Die Sünde und das Gesetz

Predigt am 30. Oktober 2011 zu Römer 7,7-17 (Predigtreihe Römerbrief 19)

7 Welchen Schluss sollen wir nun daraus ziehen? Ist das Gesetz denn Sünde? Niemals! Aber ohne das Gesetz hätte ich nicht erkannt, was Sünde ist. Ich hätte nicht begriffen, was Begierde ist, wenn das Gesetz nicht sagen würde: »Gib der Begierde keinen Raum!« 8 Die Sünde ergriff die Gelegenheit und weckte in mir durch das Verbot jede nur denkbare Begierde. Ohne das Gesetz ist also die Sünde tot. 9 Ich dagegen war am Leben, solange ich das Gesetz nicht kannte. Doch als dann das Gesetz mit seinen Forderungen an mich herantrat, ´war es umgekehrt:` Jetzt war es die Sünde, die zum Leben erwachte, 10 ich aber starb. Ich musste feststellen, dass das Gesetz, das dazu bestimmt war, mir das Leben zu bringen, mir den Tod brachte. 11 Denn die Sünde ergriff die Gelegenheit, die sich ihr durch das Gesetz bot: Zuerst benutzte sie es, um mich zu betrügen, und dann, um mich zu töten.
12 Es bleibt also dabei, dass das Gesetz heilig ist; seine Forderungen sind heilig, gerecht und gut.
13 Aber heißt das dann, dass etwas, was gut ist, für mich zur Ursache des Todes wurde? Niemals! Es ist die Sünde gewesen; sie hat mir den Tod gebracht und hat dazu das Gute benutzt. Damit zeigte sie ihr wahres Gesicht; gerade die Forderungen des Gesetzes mussten dazu dienen, die grenzenlose Schlechtigkeit der Sünde ans Licht zu bringen.
14 Das Gesetz ist durch Gottes Geist gegeben worden, das wissen wir. Ich aber bin meiner eigenen Natur ausgeliefert; ich bin an die Sünde verkauft und ihr unterworfen. 15 Ich verstehe selbst nicht, warum ich so handle, wie ich handle. Denn ich tue nicht das, was ich tun will; im Gegenteil, ich tue das, was ich verabscheue. 16 Wenn ich aber das, was ich tue, gar nicht tun will, dann gebe ich damit dem Gesetz recht und heiße es gut. 17 Und das bedeutet: Der, der handelt, bin nicht mehr ich, sondern die Sünde, die in mir wohnt.

Diese Verse erschließen sich normalerweise nicht beim ersten Hören. Aber ich glaube, ich kann Ihnen versprechen: Sie werden am Ende der Predigt verstanden haben, worum es Paulus hier geht, und Sie werden entdecken, dass das eine Problematik ist, mit der wir bis heute zu tun haben.

Paulus redet ein ganzes Kapitel lang über das jüdische Gesetz des Alten Testaments. Es hat sein Zentrum bei den 10 Geboten, aber in Wirklichkeit geht es da nicht nur um moralische Lebensregeln, sondern es ist eine ganze Lebensordnung, die Betriebsanleitung für eine freie Gesellschaft. Gott hat Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreit, und jetzt sollten sie als freies Volk leben: ohne Sklaverei, ohne Ausbeutung, mit einem Ruhetag, an dem alle ihre Pause hatten, auch die Arbeiter und sogar die Tiere. Ohne Zinsen, mit einem Minimum an Staat, aber mit einer solidarischen Gesellschaftsordnung, wo keiner hinten runter fällt.

Und jetzt hat Paulus zwei Probleme: erstens hat das nicht wirklich funktioniert. Gut, dieses Modell einer solidarischen Gesellschaftsordnung hat schon etwas bewirkt, es hat seine Spuren in Israel hinterlassen gute Spuren, aber dieses Modell ist zerrieben worden zwischen den Großmächten, die das kleine Israel von außen geschluckt haben, und den Profiteuren, die im Innern ihre Ellbogen benutzt und eine mehr profitorientierte Ordnung durchgesetzt haben. Vielleicht erinnern Sie sich an das Evangelium vorhin (Matthäus 5,17-20), wo Jesus sagt: eure Gerechtigkeit muss besser sein als das, was die Schriftgelehrten tun. Das heißt: ausgerechnet die Schriftgelehrten, die das Gesetz doch am besten kennen müssten, kriegen es nicht hin. Im real existierenden Israel hat die solidarische Gesellschaftsordnung nicht funktioniert. Noch nicht mal bei den Fachleuten. Und wer das letzte Mal dabei war, erinnert sich vielleicht, dass Paulus sogar sagt: das eigentlich gute Gesetz richtet am Ende Schaden an.

Um das zu verstehen, kann man daran denken, wie es bei uns im Land war, als es noch die DDR mit ihrem real existierenden Sozialismus gab: die hatten viele gute Sachen im Programm, aber hinter den Kulissen hat es geklemmt und gegrummelt, und der schöne Anspruch ließ sich immer schlechter nach außen verkaufen. Stattdessen hat man im Namen des Sozialismus einen großen Überwachungsapparat aufgebaut und das Volk eingeschüchtert. Aus einer tollen Idee ist eine schlechte Realität geworden. Das ist das erste Problem.

Das zweite Problem, das Paulus hat, besteht darin, dass er trotzdem nicht einfach sagen kann: das war ein schöner Traum mit dem Gesetz, aber vergessen wir es, das war unrealistisch. Diese Lösung kann Paulus nicht wählen, weil er weiß, dass das Gesetz durch Gottes Geist gegeben ist. Diese Vision einer gerechten, freien, solidarischen Gesellschaft ist keine Traumtänzerei, sondern es ist Gottes eigene Vision, erst für sein Volk und dann für die ganze Welt.

Noch mal zum Vergleich: Als hier die DDR zusammenbrach, da haben viele gesagt: da sieht man es, der Sozialismus war durch und durch falsch, haben wir doch schon immer gesagt. So kann Paulus aber nicht über das Gesetz Gottes reden, er kann nicht sagen: da hat Gott sich wohl geirrt, der war einfach zu idealistisch, wo ist der Plan B? Das ist nicht Gottes Art, dass er die Welt, die er selbst geschaffen hat, nicht durchschaut. Und so versucht Paulus zu verstehen: wie konnte es passieren, dass Gottes gutes Gesetz so katastrophale Resultate brachte?

Und er sagt: das kommt daher, dass Menschen unter den Einfluss der Sünde geraten sind. Selbst in Israel, selbst in Gottes eigenes Volk hat sie sich eingeschlichen. Sünde ist nichts Harmloses wie »etwas zu schnell gefahren« oder »etwas zu viel gefuttert«. Sünde ist wie ein Schimmelpilz, der die Welt verfaulen lässt. Sie sorgt dafür, dass auch die gerechtesten Regeln, die besten Ideen, die tollsten Projekte kaputt gehen, weil Sünde die Menschen infiziert, die diese Ideen umsetzen. Sünde ist brutal, schrecklich, zerstörerisch.

Wir kennen das doch alle, dass auch gute Ideen und Programme im Sande verlaufen, wenn die Menschen, die sie umsetzen sollen, schief gewickelt sind. Egal, ob Kirche, Politik oder irgendwo anders: wenn du hinter die Kulissen schaust, dann merkst du, wie es da überall menschelt, wie man so schön sagt. Aber »menscheln« ist eine Verharmlosung: Menschen bekämpfen sich bis aufs Blut, sie machen sich das Leben zur Hölle, sie mobben sich weg, sie lassen sich bestechen, sie gieren nach Macht und Beachtung, und je unfähiger sie sind, mit um so mehr Energie betreiben sie ihre Karriere, damit am Ende keiner mehr sagen kann: das schaffst du nicht.

Wenn Menschen dir vertrauen, dass du es nicht weitererzählst, dann kriegst du die beklopptesten Geschichten aus dem Innenleben der Organisationen zu hören: aus Verwaltungen, Firmen, Parteien, Wohltätigkeitsorganisationen und auch aus kirchlichen Gremien. Und genauso aus Familien. Geschichten, von denen beinahe nie was nach draußen dringt, weil keiner den eigenen Laden in der Öffentlichkeit beschädigen möchte. Aber natürlich leiden die Leute darunter.

Wem das noch nie klar gewesen ist, der kriegt einen Schock, wenn er das zum ersten Mal hört. Und er sagt: die haben so ein tolles Programm in dieser Partei, und dann gehen sie so miteinander um? Diese Firma gibt sich so kundenfreundlich, aber wie behandeln sie ihre Mitarbeiter?! Ein Arzt mit drei Doktortiteln, aber seine Patienten sind ihm egal? Die Nachbarn erzählen immer, was sie für tolle Kinder haben, aber in Wirklichkeit ist das Verhältnis völlig zerrüttet? Wie kann das sein?

Eigentlich ist das eine tolle Sachen, dass wir so etwas wie Programme, Werte oder Recht haben, eben: Gesetze. Sie sind wie ein Kompass, mit dem man sich im Leben orientieren kann. Es ist sogar eine Spezialität von Israels Gott. Sonst überall galt in der alten Zeit das als Recht, was der König sagte. Wer die Macht hatte, der bestimmte auch, was richtig war. Nur in Israel gab es ein Gesetz, das über dem König stand. Die Macht wurde begrenzt durch den Willen Gottes, wie er in seinem Gesetz Ausdruck fand. Dadurch können wir sagen: der hat zwar die Macht, aber Recht hat er damit noch lange nicht. Das ist eine ganz große Errungenschaft, ein Geschenk des Heiligen Geistes.

Aber gleichzeitig, sagt Paulus, ist die Sünde so gerissen, dass sie sogar das Gesetz, die Werte kapert und für ihre Zwecke nutzt. Und das Ergebnis ist, dass Menschen zwar schon irgendwie wissen, was richtig ist, aber wieder und wieder tun sie dann doch das Falsche: entweder, weil sie von ihren eigenen dunklen Impulsen, ihrer Angst und ihrer Gier nicht loskommen, oder weil sie in einem Apparat oder einer Kultur oder einem anderen System drinstecken, das sie immer wieder zu Dingen zwingt, die sie eigentlich nicht wollen. Und sie sagen dann Sachen wie »Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber ich habe meine Vorschriften.«

Man muss sich das vorstellen wie bei dem Mann, der sich eine Alarmanlage einbauen ließ, weil in der Nachbarschaft so oft eingebrochen wurde. Es war eine wunderbare Alarmanlage, technisch auf dem neuesten Stand. Aber an dem Tag, an dem die Handwerker kamen, um sie einzubauen, war der Hausherr krank und musste ins Krankenhaus. Er bat deshalb seinen Nachbarn, die Handwerker hereinzulassen und ihnen alles aufzuschließen. Und was geschah? Der Nachbar bewunderte die tolle Anlage, er merkte sich genau, wie sie funktionierte, und ihm kam eine Idee. Ein paar Monate später brach er in das Haus ein, und weil er die Alarmanlage so gut kannte, konnte er sie problemlos umgehen. Die eigentlich gute Alarmanlage sorgte so am Ende dafür, dass die Wohnung ausgeraubt wurde.

So ist es auch mit dem Gesetz Gottes: es sollte Israel zum Licht der Völker machen, aber stattdessen benutzten sie es, um sich von den Heiden abzugrenzen. Die zehn Gebote sollen dafür sorgen, dass wir den Segen nicht zerstören, aber wie oft werden sie benutzt, um sich zu empören und zu beweisen, dass andere falsch liegen. Aus politischen Programmen, die Leben ermöglichen, werden Waffen, mit denen einer seine Karriere verteidigt.

Und Paulus sagt: Ja, das ist die Realität. Dieser Weg des Gesetzes kann nicht funktionieren, setzt da keine Hoffnung drauf. Es hat keinen Zweck, immer wieder zu sagen: der müsste doch eigentlich wissen, was er zu tun hat. Der hätte das doch einsehen müssen. »Müsste«, »hätte«, »sollte« – das sind alles Worte, die nichts bewegen. Das kommt alles nicht an gegen die Gewalt der Sünde. Das macht das Leben vielleicht etwas zivilisierter, aber es ändert nichts Grundlegendes.

Und Gott hat das auch gar nicht erwartet. Gott hat nie gedacht, die Welt könnte so in Ordnung kommen, dass sich alle etwas zusammenreißen und sich an die Regeln halten. Das hat schon im Paradies nicht funktioniert, sonst wären wir ja noch im Paradies. Gott hat das Gesetz als Problemanzeige gegeben, nicht als Lösung. Das Problem kristallisiert sich durch das Gesetz heraus, weil es jetzt Worte gibt, die die Sünde beschreiben, du weißt jetzt, was du nicht tun sollst, wo du früher vielleicht nur eine Ahnung hattest, dass das nicht gut ist. Da wird ein Etikett dran geklebt, das Problem hat jetzt einen Namen, aber davon ist es noch nicht gelöst.

Aber was nun? Paulus präsentiert an dieser Stelle keine Lösung, weil es ihm hier darum geht, den Irrglauben zu untergraben, dass Gesetze, Gebote und »Werte« eine Lösung seien. Aber an anderen Stellen im Römerbrief sagt er natürlich, was die Lösung ist. In Kapitel 6 und am Anfang von Kapitel 7 zum Beispiel hat er gesagt, dass wir durch den Tod Jesu der Sünde gestorben sind. Das heißt, als Jesus in Treue zum Vater im Himmel seinen letzten Atemzug tat, da hat sich in der Welt etwas Grundlegendes verändert. Da ist eine neue Art zu leben sichtbar geworden, die diese ganze Problematik hinter sich lässt, und Jesu Art zu leben hat sich auch angesichts von Qual und Tod bewährt. Und jetzt ist die Welt eine andere.

Deswegen können alle, die an Jesus glauben, die zu ihm gehören, diese ganze Gesetzes- und Sündenproblematik hinter sich lassen. Das betrifft uns nicht mehr. Wenn wir uns in die Logik seines Lebens hineindenken, sie in der Bibel studieren und ihr im Gottesdienst begegnen, wenn wir ihn und seinen Tod immer wieder im Abendmahl vor Augen haben und in uns aufnehmen, wenn wir uns davon unser altes Lebenskonzept wegnehmen lassen, dann werden wir in diese neue Lebenslogik hineingezogen, dann arbeitet der Heilige Geist an uns, und dann kommen wir raus aus dem ganzen Sumpf von Du-darfst-nicht, ich-lass-mir-doch-nichts-sagen, jetzt-hab-ich-ein-schlechtes-Gewissen, ich-werde-depressiv, ich-bin-unleidlich-und-apathisch. Dann waten wir nicht mehr bis zum Bauchnabel im Schlamm, sondern allmählich bekommen wir festen Boden unter die Füße und betreten einen Weg, der uns aus Moral, Beschuldigung und Trägheit herausführt.

Deswegen ist es so fatal, wenn das Christentum zu einer neuen Moral wird; wenn Christen sich vor allem dadurch definieren, was man nicht tut und nicht darf; wenn Christen in einem Klima von Vorwürfen und Selbstvorwürfen leben. Dann ist man wieder auf dem Gesetzesweg, und Paulus kann nur davor warnen, dass der im Sumpf endet. Paulus ist in vielen kritischen Lagen ruhig geblieben, aber wenn einer irgendwo versuchte, aus dem Glauben an Jesus wieder eine Art Gesetz zu machen, dann ist er unglaublich scharf geworden. Da hat er gekämpft mit aller Kraft. Denn er wusste: wer sich darauf einlässt, der tauscht die Freude am Gelingen ein gegen ein dauerndes Zweifeln und Scheitern. Der kriegt es nicht hin, der fährt mit angezogener Handbremse, der wird ein geistlicher Eunuch.

Das Leben Jesu, das in uns Gestalt gewinnt, ist ein besserer Weg, und er erreicht sozusagen mit links, was auch das heilige Gesetz Gottes nicht geschafft hat. Und wir ersparen uns den ganzen Gewissensmüll, der uns nur noch tiefer in den Sumpf zieht.

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