»In Christus«: mit erhobenem Haupt

Predigt am 14. August 2011 zu Römer 6,6-11 (Predigtreihe Römerbrief 15)

6 Was wir verstehen müssen, ist dies: Der Mensch, der wir waren, als wir noch ohne Christus lebten, ist mit ihm gekreuzigt worden, damit unser sündiges Wesen unwirksam gemacht wird und wir nicht länger der Sünde dienen. 7 Denn wer gestorben ist, ist vom Herrschaftsanspruch der Sünde befreit. 8 Und da wir mit Christus gestorben sind, vertrauen wir darauf, dass wir auch mit ihm leben werden. 9 Wir wissen ja, dass Christus, nachdem er von den Toten auferstanden ist, nicht mehr sterben wird; der Tod hat keine Macht mehr über ihn. 10 Denn sein Sterben war ein Sterben für die Sünde, ein für allemal; sein Leben aber ist ein Leben für Gott. 11 Dasselbe gilt darum auch für euch: Geht von der Tatsache aus, dass ihr für die Sünde tot seid, aber in Jesus Christus für Gott lebt.

In diesem Text aus dem Römerbrief laufen ganz viele Fäden aus dem Denken von Paulus zusammen und verknoten sich auf ziemlich verschlungene Weise. Das heißt aber auch: wenn wir das verstanden haben, dann verstehen wir einen zentralen Bereich seiner Gedanken. Es ist keine leichte Kost, aber es lohnt sich, der Sache gerade hier auf den Grund zu gehen. Und ich werde versuchen, alles Stück für Stück auseinander zu legen. Es sind nur vier Punkte, aber die haben es in sich.

Also, lasst uns starten mit:

1. Die Macht des Sündensystems

Paulus spricht über Sünde nicht in der Mehrzahl, sondern in der Einzahl. Er denkt also nicht an einzelne Fälle von Fehlverhalten, dass wir etwa heute morgen muffelig waren und unserem Ehepartner oder andern Familienmitgliedern eine unfreundliche Antwort gegeben haben. Oder dass wir schwarz gefahren sind oder das Wechselgeld behalten haben, das uns die Frau an der Kasse versehentlich zu viel herausgegeben hat. Das sind einzelne Sünden, deshalb die Mehrzahl, aber »die Sünde« in der Einzahl geht tiefer. »Die Sünde« ist ein allumfassendes System, in dem die Menschheit gefangen ist; es ist eine Kultur, die uns alle geprägt hat; eine Lebenshaltung, die man in der Organisation unseres ganzen Zusammenlebens an vielen Stellen spürt.

Deswegen kannst du nicht einfach beschließen, ab sofort nicht mehr zu sündigen. Das funktioniert nicht, weil auch »die Sünde« nicht auf einen bewussten Entschluss von dir zurückgeht, wo du dich irgendwann mal entschieden hättest »ich will ab jetzt so richtig böse sein«. Du hast dich heute morgen vermutlich nicht bewusst entschlossen »na warte, der erste, der mir heute über den Weg läuft, der kriegt meine schlechte Laune ab.« Nein, das ist irgendwie so gekommen. Du wolltest es nicht unbedingt, aber es ist passiert, ein Wort gab das andere, du weißt nicht, wieso. Vielleicht bist du in einer Familie aufgewachsen, in der es als selbstverständlich angesehen wurde, dass man seine schlechte Laune an anderen auslässt. Vielleicht lag es an etwas anderem, egal, es ist einfach so gekommen.

Dieses Muster: ich will es eigentlich gar nicht, es kommt einfach so, das ist immer ein Hinweis auf das Sündensystem. So funktioniert es, und das gilt erst recht für all die großen, zerstörerischen Formen von Sünde. Keiner von uns will, dass die Erde sich erwärmt und die Gletscher und Polkappen schmelzen, aber wir wollen auch nicht nur mit dem Fahrrad fahren, und so tragen wir alle dazu bei. Keiner von uns will, dass die Finanzmärkte ganze Länder unter Druck setzen, aber wenn wir ein paar Euro auf der Bank haben, dann kann es gut sein, dass dieses Geld um 5 Ecken herum auch dazu beiträgt, dass ganze Volkswirtschaften ruiniert werden.

Nach diesem Schema: eigentlich wollen wir das gar nicht, aber wir stecken in etwas drin, gegen das wir nicht ankommen – funktioniert die Macht des Sündensystems. Aber: diese Macht hat einen einzigen Menschen nicht unter Kontrolle bekommen, nämlich Jesus. Und deshalb jetzt

2. Jesus hat sich der Sünde erfolgreich widersetzt

Dazu müssen wir uns erinnern an diese Szene in der Wüste, wo Jesus dem Satan begegnet, und der will ihn locken, er hofft, dass es bei Jesus eine dunkle Seite gibt, an der er ihn packen kann.

»Mach diese Steine zu Brot,« sagt er zu ihm, »dann wirst du nie Mangel haben, und die Menschen werden dir nachlaufen.«

»Spring von der Tempelzinne,« sagt er, »dann bist du berühmt, alle werden dich bewundern, und das fühlt sich so toll an!«

»Knie vor mir nieder, bete mich an,« sagt er, »dann gebe ich dir die Macht über die ganze Welt. Du kannst alles erreichen mit unbegrenzter Macht und meiner Hilfe!«

Das sind die drei großen Versuchungen: Reichtum, Ruhm und Macht. Der Teufel sagt: du kannst nicht leben ohne die Sicherheit von Besitz, ohne Ansehen bei Menschen und ohne ein Mindestmaß von äußerem Schutz. Und alle Menschen glauben das. Und das zieht uns in das Sündensystem hinein, damit fängt es an, so hat der Versucher bei uns seinen Fuß in der Tür. Aber Jesus sagt: ich brauche das nicht. Ich habe den Vater im Himmel und seinen Segen, davon lebe ich; ich habe den Heiligen Geist, der mir sagt, wer ich bin, und dann brauche ich nicht den Beifall von Menschen; ich habe die Engel, die mir helfen, wenn ich etwas brauche. Damit lebe ich, und das reicht.

Keiner von uns hätte diese Sicherheit aufgebracht, aber so hat Jesus den Teufel vertrieben. Und dann kamen die Engel und brachten ihm, was er brauchte.

Aber der Teufel kam nach drei Jahren zurück. Er sorgte dafür, dass Jesus sterben musste, zu Tode gequält an einem römischen Kreuz. Aber er wusste nicht, dass er sich damit selbst eine Grube grub, in die er hinein plumpsen sollte. Er kam zu Jesus und fragte ihn sozusagen durch das Kreuz, durch die Qualen: »na, glaubst du jetzt immer noch, dass man leben kann ohne den Schutz von Reichtum, Ruhm und Macht? Jetzt spürst du, wie es sich lebt ohne diesen Schutz! Du Phantast, vertraust du jetzt immer noch auf Gott? Der hilft dir nicht, du hast dich verrechnet, du bist ein Träumer, und ich bin der Realist!

Aber Jesus vertraute seinen Geist Gott an und starb.

Und dann passierte zweierlei:

– Gott ließ Jesus auferstehen und zeigte damit, dass er den rettet, der auf ihn vertraut; er stellte sich zu Jesus und zeigte, dass Jesus der Realist ist, weil er mit der Wirklichkeit des lebendigen Gottes rechnet.

– Und von nun an hatte der Teufel keine Chance mehr bei Jesus. Er konnte ihn nicht mehr versuchen, und er konnte ihn nicht mehr töten. Man kann einen Menschen nur einmal töten, und wenn er tot ist, kann man ihn auch nicht mehr in Versuchung führen. Auf Golgatha, bei der Kreuzigung Jesu, hatte der Teufel seine letzte Chance, und die hat er verspielt. Aus und vorbei. Jesus hat seinen Verlockungen ebenso widerstanden wie seinem Druck, und durch seinen Tod ist das ein für allemal besiegelt.

Das meint Paulus, wenn er sagt: Der Tod Jesu war ein Sterben für die Sünde, ein für allemal. Das Sündensystem hatte seine Chance, Jesus unter Kontrolle zu bringen, aber das ist vorbei. Die Chance ist vertan. Satan hat die entscheidende Schlacht verloren. Jesus war stärker. Jesus ist frei von der Macht der Sünde.

Und jetzt ist die Frage: was haben wir davon? Kommt das irgendwie bei uns an?

Und das ist unser nächster Hauptpunkt:

3. Weil wir getauft sind, sind wir »in Christus«.

Paulus redet in diesem ganzen Kapitel immer wieder von der Taufe, und er sagt, dass wir dadurch »in Christus« sind, also so eng mit Christus verbunden, dass das, was für ihn gilt, auch für uns gilt. Das ist für uns vielleicht am schwersten nachzuvollziehen: wie kann denn das, was ein anderer getan hat, auch für mich gelten? Wenn Jesus frei ist von der Macht des Sündensystems, schön für ihn, aber wieso bin ich es dann auch, nur weil irgendwann mal ein Pastor Wasser über meinen Kopf gespritzt hat?

Aber wir kennen das eigentlich auch, dass sich für uns etwas ändert, weil wir zu anderen Menschen dazu gehören. Denken Sie mal daran, als vor 50 Jahren die Mauer durch Berlin gebaut wurde, da lebten die Deutschen in Ost und West auf einmal in zwei getrennten Systemen. Es war ziemlich zufällig, wer sich auf welcher Seite der Mauer wiederfand. Nur weil ich in den Westen gehörte, durfte ich über die Grenze zurück, wenn ich dort drüben mal auf Besuch war, und meine Gastgeber nicht. Ich war doch kein besserer oder anderer Mensch als meine Gastgeber in der DDR, aber ich durfte in den Westen zurück, und sie wären in große Gefahr gekommen, wenn sie es nur versucht hätten.

Die ostdeutschen Grenzer hatten die Macht, Westdeutsche zu schikanieren, ihre Autos zu durchsuchen, sie zu bedrohen und einzuschüchtern, aber sie hatten nicht die Macht, uns dort drüben zurückzuhalten. Sie hatten noch nicht einmal die Macht, von mir Informationen über meine Gastgeber zu bekommen, auch wenn sie das manchmal versucht haben. Obwohl einer mit Maschinenpistole fünf Schritte von mir entfernt stand, hatten sie nicht die Macht, mich festzuhalten. Und das alles nur, weil ich den Ausweis der Bundesrepublik besaß, weil ich in den freien Westen gehörte.

So ähnlich muss man sich das vorstellen, dass die Christen »in Christus« sind: dass wir zu ihm gehören und uns deshalb zugute kommt, dass Christus frei ist von der Macht des Sündensystems. Der Böse kann versuchen, uns einzuschüchtern, er kann uns bedrohen und schikanieren, und das tut er auch, aber er hat nicht mehr die Macht, uns festzuhalten. So wie ich hätte sagen können: Moment mal, ich bin Westdeutscher! so können wir zum Versucher sagen: Moment mal, ich gehöre zu Christus, und da gelten andere Regeln! Ich muss kein Morgenmuffel sein, ich muss auch nicht irgendwie meine Tage träge vertun. Für mich baut ihr keine Massenviehställe, für mich spekuliert ihr nicht an der Börse. Das ist eure Verantwortung, nicht meine. Für mich müsst ihr keine Regenwälder abholzen. Ich muss auch nicht die Problematik meiner Familie an die nächste Generation weiterreichen. Da habe ich keine Verpflichtungen. Mit mir nicht! Ich bin mit Christus gestorben und ihr habt keinen Anspruch mehr auf meine Komplizenschaft.

Deshalb ist die Taufe in ihrer ursprünglichen Form eben ein Todessymbol: du wirst unter Wasser getaucht, und das ist, als ob du begraben wirst, es ist alles aus, tot, vorbei – niemand hat noch irgendeinen Anspruch an einen Toten. Vielleicht an die Erben, aber nicht an den Toten. Aber dann tauchst du wieder aus dem Wasser auf und sagst: ätsch, ich lebe wieder, ich lebe jetzt mit Christus, und du gehst fröhlich deiner Wege in ein neues Leben, wo die Sünde keinen Fuß mehr bei dir in der Tür hat.

Jetzt ist natürlich die Frage: wird man denn durch die Taufe sündenlos? Es gibt doch einen Haufen böser Menschen, die irgendwann mal getauft worden sind. Bei dem Mafia-Oberboss, den sie vor ein paar Jahren verhaftet haben, hat man einen Haufen Bibeln gefunden. Das ist doch nicht so einfach!

Ja, das stimmt, und deshalb kommt jetzt

4. Lebe »in Christus«: auf der Grundlage, die Christus für dich gelegt hat!

Ich möchte noch mal das Beispiel mit der DDR weiterführen. Dass ich einen westdeutschen Pass hatte, machte mich nicht zu einem besseren Menschen. Und trotzdem hat es etwas mit mir gemacht. Als wir bei den Vopos gewesen sind, um mich anzumelden – Westbesuch musste ja immer gleich bei der Polizei angemeldet werden – da sagte hinterher der Pastor, bei dem ich zu Besuch war: Ihr Westdeutschen, ihr geht da ganz anders rein als wir. Viel unbekümmerter, sorgloser, mit erhobenem Haupt. Und wir haben Herzklopfen, wenn wir da hin müssen.

Wohlgemerkt, das sagte er nicht über mich persönlich, sondern über alle Westdeutschen. Das war nicht mein persönlicher Mut. Und mir selbst ist das gar nicht aufgefallen. Ich bin da reingegangen, wie ich eben in eine Behörde reingehe. Nervig, aber das geht auch wieder vorbei. Und trotzdem, da hat sich diese abstrakte Tatsache, dass ich einen westdeutschen Pass hatte, doch in meinem Verhalten niedergeschlagen. Ohne dass ich etwas dafür getan hätte.

Seit damals weiß ich das aber. Und jetzt gehe ich erst recht mit erhobenem Haupt in jede Behörde. Und wenn mir einer auf dem Amt dumm kommt, ich bin darauf vorbereitet, zu sagen: Moment mal, ich bezahle mit meinen Steuern für Ihr Gehalt, und das nicht zu knapp. Ihr Ton muss sich deutlich ändern.

Ich hab das so noch nie sagen müssen, entweder, weil die gemerkt haben, dass ich vorbereitet bin, oder weil die Beamten bei uns sowieso keine Vopos sind, aber verstehen Sie: Seit mir das bewusst geworden ist, was für ein Vorrecht das ist, mit erhobenem Haupt eine Behörde zu betreten, kann ich das auch viel besser.

Und genauso ist das damit, dass wir in Christus sind: wenn du weißt, dass du mit Christus für das ganze Sündensystem gestorben bist, dass die kein Recht mehr auf dich haben, dass du zu nichts verpflichtet bist, dass du dir kein schlechtes Gewissen einreden lassen musst – dann gehst du anders durch die Welt. Nicht mehr pessimistisch und mit dem Gefühl: ach, was bin ich doch für ein kleines Licht. Sondern mit erhobenem Haupt. Nun gut, manchmal vergessen wir das und müssen manchmal daran erinnert werden. Wir müssen lernen und vorbereitet sein. Es ist als ob du einen Pullover anziehst, der dir anfangs viel zu groß ist, weil er vom großen Bruder stammt. Und du denkst: du meine Güte, wo sollen denn die ganzen Muskeln herkommen, um diesen Pullover zu füllen! Aber die Erwachsenen sagen: da wächst er rein. Und sie haben Recht. Du wächst da rein, und er passt dir immer besser.

So sollen wir da hineinwachsen, dass wir in Christus sind, in die Freiheit, die Jesus für sich und für uns erkämpft hat, erlitten hat, erworben hat. Und je besser wir da hineingewachsen sind, je stärker wir von dieser Grundlage aus leben, um so weniger werden die Vopos dieser Welt uns noch einschüchtern können. Je länger, je mehr werden sie vor uns erheblich Respekt bekommen.

Und so wollte Jesus das auch.

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