Amazing Grace – wie Menschen die Gnade entdeckten

Predigt am 14. Juli 2019 zu Psalm 63,1-12

1 Ein Psalm Davids. Als er in der Wüste Juda war.
2 Gott, mein Gott bist du, dich suche ich, *
es dürstet nach dir meine Seele.
Nach dir schmachtet mein Fleisch *
wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser.
3 Darum halte ich Ausschau nach dir im Heiligtum, *
zu sehen deine Macht und Herrlichkeit.
4 Denn deine Huld ist besser als das Leben. *
Meine Lippen werden dich rühmen.
5 So preise ich dich in meinem Leben, *
in deinem Namen erhebe ich meine Hände.
6 Wie an Fett und Mark wird satt meine Seele, *
mein Mund lobt dich mit jubelnden Lippen.
7 Ich gedenke deiner auf meinem Lager *
und sinne über dich nach, wenn ich wache.
8 Ja, du wurdest meine Hilfe, *
ich juble im Schatten deiner Flügel.
9 Meine Seele hängt an dir, *
fest hält mich deine Rechte.
10 Die mir nach dem Leben trachten, um mich zu vernichten, *
sie müssen hinabfahren in die Tiefen der Erde.
11 Man gibt sie preis der Gewalt des Schwerts, *
sie werden den Schakalen zur Beute.
12 Der König aber freue sich an Gott! /
Wer bei ihm schwört, darf sich rühmen. *
Doch allen Lügnern wird der Mund verschlossen.

Dies ist ein Gebet, und gleichzeitig ist es ein tiefes Lehrstück darüber, wie man Gott findet und wie Er ist. Alle theologischen Gedanken versuchen ja unser Verhältnis zu Gott zu beschreiben, und deshalb enthält ein Gebet, das in Worte gefasst ist, immer auch indirekt Theologie. Wie wir mit Gott reden, das hängt davon ab, wie wir ihn uns vorstellen. Und diese Vorstellung von Gott, haben wir uns fast immer nicht ganz neu ausgedacht, sondern von andern übernommen.

Hunger und Durst nach Gott

In diesem Psalm spricht jemand zuerst von seinem Durst nach Gott, aber das ist kein unbekannter Gott, kein unbeschriebenes Blatt, sondern er sagt gleich am Anfang: »Gott, mein Gott bist du«. Er kennt Gott, weil er irgendwann und irgendwie schon mit ihm in Berührung gekommen ist. Sonst wüsste er ja gar nicht, worauf sich seine Sehnsucht richtet. Sonst wäre es nur ein unbestimmtes Mangelgefühl, wie ja auch heute viele Menschen einen unbestimmten Mangel empfinden, aber sie haben nicht gelernt, diesen Mangel mit Gott in Verbindung zu bringen und versuchen deshalb, ihn mit Essen, Kreuzfahrten, Alkohol, Beziehungen und vielem anderen zu stillen.

Bleiben wir ruhig bei diesem Bild von Hunger und Durst! Dass man die echten Hungerschmerzen ausgerechnet durch Nahrungsaufnahme los wird, das müssen Menschen erst lernen. Ein ungeborenes Kind kennt weder Hunger noch Nahrung. Erst wenn es geboren ist, erlebt es Hunger. Und dann ist so ein kleiner Mensch völlig ausgefüllt mit Mangel und Bedürftigkeit. Zum Zeichen dafür schreit er, und dieses Schreien ist so nervig, so unerträglich, weil es uns an unsere eigene Bedürftigkeit erinnert.

Ein Baby muss erst lernen, dass dieser Schmerz durch Nahrung verschwindet. Das haben wir alle sehr schnell gelernt, aber am Anfang ist es für Babies noch nicht einsichtig, dass die ungewohnte Erfahrung des Trinkens und Schluckens das ebenso neue Unwohlsein im Bauch beseitigt, das sie so schmerzlich spüren.

Der Ort, wo Gottes Name wohnt

Dieser erste Schock des Mangels und des Hungergefühls begleitet uns ein Leben lang, auch wenn wir uns nicht mehr klar an diesen Moment erinnern können. Aber das hebräische Wort für »Seele« betont immer wieder genau unsere Bedürftigkeit. Und hier im Psalm beschreibt jemand sich selbst so, dass er sagt: ich bin wie trockenes, ausgedörrtes Land, das auf den lebenspendenden Regen wartet. Ich bin ein ungestilltes Verlangen – aber wer immer das hier verfasst hat: er wusste, dass es Gott ist, der den Hunger und den Durst unserer Seele stillt. Das hatte er inzwischen gelernt.

Wir lernen in der Regel aber nur langsam, dass es Gott ist, auf den sich das Verlangen unserer Seele richtet. Babies lernen deutlich schneller, dass der Hunger im Bauch durch Nahrung gestillt wird. Menschen stellen erst nach und nach diesen Zusammenhang her, dass die unbestimmte Sehnsucht ihrer Seele durch Gott gestillt wird. Und wo machen sie diese Erfahrung? Im Heiligtum, sagt der Psalm. An dem Ort, wo Gottes Name wohnt. Dort, wo der unsichtbare Gott einen sichtbaren Stützpunkt auf der Erde hat.

Wechselnde Zeichen für Gott

Das ist die Basis aller Theologie, es ist die Voraussetzung für alles, was wir von Gott wissen können. Das Heiligtum, der Ort, wo wir Gott erkennen können. Im Alten Testament waren das erst Altäre, die Abraham z.B. baute, dann, beim Auszug aus der ägyptischen Sklaverei, war es die Bundeslade mit den Gesetzestafeln, schließlich der Tempel in Jerusalem. Und als der Tempel zerstört war, da waren es die Schriftrollen, in denen die Kunde von Gott wohnte. Und es war der Feiertag, der Sabbat – auch er ist ein Zeichen für Gott, ein Zeichen nicht im Raum, sondern in der Zeit.

Im Neuen Testament ist Jesus das Heiligtum, sozusagen ein Tempel auf zwei Beinen. Der Ort, wo man Gott finden kann. Und für die Folgezeit, in der Jesus nicht mehr sichtbar unter uns ist, hat er vorgesorgt und das Abendmahl hinterlassen, und ebenso seine Worte, die aufgeschrieben wurden. Jetzt ist die Gemeinde, die sich um Wort und Sakrament versammelt, das Heiligtum, wo man Gott finden kann.

Wir sehen: wo und was das Heiligtum ist, das kann sich im Lauf der Zeit ändern. Seit Jesus uns seine Worte und das Abendmahl hinterließ, kann jeder Küchentisch zum Heiligtum werden. Aber das Grundprinzip bleibt: Die ganze Welt ist von Gott und seinem Segen erfüllt, wie die Luft erfüllt er unsichtbar alles, alle Menschen hungern und dürsten nach ihm, aber um ihn zu erkennen brauchen wir das Heiligtum, den Ort, wo sein Name wohnt. Den Ort, wo ausdrücklich von ihm gesprochen wird, wo es sichtbare Zeichen gibt, die an ihn erinnern.

Besondere Orte

Wenn wir ihn im Heiligtum kennengelernt haben, da, wo sein Name wohnt, dann können wir ihn überall wiederfinden: auch nachts, wenn wir wachliegen, überhaupt in unserem ganzen Leben, und natürlich auch im Wald, wo ihn die modernen Leute am liebsten suchen. Das geht nicht immer unproblematisch, aber das ist ein anderes Thema. Heute geht es um diesen prinzipiellen Zusammenhang, dass wir Gott nur deshalb überall finden können, weil er sich an besonderen Orten zu erkennen gibt, im Heiligtum. Es ist nie die ganze Welt, aus der wir etwas über Gott lernen, sondern es sind die Heiligtümer, egal, wie sie aussehen: die Orte, die Gott sich erwählt, damit dort sein Name wohnt.

Und wir müssen auch das Heiligtum immer wieder aufsuchen, weil die Erkenntnis Gottes im Laufe der Zeit verblasst, wie es bei jeder menschlichen Erkenntnis der Fall ist. Der Durst der Seele nach Gott wird an diesen besonderen Orten gestillt, wo sein Name wohnt. Denn dort werden wir nicht nur daran erinnert, dass es Gott gibt, sondern hier lernen wir vor allem, wie er ist. Es könnte ja einen Gott geben, der hartherzig ist oder furchterregend oder heimtückisch, und dann könnten wir uns nicht über ihn freuen.

»Unter dem Schatten deiner Flügel«
Bild von Jennifer Helbling auf Pixabay

Aber dort im Heiligtum kann man hören von Gottes Huld, von seiner Liebe, von seiner Gnade, von seiner Freundlichkeit und Güte. Mit all diesen Worten habe ich jetzt versucht, ein einziges hebräisches Wort wiederzugeben. Nur fürs Protokoll: es ist das Wort »Chäsäd«, und immer, wenn wir irgendwo das Wort »Gnade« hören, dann geht es auf dieses hebräische »Chäsäd« zurück. Aber »Gnade« ist viel zu eng gefasst – es geht um eine umfassende freundliche Zuwendung Gottes zu uns. Es geht darum, dass er mit Augen der Liebe auf uns schaut, dass er uns schützt und an unserer Seite ist. Dass er uns liebt. Es ist nicht selbstverständlich, dass Gott Liebe ist, wie es im Johannesevangelium heißt. Es ist nicht selbstverständlich, dass Gott ein liebender Vater ist. Es gibt ganz andere Götter, an ihrer Spitze der Mammon, der der uns aussaugt und entmenschlicht. Aber dort im Heiligtum, da erfahren Menschen Gottes liebevolle Hilfe. »Unter dem Schatten seiner Flügel« haben sie Geborgenheit erfahren, und damit sind die Flügel der Cherubim im Tempel gemeint.

Wir wissen aus vielen anderen Psalmen, dass der Tempel ein Zufluchtsort für Verfolgte und Angefeindet war. Wenn einer in seinem Dorf vom Oberbauern und seinen Freunden gemobbt wurde und niemand ihm half, das konnte damals schnell lebensgefährlich werden. Und da war der Tempel Zufluchtsort und Beistand. Auch hier im Psalm 63 klingt das an, dass ein Verfolgter jubeln kann im Schutz des Heiligtums, geborgen unter den Flügeln Gottes. So stark erlebt er diese schützende Zuwendung Gottes im Heiligtum, dass er nur ganz am Ende des Psalms noch kurz sagt, dass seine Feinde umkommen werden und die Geier sie fressen werden (genau genommen die Schakale, aber das macht am Ende keinen großen Unterschied).

Asyl am heiligen Ort

Ich habe ja schon immer gedacht, dass es Gottes Auftrag an uns ist, Kirchenasyl zu geben, aber an diesem Psalm ist mir klar geworden, dass das Asyl im Tempel ein biblisches Urbild für die Freundlichkeit und Gnade Gottes ist. An dieser Situation eines Menschen, der im Heiligtum Zuflucht vor gnadenlosen Feinden findet, haben sie damals gelernt, wie Gott ist. Nicht nur daran, aber doch immer wieder, und in den Psalmen jedenfalls geht es dauernd darum: Gottes Güte zeigt sich in seiner Parteinahme für die Angefeindeten, und die wird im Heiligtumsasyl konkret erfahrbar. Im 23. Psalm ist das ganz knapp zusammengefasst: »Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner feinde.« Und das ist eine immer neue Quelle des Gotteslobes, wenn jemand am heiligen Ort Versorgung, Schutz und Zuflucht erfährt. Und auch in diesem Psalm mit seinen vielen Strophen voller Lob und Freude steht das im Hintergrund. Dieser Zusammenhang kommt in den Psalmen so oft vor – ich habe jetzt schon versucht, nicht immer wieder solche Psalmen zu nehmen, damit ihr euch nicht langweilt. Aber es ist mir nicht wirklich gelungen.

Von dieser Situation des Asyls im Heiligtum aus haben sie dann Gott als den Beistand in vielen anderen Situationen entdeckt. Und wenn einer in der Nacht auf seinem Lager aufwacht und über Gott nachdenkt und sich an ihm freut und auf ihn hofft, dann kehrt er immer wieder zurück zu dieser Erinnerung an die Geborgenheit »im Schatten deiner Flügel«.
Dort im Heiligtum wurde die Gastfreundlichkeit Gottes entdeckt, und dann kann man sie überall wiederfinden und praktizieren. Die Mahlgemeinschaften Jesu waren solche Zeichen des gastfreundlichen Gottes, und die frühe Kirche hat sich über Gastfreundschaften ausgebreitet.

Wichtiger als das Leben

Und hier im 63. Psalm finden wir sogar diesen Spitzensatz: »deine Huld ist besser als das Leben«. Man muss sich das mal vorstellen: zu einer Zeit, wo noch niemand etwas von Auferstehung ahnte und der Tod nur eine dunkle Bedrohung war, da ist jemand von der Huld, Güte, Freundlichkeit, Zuwendung und Gnade Gottes so überwältigt worden, dass er sagt: das zu erleben, die »Chäsäd« Gottes zu erfahren, das ist sogar noch wichtiger als das Leben selbst. Da überwindet Gottes Gnade, wie sie am heiligen Ort zu erfahren war, die Furcht vor dem Tod. Und wer weiß, vielleicht hat Jesus sich auch zu diesem Psalm geflüchtet, als die Angst vor dem Tod ihn in Gethsemane zu überwältigen drohte. Wir wissen es nicht, doch es könnte so gewesen sein. Vielleicht. Möglicherweise. Aber mindestens hat er aus solchen Andeutungen in den Psalmen und anderswo im Alten Testament gelernt, wie Gott ist. Und nachdem er es durch die Schrift grundlegend verstanden hatte, da bekam er Augen, mit denen er schließlich überall die Güte Gottes sehen und aufschließen konnte, für sich und für andere. Am Ende hat er sie auch noch im grausamen Tod gefunden und ihn so überwunden.

Irgendwann hat es begonnen, dass Menschen am heiligen Ort verstanden, wie Gott ist. Das ist die Quelle. Nach und nach haben wir ihn immer besser verstanden, und jetzt wartet die ganze Schöpfung darauf, dass Menschen seine Güte überall wiederfinden. Da ist noch viel zu tun. Aber am Ende wird die ganze Schöpfung ein Tempel sein, der Gottes Güte widerspiegelt.

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