Worum es im »Gericht« geht

Predigt am 16. Januar 2011 zu Römer 2,1-11 (Predigtreihe Römerbrief 04)

1 Deshalb darfst du allerdings nicht meinen, du seist entschuldigt, wenn du das alles verurteilst. Denn wer du auch bist: Indem du über einen anderen zu Gericht sitzt, sprichst du dir selbst das Urteil, weil du genau dasselbe tust wie der, zu dessen Richter du dich machst. 2 Nun wissen wir aber, dass Gott die zu Recht verurteilt, die jene Dinge tun; wir wissen, dass sein Urteil der Wahrheit entspricht. 3 Und da meinst du, du könnest dem Gericht Gottes entgehen, wo du doch genauso handelst wie die, die du verurteilst? 4 Oder betrachtest du seine große Güte, Nachsicht und Geduld als selbstverständlich? Begreifst du nicht, dass Gottes Güte dich zur Umkehr bringen will? 5 Doch du bist verhärtet; dein Herz ist nicht zur Umkehr bereit. So sorgst du selbst dafür, dass sich Gottes Zorn gegen dich immer weiter anhäuft, bis er schließlich am »Tag seines Zorns« über dich hereinbricht – an dem Tag, an dem Gott Gericht hält und für alle sichtbar werden lässt, dass sein Urteil gerecht ist. 6 Gott wird jedem das geben, was er für sein Tun verdient hat. 7 Denen, die unbeirrbar tun, was gut ist, und alles daran setzen, an ´Gottes` Herrlichkeit, Ehre und Unvergänglichkeit teilzuhaben, wird er das ewige Leben geben. 8 Diejenigen dagegen, die sich in selbstsüchtiger Gesinnung weigern, der Wahrheit zu gehorchen, und sich stattdessen zu gehorsamen Werkzeugen des Unrechts machen lassen, wird Gottes Zorn in seiner ganzen Härte treffen. 9 Ja, Not und qualvolle Angst wird das Los jedes Menschen sein, der tut, was böse ist. Das gilt zunächst für die Juden, es gilt aber auch für jeden anderen Menschen. 10 ´Ewige` Herrlichkeit jedoch und Ehre und Frieden werden jedem gegeben, der tut, was gut ist. Auch das gilt zunächst für die Juden und gilt ebenso für alle anderen Menschen. 11 Denn Gott urteilt nicht parteiisch.

»Können wir ihm nicht noch eine Chance geben?« sagte der Vorarbeiter zum Chef. Es ging um den jungen Mann, der seit einem Monat neu im Betrieb war. Er machte sich eigentlich ganz gut, aber es gab ein Problem mit ihm. Er hatte ein aufbrausendes Temperament. Wenn er sich ungerecht behandelt fühlte – und das ging schnell – dann ging er unkontrolliert in die Luft, und dann flogen auch schon mal Werkzeuge und andere Dinge durch die Gegend.
Der Vorarbeiter hatte ihn in einem ruhigen Moment beiseite genommen, hatte ihm einen Kaffee eingeschenkt und mit ihm gesprochen, wie ein älterer Bruder mit dem jüngeren. So geht das nicht, hatte er ihm gesagt. Du musst lernen, dich zu beherrschen. Wir können über alles reden, aber so nicht. Und wenn das noch mal passiert, muss ich es dem Chef sagen.
Aber es passierte wieder. Und gleich danach noch einmal. Und der Vorarbeiter ging schweren Herzens zum Chef. Eigentlich mochte er den Jungen ja. Aber jetzt ging es nicht mehr anders. Der Chef war sowieso schon sauer, dass es seit Wochen ein Problem gab, von dem er nichts wusste. Er wollte den Kerl sofort entlassen. Aber der Vorarbeiter blieb beharrlich. »Können wir ihm nicht noch eine Chance geben? Ich könnte noch mal mit ihm sprechen und ihm den Ernst der Lage erklären. Vielleicht schafft er es ja doch noch, sich zusammen zu reißen.«
Aber es nützte nichts. Drei Tage später, in der Frühstückspause, stieß ein Kollege den jungen Mann aus Versehen an, als der gerade einen vollen Becher mit heißem Kaffee in der Hand hatte. Ein Teil des Kaffees schwappte ihm auf die Hose. Sofort flammte seine Wut wieder auf. Er schrie den Kollegen an, klatschte ihm den Becher mit dem restlichen Kaffee ins Gesicht und boxte ihn derbe in den Magen. Das war ein sehr trauriger Augenblick für den Vorarbeiter, aber ihm war sofort klar, dass der junge Mann damit seine letzte Chance verspielt hatte. Er hatte seine Chance bekommen, aber er hatte alles nur schlimmer gemacht.
Wenn Paulus über Gottes Gericht schreibt, dann hat er ein Bild von Gott im Sinn, das sich gar nicht so sehr von dem Vorarbeiter in dieser Geschichte unterscheidet. Gott ist kein missmutiger Tyrann, der nur darauf wartet, dass er einen Menschen bei einem Fehler ertappt, damit er ihn zur Rechenschaft ziehen kann. Gott ist freundlich. Gott ist wohlmeinend, er kümmert sich um uns und versucht, für uns Wege zu finden, wie wir uns zum Besseren entwickeln können. Wenn das nicht so wäre, dann wäre die Menschheit schon längst zu Grunde gegangen.
Gott ist geduldig. In der Regel kriegen wir nicht die Folgen unseres Tuns aus heiterem Himmel zu spüren. Es gibt Warnungen. Es gibt diese Momente, wo Menschen verstehen: so kann ich nicht weitermachen. Ich muss weniger trinken. Ich muss mich gesünder ernähren. Ich darf meine Laune nicht mehr so an meinem Ehepartner auslassen. Ich muss meine Zunge wirklich im Zaum halten.
Und auch für ganze Gemeinschaften von Menschen gilt das, dass sie in manchen Augenblicken innehalten und spüren: so können wir nicht weitermachen. Ein Lebensmittelskandal nach dem anderen. Immer mehr ungewöhnliche Wetterlagen. Ein vergiftetes gesellschaftliches Klima, das am Ende zu Waffengewalt führt. Wieder ein Amoklauf in einer Schule. Immer mehr Kinder, die sich nur mit Mühe im Leben zurechtfinden. Eine katastrophale Wirtschaftskrise, an der wir gerade noch mal vorbeigeschlittert sind. Da muss sich was ändern. Das kann nicht einfach so weiterlaufen.
Aber dann passiert es: dieser Moment der Einsicht geht vorbei, und es geht alles weiter wie vorher; offensichtlich war es ja doch nicht so ernst, wie es schien. Der Magen beruhigt sich wieder. Der Partner ist wieder nett. Von ein bisschen Dioxin im Ei stirbt man doch nicht gleich. Auf die Wirtschaftskrise folgt eine rasante Konjunkturerholung. Und vielleicht kann man ja doch einfach weitermachen wie bisher, und all die Warnungen waren nur dummer Zufälle. Einzelfälle eben.
Aber das ist ein Missverständnis von Gottes Geduld. Er gibt uns immer wieder eine neue Chance, aber das geht nicht ewig so weiter. Wir können nicht Gottes Geduld ausnutzen und eine Veränderung auf den St. Nimmerleinstag verschieben. Gott ist nicht »nett« wie ein Opa, der schon nicht mehr ganz durchblickt und deshalb immer nur mild lächelt. Das Sprichwort sagt: »Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht.« Wenn wir weiter machen wie bisher, dann ist irgendeine Chance tatsächlich die letzte. Nach irgendeinem Streit, zieht der Partner unwiderruflich aus. Irgendwann ist der Führerschein endgültig weg. Irgendein Herzinfarkt ist doch der letzte. Irgendein Störfall ist nicht mehr beherrschbar. Eines Tages bricht tatsächlich Krieg aus. Irgendwann ist das Klima so ruiniert, dass ganze Länder unbewohnbar werden. Und eines Tages werden wir sterben, und dann werden wir vor Gott stehen und dann liegt unser ganzes Leben offen vor uns, und Gott wird ein Urteil darüber sprechen.
Dieses Kapitel hier im Römerbrief ist wohl das, wo Paulus am ausführlichsten das Gericht Gottes darstellt. Er macht das nicht so, wie viele Maler das getan haben, mit der Schilderung schrecklicher Höllenstrafen, sondern er beschreibt die Motive Gottes dahinter. Wie der Vorarbeiter ist Gott engagiert auf der Seite seiner Leute – aber gerade weil ihm an seinen Menschen liegt, kann er nicht einfach zusehen, wie sie ihre kleine oder große Welt gegen die Wand fahren. So wie der Vorarbeiter nicht zulassen kann, dass ein schlechtes Beispiel den Umgangsstil im ganzen Betrieb verdirbt. Und Gott will ja die Welt nicht nur irgendwie durchbringen, sondern er will sie wieder in Ordnung bringen, er will sie heilen und erneuern. Gott liebt die Welt und seine Menschen.
Aber wenn Menschen diese Liebe zurückweisen – und es gehört zur Liebe, dass sie zurückgewiesen werden kann – dann bekommen sie ihren Willen. Wenn Menschen gegen alle Warnungen immer weiter den Weg gehen, der sie und andere ins Unglück führt, dann werden sie dies Unglück erleben. Wenn Menschen sich verschließen gegen die Warnungen Gottes, dann werden sie am Ende ohne ihn sein.
Entgegen anderen Gerüchten kann man das mit ein bisschen Geduld durchaus schon in diesem Leben beobachten. Je länger ich die Wege von Menschen verfolge, und je mehr menschliche Schicksale ich im im Lauf der Jahre erzählt bekommen, um so mehr bin ich überzeugt, dass Gott schon in diesem Leben dafür sorgt, dass wir die Folgen unserer Taten spüren. Nicht mit mathematischer Präzision, nicht in jedem Einzelfall, nicht so, dass es beweisbar wäre. Aber doch so, dass ich überzeugt bin, dass es sich rein praktisch nicht auszahlt, gegen Gottes Regeln zu verstoßen.
Vielleicht sollte man sich mal die Menschen, die einem Unrecht getan haben (und es gibt ja Menschen, die wirklich fies gegenüber uns waren), anschauen, vielleicht auch nach Jahren anschauen, und sich fragen: möchtest du heute mit dem oder mit der tauschen? Ich kann nicht garantieren, dass die Antwort in jedem Fall ein Nein ist, aber ich glaube, in den meisten Fällen werden wir nicht das Gefühl haben, dass es begehrenswert wäre, so wie dieser Mensch zu sein.
Aber auch wenn es im einen oder anderen Fall nicht so ist: ganz zum Schluss wird jeder vor Gott stehen, ganz zum Schluss wird auf jeden Fall das gerechte Urteil gesprochen. Alles, was wir tun, kommt noch einmal zur Sprache und hat Bedeutung. Und das ist ein ganz wichtiger Trost für alle, die in diesem Leben anderen zum Opfer gefallen sind, deren Leben durch Gewalt oder Ausbeutung zerstört worden ist, für alle, denen Schlimmes und Entsetzliches angetan worden ist.
Die römische oder griechische Philosophie und Religion zur Zeit des Paulus hatte keine Vorstellung von einem letzten Gericht. Sie hatten keine Hoffnung für die Armen und Entrechteten. Sie hatten keine Perspektive für die Sklaven, die mit ihrer Arbeit damals das ganze System überhaupt am Laufen hielten. Sie hatten den Opfern nichts zu sagen, außer, dass sie sich still in ihr Schicksal fügen sollten.
Aber der Gott, den Paulus verkündet, der Vater Jesu Christi, der ist anders. Dem liegt daran, dass all den Gedemütigten der Menschheitsgeschichte Gerechtigkeit widerfährt. Ihm liegt daran, dass die Welt erneuert wird und am Ende die Dunkelheit keinen Platz mehr hat.
Und deshalb können wir sagen: es ist richtig und klug, am Guten festzuhalten, sich für die richtige Seite zu entscheiden und das durchzuhalten auch gegen Widerstand und unter Mühen, es ist richtig, dafür auch einen Preis zu bezahlen. Nichts von dem Guten, was du tust, wird vergessen werden, es kommt der Tag, wo das alles hell strahlen wird, und wo Gott sagen wird: ich habe mich so gefreut über deine Entscheidung und über diese Freundlichkeit, die du da gezeigt hast. Sie war vielleicht nur klein, sie war manchmal halbherzig, und ohne meine Hilfe hättest du es nicht durchgehalten, aber die Richtung hat gestimmt. Das hat vielleicht sonst gar keiner gemerkt, aber ich habe es nicht vergessen. Gut gemacht! Und wir werden unendlich froh darüber sein, wenn wir das hören dürfen.
Und nun gibt es noch ein Problem: was ist mit denen, die das alles durchschauen und sagen: ja, so sind die Menschen. Ja, Gott hat Recht. Ja, ich stimme dir zu, Gott. Die Menschen verdienen dieses Gericht. Aber ich bin anders. Ich habe das begriffen. Du und ich, Gott, wir durchblicken das, nicht wahr?
Und Paulus sagt: es kommt nicht an auf den Durchblick, es kommt auf das an, was du tust. Glaubst du, mit ein bisschen Erkenntnis könntest du dich rauswinden aus dem Problem, in dem ihr alle drinsteckt? Du profitierst genauso wie alle anderen von der Ausbeutung der Erde und der Menschen, auch dein Lebensstil ruiniert das Klima, und nur weil du weißt, was läuft, bist du noch kein erneuerter Mensch. Ist ja gut, wenn du dich bemühst, weniger Kohlendioxid zu produzieren, das ist eine richtige Entscheidung, aber damit bist du nicht aus dem Schneider.
Gott will Menschen, die für das Schicksal der Welt und der Menschen so engagiert sind wie – na, vielleicht wie der Vorarbeiter für den jungen Mann engagiert war. Oder besser: Menschen, die so engagiert sind wie Gott selbst. So voller Liebe wie er. Oder um es so zu sagen: Menschen wie Jesus, an denen sichtbar wird, wie Gott zu uns steht. Im weiteren Verlauf des Römerbriefes wird Paulus noch davon sprechen, wie es dazu kommen kann, dass Jesus sich in Menschen widerspiegelt. Aber alles, was noch über die Liebe und Zuwendung Gottes zu sagen ist, das hebelt diese Grundlage nicht aus: Gott wird am Ende ein Urteil sprechen. Dieses Urteil wird gerecht sein.
Gott wird nicht darauf schauen, ob wir die Sachen durchschaut haben und wissen, was die anderen falsch machen. Ihm kommt es darauf an, dass wir seine Güte und Langmut teilen, dass wir uns von ihm rufen lassen auf die Wege der Erneuerung. Das ist der Maßstab.

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