in der Tiefe zu uns als an der Oberfläche. Oder besser gesagt: wenn er uns etwas sagt, dann müssen wir es intensiv festhalten. Wir sind aber gewohnt, Dinge nicht lange in unserem Kopf zu halten, sondern schnell wieder etwas Neues zu nehmen. Die Dinge brauchen aber Zeit, um sich zu entwickeln. Das ist der Grund, weshalb es sinnvoll ist, sein Leben zu verlangsamen, sich nicht von Medien zudröhnen zu lassen, um sich herum für Stille zu sorgen und immer wieder Zeiten einzuschieben, wo wir gar nichts tun, wo wir sogar versuchen, die Gedanken zur Ruhe zu bringen.

Anderen hilft Musik, diese Tiefen in sich zu erschließen und etwas zu spüren, was sie vielleicht gar nicht in Worte fassen könnten. Der Heilige Geist spricht durch viele Medien, es kann für manchen auch Kunst sein, ein Film, ein Roman, das Tagebuch, das man führt oder die Predigt, die man schreibt, aber immer wieder und auf jeden Fall sind es Menschen, die mit uns auf dem gleichen Weg unterwegs sind und in denen wir etwas von Jesus wiedererkennen, und in deren Worten der heilige Geist mitspricht, so dass wir ihn da manchmal besser erkennen als in unseren eigenen Gedanken und Worten.

Und es gibt das Abendmahl, sozusagen ein soziales Gesamtkunstwerk, wo im besten Fall all diese Zugangswege gebündelt sind, wo alle Sinne angesprochen werden, und Menschen gestalten das miteinander.

Diese Wege, um auf die Stimme des heiligen Geistes zu hören, die sind variabel. Da gibt es in verschiedenen Zeiten und Kulturen große Unterschiede. Da gibt es schon zwischen einzelnen Personen große Unterschiede. Und man muss diese verschiedenen Wege nicht gegeneinander ausspielen. Sie haben alle ihre Vorzüge und ihre Gefährdungen.

Zu oft ist es in der Christenheit passiert, dass die einen diesen Zugangsweg favorisiert haben, und die anderen einen anderen, und gemeinsam hätte es das ganze Bild gegeben. Stattdessen haben sie den einen Zugang gegen den anderen ausgespielt und haben so jeder noch nicht einmal den halben Zugang behalten.

Auf welchem Weg auch immer sich der Christus in uns bemerkbar macht: er ist es, der uns frei macht von dem Anspruch, den die Zombie-Welt auf uns erhebt. Wir brauchen sie nicht mehr, denn die Impulse des heiligen Geistes machen uns unabhängig. Das ist die Realität, die bleiben wird, und selbst der Tod wird davor eines Tages zurückweichen müssen. Bis das akut wird, dauert es aber noch ein Weilchen – bei dem einen von uns kürzer, bei dem anderen länger. Einstweilen wollen wir deshalb die Freiheitsmuskeln trainieren, die wir jetzt schon haben.

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