Martin Luthers große Entdeckung

Besonderen Gottesdienst am 31. Oktober 2010 (Reformationstag) mit Predigt zu Römer 1,16-17

Im Gottesdienst war zunächst eine einführende Präsentaton über Luthers Entwicklung bis zum Thesenanschlag 1517 zu sehen. Zu hören war auch sein Rückblick auf seine reformatorische Wende, wie er ihn gegen Ende seines Lebens zusammengefasst hat:

Ein ganz ungewöhnlich brennendes Verlangen hatte mich gepackt, Paulus im Römerbrief zu verstehen; aber nicht Kaltherzigkeit hatte mir bis dahin im Weg gestanden, sondern ein einziges Wort, das im ersten Kapitel steht: »Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart.« Denn ich hasste diese Vokabel »Gerechtigkeit Gottes«: […] Als ob es wahrhaftig damit nicht genug sei, dass die elenden und infolge der Erbsünde auf ewig verlorenen Sünder mit lauter Unheil zu Boden geworfen sind durch das Gesetz der zehn Gebote, vielmehr Gott durch das Evangelium zum Schmerz noch Schmerz hinzufügte und auch durch das Evangelium uns mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn bedrohe. So raste ich wilden und wirren Gewissens; dennoch klopfte ich beharrlich an eben dieser Stelle bei Paulus an mit glühend heißem Durst, zu erfahren, was St. Paulus wolle.
Bis ich, dank Gottes Erbarmen, unablässig Tag und Nacht darüber nachdenkend, auf den Zusammenhang der Worte aufmerksam wurde, nämlich: »Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart, wie geschrieben steht: der Gerechte lebt aus Glauben.« Da begann ich, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als die, durch die als durch Gottes Geschenk der Gerechte lebt, nämlich aus Glauben, und dass dies der Sinn sei: Durch das Evangelium werde Gottes Gerechtigkeit offenbart, nämlich die passive, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben […]. Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. […] Wie sehr ich vorher die Vokabel »Gerechtigkeit Gottes« gehasst hatte, so pries ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort.

Die Bibelverse, mit denen Luther damals gekämpft hat, waren in diesem Gottesdienst der Predigttext:

16 Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist die Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. 17 Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit Gottes, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Habakuk 2,4): »Der Gerechte wird aus Glauben leben.«

»Martin Luthers große Entdeckung« – was war das für eine Entdeckung? Sie änderte tatsächlich den Lauf der Weltgeschichte. Keiner kann sich vorstellen, wie es heute wäre, wenn damals nicht zwei unterschiedliche Konfessionen entstanden wären. Und wie die Welt aussähe ohne den gewaltigen Aufbruch, den es durch die Reformation gegeben hat: durch die Reformation ist ganz viel in Bewegung gekommen, sie war ein Aufbruch in die Neuzeit, ein Abschied vom Mittelalter, sie schüttelte die Köpfe so durch, dass Platz war für neue Ideen.

Vorher hatten die Menschen den Eindruck, es gäbe nur eine ganz selbstverständliche Wahrheit, und die Kirche war ihre Hüterin. Danach gab es zwei Wahrheiten, weil es zwei Kirchen gab, und auch die waren sich intern nicht immer einig. Dadurch gab es plötzlich viel mehr offene Fragen, über die die Menschen nachdenken mussten. Von nun an konnten die Menschen nicht mehr der Kirche das Denken überlassen, sondern hatten einen Grund, selbst nachzudenken.

Das ist jetzt natürlich ziemlich vereinfachend. Natürlich hat es auch schon vor der Reformation Menschen gegeben, die auf der Suche waren und sich Fragen stellten. Der Mönchsorden, in den Martin Luther eintrat, ist der beste Beweis.

Gerade manche Klöster und Orden waren so ein Freiraum, wo Menschen, die wirklich nach Gott suchten, neue Wege gingen und neue Gedanken dachten. Franziskus von Assisi und seine Franziskaner sind so ein Beispiel. Der Augustinerorden ein anderer. Während die Amtskirche sich langsam zur mächtigsten Institution in Europa entwickelte, und während sie sich dabei auch in viele Verbrechen verwickelte, mit den Kreuzzügen an erster Stelle, arbeiteten andererseits in vielen Orden Nonnen und Mönche daran, ihre Klöster zu reformieren, sie fragten wieder nach den alten strengen Regeln, die man aus Bequemlichkeit vergessen hatte. Sie verließen reiche Klöster, um irgendwo neu anzufangen und nur von der Arbeit ihrer eigenen Hände zu leben oder in den neuen Städten für das Volk zu predigen.

Auch im Orden Luthers gab es solche Reformen, sogar ziemlich erfolgreiche. Der Orden unterstand sowieso nur dem Papst; und die reformorientierten Klöster in Sachsen und Thüringen hatten sich sogar von ihrer Ordensleitung abgekoppelt. Denen hatte keiner mehr was zu sagen – die verwalteten sich selbst. Das muss man sich mal vorstellen: im späten Mittelalter gab es Gemeinschaften, die faktisch niemandem unterstanden. Bis heute ist es mindestens in Deutschland so, dass jeder, der etwas macht, dafür eine Genehmigung braucht, und wenn er eine Würstchenbude aufmachen will. Jeder hat irgendwo jemanden, dem er untersteht. Aber damals, in einer Zeit, in der Leibeigenschaft selbstverständlich war, gab es tatsächlich einige Ecken in der Gesellschaft, wo Menschen sich selbst verwalteten und ihre eigenen Vorgesetzten wählten.

Und obwohl Luther in solch einer freien Umgebung lebte, obwohl er als Professor die Freiheit hatte, zu denken und mit seinen Studenten zu diskutieren, obwohl er sogar Vorgesetzter für mehrere Klöster in der Nachbarschaft war, fühlte er sich bedrückt und unfrei. Diese Bedrückung kam nicht von außen, sie saß in ihm selbst. Sie saß in seinem Kopf (hier – zwischen den Ohren), sie wuchs aus den Gedanken, die er wie alle anderen schon mit der Muttermilch aufgenommen hatte.

Wir alle sind die Gefangenen unserer Gedanken, unserer Grundannahmen, die uns so selbstverständlich sind, dass wir sie kaum jemals in Frage stellen. Wenn ich z.B. die Grundannahme habe: »die anderen sind immer schuld«, dann komme ich nie auf die Idee, dass ich ja mal etwas ändern könnte. Das können doch nur die anderen! So machen mich meine eigenen Gedanken schwach.

Martin Luthers Gedanken waren voller Furcht – und diese Furcht teilte er damals mit allen anderen. Aber aus irgendeinem Grund spürte er diese Furcht besonders. Es war die Furcht vor dem Fegefeuer. Die Menschen glaubten damals, dass sie nach dem Tod letztendlich zwar als getaufte Christen in den Himmel kommen würden, aber vorher kam das Fegefeuer, in dem sie ihre Sünden abzubüßen hatten. Und vor diesem Fegefeuer hatten sie alle schreckliche Angst – und Martin Luther ganz besonders.

Kein Wunder, dass die Leute zugriffen, wenn es eine Möglichkeit gab, diese Zeit im schrecklichen Höllenfeuer abzukürzen. Sie konnten hier auf Erden schon Buße tun, ins Kloster gehen, Wallfahrten unternehmen oder eben – das war die neueste Erfindung – gegen Geld Ablassbriefe kaufen. Das war der amtskirchliche Trick in Reinkultur: erst den Leuten Angst machen, und ihnen dann das Mittel gegen die Angst teuer verkaufen.

Lasst uns einen Augenblick überlegen, was für ein Grundgedanke Menschen dazu bringt, in dieser Furcht zu leben! Sie stellen sich offensichtlich Gott vor als einen, der gegen sie ist. Sie stellen sich vor, Gott wartet nur darauf, dass man irgendetwas falsch macht, und dann haut er voll drauf. Pass auf, Gott sieht alles, und die Strafe kommt: entweder sofort, oder neun Monate danach, und spätestens nach dem Tod. Spätestens dann musst du büßen.

Das war die Vorstellung, die Martin Luther mit diesem Wort von der »Gerechtigkeit Gottes« verband: ein strafender Gott, dem man nicht entkommen kann. Wir haben vorhin seinen Rückblick gehört, in dem er selbst beschrieben hat, wie ihn die Verse im Römerbrief über die »Gerechtigkeit Gottes« fertig machten. In Wirklichkeit geht es in den Versen darum, dass Gott seine Versprechen einhält, dass er treu ist, dass er tut, was er gesagt hat: nämlich durch sein Volk seine Erde zu erneuern und die Folgen des Sündenfalls rückgängig zu machen. Das ist Gottes Gerechtigkeit: dass er zu seinem Wort steht.

Aber in einer langen Tradition hat man das anders verstanden, und Luther war genauso wie alle andern in dieser Tradition gefangen; er las den Text mit der Brille der Tradition und konnte die ursprüngliche Bedeutung nicht sehen. Das war die Bedrückung, die er und andere im Kopf (hier – zwischen den Ohren) mit sich herumtrugen.

Und dann kommt der Punkt, wo Martin Luther diese Stelle im Römerbrief dreht und wendet, tagelang nachgrübelt, ob man das nicht auch anders verstehen kann, wo er das Gefühl hat, wahnsinnig zu werden und in einem Chaos von widerstreitenden Gedanken und Gefühlen lebt. Wie kriege ich einen gnädigen Gott statt einem strafenden Gott? Und als die Verwirrung am größten ist, da platzt der Knoten, die alte Brille zerbricht, und er sieht den Text mit neuen Augen an: das ist ja in Wirklichkeit gar kein Gott, der uns eins reinwürgen will, sondern ein Gott, der an unserer Seite ist. Ein Gott, der uns nicht verurteilen, sondern uns gerecht sprechen will. Und als ihm das klar wird, da fühlt er sich, als ob er durch die geöffnete Pforte ins Paradies eingetreten sei. Eine riesige Last von Furcht und Bedrückung ist von ihm abgefallen. Von diesem Urerlebnis her hat er fortan gedacht und gelebt.

Und als dann Tetzel kam, der genau mit dieser Furcht vor dem Fegefeuer Geld machte, da wollte Luther den Menschen sagen, dass sie ihre Furcht vor Gott nicht durch Ablasszahlungen loswerden würden, sondern nur durch diese neue Sicht, durch das Ablegen der alten Brille, durch einen Austausch der Gedanken (hier – zwischen den Ohren). Und nach und nach spürte Luther, dass dieses Auswechseln der Grundgedanken dann auch Folgen hatte für alles andere, bis dahin, dass er dann nicht mehr bereit war, die Autorität des Papstes anzuerkennen, wenn der sich gegen diese neue Erkenntnis stellte. Und daraus entstand dann die evangelische Kirche.

Das Verrückte ist: heute gibt es in dieser Frage der sogenannten Rechtfertigung aus Glauben gar keinen großen Unterschied mehr zwischen evangelischer und katholischer Kirche. Heute ist im Grunde nur noch die Frage übriggeblieben, ob man die Autorität des Papstes anerkennen muss – über alles andere könnte man sich heute einigen oder hat es schon getan. Ob man im Gottesdienst Weihrauch nehmen muss und ob man die Pille nehmen darf – das sind so Fragen, wo heute Evangelische und Katholische jedenfalls offiziell unterschiedlicher Meinung sind. Das sind nicht unwichtige Fragen, aber da kann man Kompromisse finden, solche Fragen kann man auch mal offen lassen, die rechtfertigen keine Kirchenspaltung. Der harte Kern ist heute nur noch die Frage, ob man eine zentrale Leitung der Kirche braucht wie den Papst, der am Ende eine Entscheidung fällt, an die sich alle halten müssen – oder ob man es der Einsicht des Einzelnen und der Einsicht der Gemeinden und Kirchen überlässt, wie sie die Bibel verstehen. Und an diesem Punkt sehe ich wenig Möglichkeiten zum Kompromiss, weil es da wirklich um die Machtfrage geht. Aber zum Glück können wir es anderen überlassen, sich mit diesen Fragen herumzuschlagen. Unser Job ist es, so gut wie möglich Gemeinde zu sein – das wird Gottes Sache am besten dienen, egal, ob wir evangelisch, katholisch oder freikirchlich sind.

Martin Luther jedenfalls hat mit seinem Durchbruch die Bahn frei gemacht für eine Erneuerung der ganzen Kirche. Auch die katholische Fraktion der Christenheit hat nach dem ersten Schrecken einen Reformprozess eingeleitet, weil sie nur so bestehen konnten. Und in der evangelischen Fraktion hat es sowieso immer wieder Aufbrüche gegeben, oft auch gegen den eigenen kirchlichen Mainstream. Eigentlich ist es gar nicht so schlecht, dass es heute viele Kirchen und Traditionen gibt. Konkurrenz hebt das Geschäft, und ein Wettstreit um die beste Weise, Kirche zu sein, Christ zu sein, kann uns alle voranbringen.

In diesem Sinn glaube ich, dass es heute nach 500 Jahren so weit ist, dass wir Luther neu einordnen müssen. Luthers Frage war: wie kriege ich einen gnädigen Gott? Also einen Gott, der an meiner Seite ist und nicht gegen mich, der nicht dauernd mit der Angst vor der Hölle arbeitet. Tetzels Antwort auf diese Frage war: Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt. Luther hatte eine andere Antwort: durch Glauben. Diese Antwort war richtig.

Aber war eigentlich auch die Frage richtig? Ist denn diese Frage »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?« die Zentralfrage, um die sich alles drehen soll? Ist das nicht ein bisschen so, als ob man behauptet, dass die Sonne um die Erde kreist? Die bessere Frage ist doch wohl: wie kann ich mich an Gottes Zielen, an Gottes Reich beteiligen? Dann dreht sich nicht alles um mich und mein Schicksal, sondern dann ist Gott mit seinen Absichten im Mittelpunkt, er ist die Sonne, um die sich alles dreht. Das hat natürlich auch für uns selbst Bedeutung, aber wir und unser Heil sind nicht mehr das Zentrum von allem.

Viele Menschen, die sich stark auf Gottes Weg durch die Welt eingelassen haben, haben es erlebt, dass für sie dann Luthers Frage nach dem gnädigen Gott nicht mehr das Zentrum war. Am besten habe ich das mal wieder bei Dietrich Bonhoeffer gefunden. Schon im Gestapo-Gefängnis, im Sommer 1944, ein knappes Jahr vor seiner Hinrichtung, schreibt er:

»Ist nicht die individualistische Frage nach dem persönlichen Seelenheil uns allen fast völlig entschwunden? Stehen wir nicht wirklich unter dem Eindruck, dass es wichtigere Dinge gibt als diese Frage ( – vielleicht nicht als diese Sache, aber doch als diese Frage!?)? Ich weiß, dass es ziemlich ungeheuerlich klingt, dies zu sagen. Aber ist es nicht im Grunde sogar biblisch? […] Ist nicht die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden der Mittelpunkt von allem?«

Martin Luther hat vor 500 Jahren durch Gottes Gnade eine richtige Antwort auf seine große Frage gefunden. Dadurch hat er der Christenheit eine neue Freiheit eröffnet. Heute, nach 500 Jahren, sind wir, auch dank Luther, so weit, dass wir auch die Frage besser stellen können: biblischer, angemessener, gotteszentrierter. Die Gefangenschaft und Kraftlosigkeit der Christenheit, die Luther beklagt hat, ist noch nicht zu Ende. Aber mit Gottes Hilfe werden die Fesseln eine nach der anderen fallen.

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