Auf die Macht achten

Predigt am 4. September 2011 zu Römer 6,12-18 (Predigtreihe Römerbrief 16)

12 Euer vergängliches Leben darf also nicht mehr von der Sünde beherrscht werden, die euch dazu bringen will, euren Begierden zu gehorchen. 13 Stellt euch nicht mehr der Sünde zur Verfügung, und lasst euch in keinem Bereich eures Lebens mehr zu Werkzeugen des Unrechts machen. Denkt vielmehr daran, dass ihr ohne Christus tot wart und dass Gott euch lebendig gemacht hat, und stellt euch ihm als Werkzeuge der Gerechtigkeit zur Verfügung, ohne ihm irgendeinen Bereich eures Lebens vorzuenthalten. 14 Dann wird nämlich die Sünde ihre Macht nicht mehr über euch ausüben. Denn ihr lebt nicht unter dem Gesetz; euer Leben steht vielmehr unter der Gnade.15 Was heißt das nun? Wenn unser Leben unter der Gnade steht und nicht unter dem Gesetz, ist es dann nicht gleichgültig, ob wir weiterhin sündigen? Niemals! 16 Überlegt doch einmal: Wenn ihr euch jemand unterstellt und bereit seid, ihm zu gehorchen, seid ihr damit seine Sklaven; ihr seid die Sklaven dessen, dem ihr gehorcht. Entweder ihr wählt die Sünde und damit den Tod, oder ihr wählt den Gehorsam Gott gegenüber und damit die Gerechtigkeit. 17 Aber Dank sei Gott, dass ´die Zeit vorbei ist, in der` ihr Sklaven der Sünde wart, und dass ihr jetzt aus innerster Überzeugung der Lehre gehorcht, die uns als Maßstab für unser Leben gegeben ist und auf die ihr verpflichtet worden seid. 18 Ihr seid von ´der Herrschaft` der Sünde befreit worden und habt euch in den Dienst der Gerechtigkeit stellen lassen.

Ist Ihnen aufgefallen, dass in diesen Versen dauernd von Macht- und Herrschaftsverhältnissen die Rede ist, davon dass jemand unter einer Herrschaft steht oder jemand anderem gehorsam oder dienstbar ist? In der Bibel wird oft darüber gesprochen, von wem Menschen abhängig sind, unter wessen Herrschaft jemand steht. Vielleicht denkt jetzt jemand: muss man denn immer über so was Gefährliches wie Macht und Herrschaft und Abhängigkeit und die entsprechenden Konflikte sprechen? Kann man nicht einfach sagen: seid nett zueinander?

Aber in der Bibel geht es immer wieder um diese harten Themen, einfach deswegen, weil die Bibel realistisch ist und lieber über die echte Welt spricht als über eine rosarote Traumwelt. Und in der echten Welt ist es nunmal so, dass die entscheidenden Fragen eigentlich immer damit zusammenhängen, wer welche Macht hat und wer von wem abhängig ist. Wer hat das Geld, wer hat das Öl, wo stehen die Gewehre, wo kreuzen die Flugzeugträger, wer kontrolliert die Fernsehsender? Um solche Fragen geht es in der echten Welt dauernd, auch wenn wir es nicht immer mitbekommen; und Gott will mit der echten Welt zu tun haben, nicht mit der rosaroten Traumwelt, die sich oft wie ein Schleier vor die echte Welt legt.

Im Großen und im Kleinen ist unsere Welt von Macht geprägt. Wir spüren das nicht immer, weil wir uns so daran gewöhnt haben. Aber wehe, du kommst mit den Machtsphären in Konflikt, vielleicht ganz ungewollt und im Kleinen, du grüßt jemanden nicht, den du grüßen müsstest, du pflegst deinen Garten nicht so, wie du es solltest, du gibst jemandem nicht die Aufmerksamkeit, die er beansprucht, du beantragst nicht die Genehmigung, um die du rechtzeitig nachsuchen solltest – und schon hast du Ärger am Hals. Das kann ganz unterschiedlich sein, je nachdem, in welchem politischen System du lebst, ob du auf dem Land oder in der Stadt lebst, aber überall gibt es ein unheimlich kompliziertes Geflecht von Machtsphären, die miteinander koalieren und konkurrieren, und wir müssen sehen, wie wir uns da durchschlängeln.

Das kriegen wir meistens relativ gut hin, weil wir von klein auf gelernt haben, dass man sich mit den Leuten, die stärker sind, besser nicht anlegt. Oder nur dann, wenn man einen großen Bruder hat, den man zu Hilfe holen oder mit dem man wenigstens glaubhaft drohen kann.

Das Komplizierte dabei ist aber, dass da nicht immer jemand von außen kommt und uns Schläge androht, wenn wir nicht tun, was er will, sondern jede Macht sitzt auch immer irgendwo in uns drin. Sie sitzt in unserem Kopf, in unserem Herzen, sie hat bei uns sozusagen einen Fuß in der Tür, und nur dann hat sie wirklich Macht über uns.

Wenn also dein Nachbar ankommt und dich mehr oder weniger diskret auffordert, doch mal was gegen das Unkraut in deinem Garten zu tun, dann kann es sein, dass es dir sehr peinlich ist und du so schnell wie möglich mit der Hacke oder mit der chemischen Keule in den Garten läufst und den Löwenzahn platt machst. Es kann aber auch sein, dass du denkst: was will denn der Dorftrottel von mir? Jetzt lasse ich es gerade wachsen, damit der merkt, dass er mir nichts zu sagen hat. Je nachdem, wie du erzogen worden bist und zu welcher Kultur du gehörst, hat der Nachbar mehr oder weniger Macht über dich.

Macht ist also ein sehr kompliziertes Gebilde, und wir sind nicht unbedingt gewöhnt, darüber nachzudenken, gerade, weil es uns so vertraut ist. Und wir haben auch ein Gefühl dafür, dass es nicht ungefährlich ist, darüber nachzudenken oder sogar darüber zu reden, selbst in einem ziemlich freien Land wie unserem nicht. Deswegen reden viele Menschen im Privaten nur ungern über Religion und Politik, weil sie Angst haben, dass da die großen Konflikte auch noch in ihren Alltag hineinkommen, und sie denken: mir reicht schon der Ärger mit Mutters Geburtstag, da muss ich nicht noch Streit wegen Atomstrom haben.

Wir sind also oft nicht gewohnt, intensiv über Macht nachzudenken oder gar über das Thema zu sprechen, und das ist einer der Gründe, warum die Bibel für viele schwer verständlich ist. In der Bibel geht es dauernd um Macht. Wer hat die wirkliche Macht in der Welt? Gott? Die Menschen? Der Satan? Vorhin haben wir in der Lesung (Matthäus 12,22-30) z.B. von den Dämonenaustreibungen Jesu gehört, wo es darum geht, wie Jesus eine fremde Macht vertreibt, die sich in einem Menschen eingenistet hat.

Hier bei Paulus wird das Problem abstrakter diskutiert. Aber es geht jedes Mal um die Frage: unter welcher Herrschaft steht ein Mensch? Durch die Taufe wird ein Mensch aus der Beherrschung durch die Mächte der Welt herausgenommen und unter die Herrschaft Jesu gestellt. Aber das heißt noch nicht, dass die alten Mächte dann keinen Einfluss mehr auf ihn hätten. Sie müssen auch aus unserem Kopf und unserem Herzen heraus, sonst reden sie immer noch mit. Paulus sagt sogar: es kommt in erster Linie darauf an, wer Einfluss hat auf euren Kopf und euer Herz, das ist noch wichtiger als die äußere Macht.

Ich erzähle ein Beispiel, an dem man sich das klar machen kann. Da wächst ein Kind auf in einer Familie, die von Rücksichtslosigkeit und Gewalt geprägt ist. Immer wieder liest man in der Zeitung solche Horrorgeschichten, und leider gibt es noch viel mehr davon, die gar nicht ans Licht kommen. Das Kind lernt von Anfang an: das Leben ist ein Kampf, der Stärkste gewinnt, du musst um deinen Platz kämpfen, du kannst dich auf niemanden verlassen, du musst um dein Essen kämpfen, du kannst jederzeit grundlos geschlagen werden, du kriegst nichts geschenkt. Zuerst ist das Kind nur Opfer, aber irgendwann, wenn es stärker geworden ist, gibt es das an andere weiter, was ihm selbst angetan worden ist.

Eines Tages wird endlich das Jugendamt auf die Familie aufmerksam, den Eltern wird das Sorgerecht entzogen und die Kinder kommen in Pflegefamilien. Auf einmal lebt das Kind in einer Umgebung, wo man nicht geschlagen wird, wo man so viel essen kann, wie man will, wo es sein eigenes Zimmer hat. Es hat eigene Kleidung und eigene Spielsachen und muss keine Angst haben, dass jemand sie ihm weg nimmt.

Ist das jetzt das Happyend? Sagt jetzt das Kind: na endlich, das ist das Leben, auf das ich immer gewartet habe? Wer mit solchen Kindern zu tun hat, weiß, dass jetzt die Probleme erst anfangen. Denn was das Kind in der Gewaltfamilie gelernt hat, das steckt ja immer noch in ihm drin, und für viele ist das ein ganz mühsamer Prozess, nach und nach umzulernen. Zu lernen, dass man nicht alles, was da ist, auf isst, aus Angst, so bald nichts wieder zu bekommen. Das es andere Konfliktlösungen gibt als Gewalt. Und vor allem: zu lernen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die verlässlich sind und denen man wirklich vertrauen kann, auch wenn sie nicht vollkommen sind. Das ist das Schwerste, und mancher lernt das sein Leben lang nicht wirklich.

Wer das nicht selbst erlebt hat, der denkt vielleicht: wieso, spätestens nach ein paar Wochen müsste so ein Kind doch merken, dass in der neuen Familie andere Regeln gelten! Aber für den, der mit so einem ganz anderen Denksystem aufgewachsen ist, ist das eine fundamentale Umstellung. 1000 Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten verbinden ihn noch mit der alten Welt, aus der er kommt, das sind nicht ein paar Irrtümer, die man schnell korrigieren könnte, sondern ein ganzes Weltbild, das man austauschen muss. Viele schaffen es trotzdem erstaunlich gut, die neuen Regeln zu begreifen, vor allem, wenn es früher wenigstens irgendeinen Menschen gegeben hat, eine Oma oder einen Lehrer, dem sie vertrauen konnten. Aber es ist und bleibt eine richtig schwere Aufgabe.

Und nun macht euch klar: wer Christ wird, hat genau diese Aufgabe vor sich – die ganzen Selbstverständlichkeiten auszutauschen, die bis dahin für ihn gegolten haben. Vielleicht auf einem anderen Niveau, aber es ist genau diese Aufgabe. Paulus sagt: realisiert, dass sich die Umstände geändert haben! Jesus ist gestorben und auferstanden, ihr gehört zu ihm, seit eurer Taufe lebt ihr in seinem Machtbereich – und jetzt macht euch auch klar, was da passiert ist. Durchdenkt euer ganzes Leben neu von dieser Tatsache aus. Lasst euch in keinem Bereich eures Lebens mehr zu Werkzeugen des Unrechts machen. Ihr müsst nicht mehr euch selbst und andere zerstören – denn die Umstände haben sich geändert.

Wenn jemand sich das klar macht, dass er jetzt mit dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus verbunden ist, dann verschieben sich die Dinge im Großen und im Kleinen – und was sich für den einen klein anfühlt, kann für den anderen eine große Sache sein. Wenn du durch Jesus angeschlossen bist an das große Leben Gottes, an seinen Segen, dann musst du dir die Welt nicht mehr wie eine Beute unter den Nagel reißen. Du musst andern nichts klauen – aber du musst dir auch nicht ihre Zeit und Aufmerksamkeit erzwingen, weder indem du sie voll laberst, noch indem du Streit vom Zaun brichst. Jesus ist der Herr der Welt – und du musst die Welt nicht kontrollieren, indem du dir pausenlos Sorgen machst oder indem du anderen alles Mögliche vorschreibst. Jesus beschenkt dich mit der Liebe Gottes – und du kannst dich deshalb auch an der unvollkommenen Liebe unvollkommener Menschen freuen und dafür dankbar sein. So viele Menschen haben sich daran gewöhnt, dass Beziehungen irgendwann zu Bruch gehen, und sie erwarten nichts anderes mehr und nehmen deshalb schon bei kleinen Konflikten Reißaus. Aber bei Jesus lernen wir eine Liebe kennen, die viel Geduld hat und nicht aufgibt und belohnt wird. Jesus ist beständig und treu – und wenn das auf uns übergeht, dann hält es unsere Launen in Schach.

Das sind nur ein paar Beispiele. Hier im Kapitel 6 geht es Paulus nicht so sehr um die Einzelheiten eines gesegneten Verhaltens (die behandelt er an anderen Stellen), sondern er beschreibt den grundlegenden Rahmen, in dem wir dieses neue Verhalten lernen. Es geht immer darum: für dich hat etwas Neues angefangen, und jetzt halte nicht fest an den Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten, die dich bisher geprägt haben. Füll die neue Rolle aus, die du bekommen hast. Wachse rein in deinen neuen Status. Sei nicht mehr abhängig von den alten Herren in deinem Leben. Du hast einen neuen Herrn, du lebst in einer neuen Familie, und da gelten andere Regeln.

Jetzt könnte einer sagen: ich will aber überhaupt keinen Herrn haben. Ich will ganz frei leben. Unsere ganze Gesellschaft lebt mit diesem Traum: frei sein, unabhängig sein, von niemandem gelenkt sein. Und, liebe Freunde, an diesem Punkt muss man ganz klar sein: das gibt es nicht. Das funktioniert einfach nicht. Das ist Träumerei.

Man kann sich das am deutlichsten klar machen an den Jugendlichen, die von zu Hause aufbrechen und meinen: ich will mir von niemandem mehr Vorschriften machen lassen, ich will selbst über mein Leben bestimmen, und die dann in Abhängigkeit von Freunden, von Handyanbietern, manchmal von Drogen geraten, gegenüber denen die Regeln ihrer Eltern harmlos und liberal waren. Aber das ist nur ein besonders klares Beispiel. Keiner von uns ist stark genug, um unabhängig und frei einfach nur über sein Leben zu bestimmen. Allein schon, was wir uns für unser Leben wünschen, haben wir uns von anderen abgeguckt. Und wenn du z.B. teure Sachen haben willst, dann musst du dafür arbeiten oder stehlen. Du hast nicht die Freiheit, zu sagen: ich will das aber geschenkt bekommen. Das funktioniert nicht.

Die Welt ist so eingerichtet, dass wir immer im Dienst von irgendetwas oder irgendjemandem stehen. Menschen sind so gebaut, dass sie immer irgendwelche Herren haben. Aber es gibt schlechtere und bessere Herren. Und es gibt Jesus Christus, den Herrn, der uns nicht ausnutzt und missbraucht, sondern der uns mit Freiheit beschenkt. Jesus gibt uns seine Stärke, seine Auferstehungskraft, damit wir nicht den Tyrannen zum Opfer fallen, die Menschen missbrauchen, ihnen die Lebenskraft nehmen und sie am Ende zerstört wegwerfen. Gegen sie stärkt Jesus uns den Rücken, und je mehr wir lernen, nach seinen Regeln zu leben, um so weniger können sie uns anhaben.

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