Das Problem mit dem Gesetz

Predigt am 23. Oktober 2011 zu Römer 7,1-6 (Predigtreihe Römerbrief 18)

Paulus hat im sechsten Kapitel seines Römerbriefes ausführlich darüber geredet, dass wir befreit sind von der Herrschaft der Sünde. Wenn wir mit Jesus verbunden sind, ist ihre Herrschaft in unserem Leben gebrochen. Aber da erhebt sich sofort die Frage: es gibt doch schon ein anderes Mittel gegen die Sünde, das Gott selbst den Menschen gegeben hat: nämlich das Gesetz, mit seinem Zentrum in den 10 Geboten. Wenn die Leute sich daran halten würden, dann wäre die Sünde doch auch weg! Also muss Paulus darüber reden, wozu eigentlich das Gesetz gut ist, und dafür braucht er ein ganzes Kapitel, nämlich Kapitel sieben, und auch noch ein paar Verse in Kapitel acht.

1 Brüder und Schwestern, ihr kennt doch das Gesetz und wisst: Es hat für einen Menschen nur Geltung, solange er lebt. 2 Eine verheiratete Frau zum Beispiel ist durch das Gesetz an ihren Mann gebunden, solange er lebt. Wenn der Mann stirbt, gilt für sie das Gesetz nicht mehr, das sie an ihn bindet. 3 Wenn sie nun bei einem andern Mann ist, solange ihr Mann lebt, wird sie eine Ehebrecherin genannt; wenn aber ihr Mann stirbt, ist sie frei vom Gesetz, sodass sie nicht eine Ehebrecherin ist, wenn sie einen andern Mann nimmt. 4 So steht es auch mit euch, meine Brüder und Schwestern! Durch den Leib Christi seid ihr dem Gesetz gegenüber tot. Ihr gehört jetzt nicht mehr dem Gesetz, sondern Christus, der vom Tod erweckt worden ist. Darum können wir nun so leben, dass unser Tun für Gott Frucht bringt. 5 Als wir noch unserer selbstsüchtigen Natur folgten, war unser ganzes Verhalten beherrscht von den sündigen Leidenschaften, die durch das Gesetz in uns geweckt wurden. Wir lebten so, dass unser Tun nur dem Tod Frucht brachte. 6 Aber jetzt stehen wir nicht mehr unter dem Gesetz; wir sind tot für das Gesetz, das uns früher gefangen hielt. So dienen wir Gott in einem neuen Leben, das sein Geist in uns schafft, und nicht mehr auf die alte Weise nach dem Buchstaben des Gesetzes.

Wahrscheinlich haben Sie jetzt den Eindruck: das ist ganz schön kompliziert, und das stimmt. Es ist so kompliziert, dass Paulus zu einem Beispiel greift, das irgendwie schief ist. Ich benutze ja auch öfter mal Beispiele in meinen Predigten und weiß, wie schnell einem ein Beispiel aus dem Ruder laufen kann. Es ist tröstlich dass der Kollege Paulus da auch manchmal Probleme mit hat.

Er nimmt als Beispiel eine verheiratete Frau, und man merkt an seiner Wortwahl, dass die wahrscheinlich keine glückliche Ehe führt: wo unsere Bibeln »verheiratet« übersetzen, heißt es wörtlich: »mannunterworfen«. Also, man muss sich vorstellen, dass die an einen alten Tyrannen gebunden ist, einen Stiesel, der ihr das Leben schwer macht, und sie kommt da nicht raus. Sie muss für ihn arbeiten, sie muss seine Kinder zur Welt bringen. Aber eines Tages stirbt der Alte endlich, und jetzt ist sie frei und kann sich jemand anders suchen, mit dem sie ein besseres Leben führen kann. Und keiner kann mehr sagen: halt, das darfst du nicht.

Und nun nimmt Paulus diese Befreiung von einem ungeliebten Ehemann als Bild dafür, dass Christen frei sind vom Gesetz und sagt: seht ihr, schon das Gesetz weiß, dass der Tod alle Bindungen auflöst. Und ihr seid doch mit Christus gestorben – also ist eure Bindung an das Gesetz durch diesen Tod erledigt, ihr müsst euch nicht mehr für das Gesetz abrackern, ihr müsst nicht mehr seinen Nachwuchs gebären, ihr könnt mit Jesus Christus aufbrechen in ein neues Leben.

Schief ist bei diesem Vergleich natürlich, dass in dem Bild die Befreiung ja nicht dadurch passiert, dass die Frau stirbt, sondern der Mann. Aber ich verstehe, was Paulus meint: der Tod beendet alle Verpflichtungen, und wenn ich mit Christus gestorben bin (im Kapitel 6 war deutlich, dass das in der Taufe passiert), dann bin ich dem Gesetz nichts mehr schuldig, ich kann es hinter mir lassen wie einen ungeliebten Ehepartner, der endlich tot ist, und kann endlich aufbrechen in eine helle Zukunft mit der Liebe meines Lebens, Jesus Christus.

Wenn wir das verstanden haben, dann stellt sich die Frage: wieso ist eigentlich das Gesetz so ein ungeliebter, tyrannischer Kerl, in dessen Umkreis nichts gedeiht, und der sich die Lebenskräfte der Menschen aneignet? Dieses Bild vom ungeliebten Ehemann ist ja auch noch in den folgenden Versen präsent, und wenn Paulus davon spricht, dass wir in der Bindung an das Gesetz dem Tod Frucht brachten, dann klingt immer noch dieser Gedanke mit, dass jemand gezwungen ist, für einen tyrannischen Mann Kinder zur Welt zu bringen. Es ist gut möglich, dass Paulus die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies im Hinterkopf hat, wo Gott zu Eva sagt: dich wird es zu deinem Mann ziehen, aber er soll dein Herr sein. Die verkorkste Beziehungskiste zwischen Männern und Frauen dient als Bild für unser Verhältnis zu Gottes Geboten.

Ich glaube, wir müssen erst einmal realisieren, dass Paulus das wirklich so sagt und meint: ausgerechnet Gottes Gesetz weckt in uns sündige Leidenschaften, so dass nichts Gutes dabei herauskommt. Wieso denn das? Was kann damit gemeint sein?

Ich fange mit einem Beispiel an. Sie erinnern sich vielleicht an Sara Palin, die im letzten amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf als Vizepräsidentin der Republikaner kandidierte. Die hat sich besonders dadurch profiliert, dass sie sich heftig für christliche Werte und Moral einsetzte. Aber mitten im Wahlkampf stellte sich dann heraus, dass ihre Tochter gerade ein uneheliches Kind bekam und sie also ihre strikten Moralvorstellungen noch nicht einmal in ihrer eigenen Familie verwirklichen konnte.

Es geht mir jetzt nicht um diese Familie und erst recht nicht um die arme Tochter, sondern da wird ein Zusammenhang deutlich, der gar nicht so selten ist: gerade da, wo die Moral, und besonders die Sexualmoral, mit vielen Worten betont wird, da sieht es hinter den Kulissen oft ganz anders aus. Und zwar gerade deswegen, weil dauernd darüber geredet wird. Wer seinen Kindern dauernd erzählt, wie gefährlich Sex, Drogen oder was auch immer ist, der muss sich nicht wundern, wenn die auch dauernd darüber nachdenken und von diesem Thema nicht loskommen.

Oder nehmen wir ein ganz anders Problem: die Sicherheit. Seit es Terrorismus gibt, werden an vielen Stellen immer mehr Sicherheitskontrollen eingeführt. Viele Menschen denken intensiv darüber nach, wo es Sicherheitslücken geben könnte und versuchen, sie zu stopfen. Aber andererseits lenkt dieses intensive Bemühen um Sicherheit auch immer mehr Aufmerksamkeit auf das Thema, und dadurch kommen labile Menschen überhaupt erst auf dumme Gedanken. Ich zum Beispiel, wenn ich in die Situation komme, dass mein Koffer kontrolliert und auf Sprengstoff durchleuchtet wird, ich denke dann natürlich darüber nach, wie ich es anstellen könnte, die Sicherheitsleute zu überlisten und trotzdem Sprengstoff mit an Bord zu nehmen. Normalerweise gehört das nicht zu meinen Problemen, ganz abgesehen davon, dass ich in meinem Lebens bisher nur zweimal geflogen bin, aber wenn man da in der Warteschlange steht: ich mindestens werde dann auf solche Gedanken gestoßen: wie könnte ich da jetzt eine Bombe reinschmuggeln? Wo müsste ich die verstecken? Zum Glück habe ich viele andere wichtigere Probleme und gehe dieser Sprengstoff-Frage nicht weiter nach. Aber es reicht ja, wenn unter ein paar Millionen Passagieren auch nur einer Lust bekommt, es mal auszuprobieren.

Und so ist diese merkwürdige Funktion des Gesetzes, von der Paulus schreibt, mitverantwortlich dafür, dass unsere Welt durch all die Sicherheitskontrollen nicht wirklich sicher wird. Das Gesetz selbst produziert in Menschenherzen die Lust, es zu brechen, oder mindestens bringt es Menschen auf dumme Ideen, auf die sie sonst gar nicht gekommen wären.

Und schließlich gibt es viele Menschen, die in einem sehr entschiedenen religiösen oder jedenfalls moralischen Umfeld groß geworden sind, und die ein Leben lang damit beschäftigt sind, das irgendwie zu verkraften. Die einen werden 150%ig und setzen sich selbst und ihre Umgebung dauernd unter Druck, machen sich selbst und anderen ein schlechtes Gewissen und machen für alle das Leben schrecklich kompliziert. Die anderen rebellieren ihr Leben lang gegen ihre religiöse Prägung oder gegen ihr eingeimpftes schlechtes Gewissen und kommen davon nicht los. Das gibt es unter Katholiken genauso wie unter Evangelischen und auch dort, wo Kinder unter einem anderen moralischen Druck erzogen werden. Wenn Menschen ein ganz falsches Bild des Christentums haben und es deshalb ablehnen, dann sind nicht selten solche Karikaturen daran schuld. Denn die richten wirklich massiven Schaden an.

Ich habe das erst im Lauf der Zeit verstanden, wie sehr es das Weltbild verzerren kann, wenn man dauernd ein »Du musst!« oder ein »du darfst nicht!« zu hören meint, auch da, wo das eigentlich gar nicht gemeint war. Aber jemand, der von klein auf gelernt hat, immer mit diesem Gesetzes-Ohr zu hören, der kann das gar nicht mehr abschalten. Und das macht es ihm ganz schwierig, einfach so sein Leben zu führen und seine Mitmenschen nach seinen Kräften zu lieben und ein ausgeglichener Mensch zu sein. Immer kommt ihm die Frage dazwischen: tue ich das jetzt, weil ich es muss, oder weil ich es will? Wer hat mir was zu sagen? Was will ich selber? Wenn man stark mit dem Gesetz verbandelt ist, dann weiß man am Ende nicht mehr, was eigentlich die eigenen Stimme ist, und was die Stimme des Gesetzes und der Vorschriften ist.

Aus so einer unguten Liaison kann nichts Gutes entstehen. Ein schlechtes Gewissen ist einfach nur eins: schlecht. Und deshalb sagt Paulus: macht euch klar, dass ihr nicht mehr mit diesem Kontrolletti-Partner zusammen seid. Als Jesus gestorben ist, da ist auch diese Problematik gestorben. Und Paulus benutzt da eine interessante Formulierung: ihr seid für das Gesetz gestorben durch den Leib Christi. Das heißt einerseits: als Jesus leiblich getötet wurde, das war auch das Ende für das Gesetz. Er starb ja schließlich im Namen des Gesetzes, da hat man gesehen, dass das Gesetz es nicht schafft, das Böse zu verhindern, im Gegenteil. Wer von Jesus her denkt, der wird keine großen Hoffnung in die Verbesserung der Menschen auf dem Weg der Moral setzen.

Mit Leib Christi ist aber auch die Gemeinschaft all derer gemeint, die zu Jesus Christus gehören. Und so kann man auch sagen: wer in der Gemeinschaft Jesu erlebt, wie ein Leben aussieht ohne Kontrollsucht, ohne Leute, die dir ein schlechtes Gewissen machen wollen, ohne Drohung und Druck, der hat die Freiheit erlebt und ist hoffentlich ein für alle Mal davor geschützt, sich in den hoffnungslosen Verschlingungen des Gesetzes zu verfangen. Der hat diese Ambivalenz von Furcht und Rebellion hinter sich gelassen, dieses unfruchtbare Hin und Her zwischen Selbstanklage und Rummeckern an anderen und Aufstand gegen die ungeliebten Regeln.

Wer aber aufgehört hat, sich dauernd im Gegenüber zu Vorschriften und Regeln zu sehen und stattdessen sein prägendes Gegenüber in Jesus Christus hat, der kann erst produktiv mit der Welt umgehen. Wir sind frei, wir stehen auf einem neuen Boden, sagt Paulus. Wir sind nicht mehr in die kräftezehrenden Auseinandersetzungen mit dem »du sollst« und »du darfst nicht« verwickelt. Uns bewegt der Geist Gottes, und dadurch haben wir ein unverkrampftes Verhältnis zur Realität. Wir empören uns nicht gegen das Böse, sondern wir leben die Alternative. In so einem Leben kommt Gutes zustande. Und was das Gesetz nicht erreichte, das schafft Gottes Geist sozusagen mit links.

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