Glaube im Exil

Predigt am 18. November 2018 zu Psalm 42/43

1 Eine Unterweisung der Korachiter, vorzusingen.

2 Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser,
so schreit meine Seele, Gott, zu dir.
3 Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.
Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?
4 Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht,
weil man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott?
5 Daran will ich denken und ausschütten mein Herz bei mir selbst:
wie ich einherzog in großer Schar,
mit ihnen zu wallen zum Hause Gottes
mit Frohlocken und Danken in der Schar derer, die da feiern.
6 Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er mir hilft mit seinem Angesicht.

7 Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, /
darum gedenke ich an dich im Lande am Jordan und Hermon, vom Berge Misar.
8 Deine Fluten rauschen daher, /
und eine Tiefe ruft die andere;
alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich.
9 Am Tage sendet der HERR seine Güte,
und des Nachts singe ich ihm und bete zu dem Gott meines Lebens.
10 Ich sage zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen?
Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich drängt?
11 Es ist wie Mord in meinen Gebeinen, /
wenn mich meine Feinde schmähen
und täglich zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott?
12 Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.

1 Schaffe mir Recht, Gott, /
und führe meine Sache wider das treulose Volk
und errette mich von den falschen und bösen Leuten!
2 Denn du bist der Gott meiner Stärke: Warum hast du mich verstoßen?
Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich drängt?
3 Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten
und bringen zu deinem heiligen Berg und zu deiner Wohnung,
4 dass ich hineingehe zum Altar Gottes, /
zu dem Gott, der meine Freude und Wonne ist,
und dir, Gott, auf der Harfe danke, mein Gott.
5 Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.

Dieser Psalm stammt aus dem Gebiet ganz im Norden Israels, aus der Gegend, wo der Jordan entspringt. Wenn Sie in der Tagesschau mal wieder von der Situation an den Golan-Höhen hören, an der Grenze zu Syrien und zum Libanon, da ungefähr ist es. Das ist maximal weit weg von Jerusalem, und man kann sich fragen, ob das überhaupt noch Israel ist, oder ob man da schon in einem Nachbarland ist, besonders früher, als die Grenzen noch nicht so exakt markiert waren.

Das ist auch ungefähr die Ecke, wo Jesus manchmal mit seinen Jüngern hinging, wenn sie ein bisschen Pause brauchten und unerkannt sein wollten.

In der Fremde

Da ist also jemand hingeraten, der früher viel näher am Tempel von Jerusalem dran war. Aber jetzt ist er in einer Gegend, wo er weit weg ist von den Festen und Gottesdiensten dort, weit weg von den Menschen, mit denen er früher seinen Glauben geteilt hat. Irgendwie ist er ins Exil geraten, unter Menschen, die seine Erfahrungen mit Gott nicht teilen, die nur verständnislos gucken, wenn er etwas davon sagt, und die sich darüber lustig machen, wie er von Gott spricht: vom lebendigen Gott, der unsichtbar ist, der sich mit Menschen verbindet, und dem diese Verbindung zu Menschen viel wichtiger ist als die korrekte Befolgung von Zeremonien. Vielleicht war es ja sogar dem Namen nach der Gott Israels, den sie da verehrten, aber er hatte sein Profil fast ganz verloren und war nur noch ein Gott wie jeder andere, irgendein höheres Wesen, das man routinemäßig voraussetzt, wie das alle damals taten, ohne groß darüber nachzudenken.

Bild: 916315 via pixabay, Lizenz: creative commons CC0

Wir wissen nicht, ob dieser Mensch freiwillig oder gezwungenermaßen im Exil lebte. Auf jeden Fall leidet er darunter, dass er unter Menschen lebt, für die er bestenfalls ein komischer Kauz mit einem religiösen Tick ist. Wenn er denen gesagt hätte, wie sehr sich seine Seele verzehrt nach der Stätte Gottes unter den Menschen, dann hätten sie ihm nur ein weiteres Mal den Vogel gezeigt.

Durstige Seele

Aber so ist es: seine Seele in ihm ist wie ein durstiges Tier, das im heißen Sommer kein Wasser mehr in den ausgetrockneten Bächen und Teichen findet. Und wir kennen doch auch diese Erfahrung, dass es in uns keine Ruhe gibt, dass unsere Seele einen unbestimmten Hunger oder Durst verspürt, aber es nützt nichts, wenn wir zum Kühlschrank gehen und irgendetwas in uns hineinstopfen. Es nützt nichts, wenn wir losgehen und irgendwas einkaufen. Ganze Branchen leben davon, dass Menschen mit einem unbestimmten Hunger etwas kaufen, von dem sie hoffen, dass sie sich danach wieder besser fühlen. Oder dass sie Menschen Ablenkung und Unterhaltung anbieten, bis es vielleicht ruhiger in ihren Herzen geworden ist.

Während die meisten Menschen nicht verstehen, wo dieser unbestimmte Hunger herkommt, weiß es in diesem Psalm ein Mensch ganz genau: sein Glaube ist nur in ihm selbst lebendig, aber es gibt um ihn herum in der Außenwelt nichts, wo dieser Glaube Resonanz findet, nichts Sichtbares da draußen, das zu seinem Inneren passt. Im Gegenteil, da draußen gibt es nur Feindseligkeit.

Von Innen nach Außen

Man muss sich klarmachen, dass wir es in der Regel nicht schaffen, unseren Überzeugungen zu trauen, wenn sie sich nicht irgendwie auch in der Außenwelt spiegeln. Du kannst auf die Dauer nicht nur in deinem Herzen glauben. Menschen brauchen es, ihrem Glauben immer wieder einen starken Ausdruck zu verleihen, gemeinsam mit anderen. Menschen wollen ihrem Glauben auch eine Form geben, die ihn möglichst gut ausdrückt. Wenn es aber gar keinen solchen Ausdruck gibt, dann verkümmert Glaube. Deshalb versuchen autoritäre Regimes den öffentlichen Ausdruck des Glaubens einzuschränken, weil sie wissen, dass das auch im Inneren etwas anrichtet.

Übrigens betrifft das alle Überzeugungen: politische, kulturelle, religiöse, gute oder schlechte – sie alle brauchen es, dass sie nicht nur im Herzen von Menschen wohnen, sondern sich auch draußen sichtbar darstellen. Deshalb gibt es so viele Symbole, von militärischen Abzeichen über religiöse Rituale bis zu den Logos der großen Marken. Symbole sind der Ausdruck einer inneren Überzeugung und verbreiten diese Überzeugung. Auch wenn es nur die Überzeugung ist, dass dieser Käse von besonders naturverbundenen Kühen stammt. Menschen sind kommunikative Wesen. Wir sind zutiefst mit unserer Umgebung verbunden, vor allem natürlich mit den anderen Menschen, und wir glauben uns selbst nur das wirklich, was wir auch mit anderen teilen.

Kein angemessenes Forum

Das geht bis hinein in die Politik: wenn Menschen für ihre Überzeugungen keine Partei oder Vereinigung finden, die die vertritt, wenn sich ihre Vorstellungen nicht irgendwo einigermaßen klar widerspiegeln, dann bekommen diese Überzeugungen keine Gestalt und bleiben wirkungslos. Ich glaube, dass immer noch eine Mehrheit in unserem Land die Schöpfung bewahren und nicht zerstören möchte, dass Menschen auf keinen Fall in einen Krieg geraten möchten, dass Menschen nicht wollen, dass es immer größere Ungleichheit zwischen den Superreichen und dem Rest der Menschheit gibt. Ich glaube sogar, dass immer noch eine Mehrheit es richtig findet, wenn wir Menschen eine Zuflucht bieten, die aus Krieg oder Not zu uns flüchten.

Aber das Problem ist, dass diese tiefen Überzeugungen im Augenblick keinen wirklich guten und starken Ausdruck in den Medien und in der Politik finden, es gibt kein klares Forum dafür, und dann verkümmern sie und können keine Kraft entfalten.

Mit einem Loblied durch die Nacht

Und ganz ähnlich ist es mit allem Religiösen: weil wir heute nur sehr wenige Formen haben, in denen der Gott des Lebens wirklich einen guten und starken Ausdruck findet, deshalb wird auch der Glaube dünner. Irgendwie hängen Menschen erstaunlich lange immer noch daran, aber irgendwann können sie einen Glauben nicht mehr durchhalten, der sich nicht auch in der Außenwelt stark und gültig darstellt. Irgendwann muss man auch mal sagen dürfen: hier siehst du, was mein Gott wirklich will und wie er wirklich ist. Und das kann dieser Mensch aus dem Psalm nicht, weil er weit weg vom Jerusalemer Tempel ist, wo er früher in den Gottesdiensten ausgedrückt gefunden hat, was ihn tief im Innern bewegt.

Denn seine Seele kennt Gott. Er nennt ihn den Gott seines Lebens, den Gott, von dem er Leben und Kraft bekommt. Am Tag begegnen ihm Erweise von Gottes Güte, und die Lieder begleiten ihn durch die Nacht:

Am Tage sendet der HERR seine Güte, und des Nachts singe ich ihm und bete zu dem Gott meines Lebens.
Ein Defizit an Realität

Was ihm fehlt, das ist die Entsprechung zu diesem Gott in der Außenwelt. Seine Seele hält es kaum aus, dass er nicht sagen kann: komm und sieh! Hier kannst du erleben und sehen, wie das mit Gott gemeint ist. Gott will zur Welt kommen. Gott will nicht in irgendeiner abgehobenen religiösen Sphäre wabern, sondern er will sich mit der Erde verbinden. Am Ende steht die Hochzeit von Himmel und Erde, und bis dahin gibt es Symbole, Handlungen und Gemeinschaften, wo sich das schon einmal vorabbildet. Aber immer wieder müssen Menschen erleben, dass Gott nicht den Durchbruch schafft, raus aus der religiösen und jenseitigen Sphäre in die sichtbare, erlebbare Wirklichkeit.

Wir haben ja vorhin in der Lesung (Markus 14,32-42) von dieser Szene gehört, wie Jesus sich im Garten Gethsemane im Gebet auf seinen Tod vorbereitet. Und auch Jesus geht es so, dass er sich sehnlichst etwas in der Außenwelt wünscht, was ihn in seinem inneren Kampf unterstützt – und seien es auch nur drei Jünger, die für ihn wachen und beten. Aber schon hier und später am Kreuz ist er ganz allein, um ihn herum Menschen, die ihn verspotten und in vielen Wendungen genau das fragen, was hier im Psalm schon formuliert ist: wo ist denn nun dein Gott? Wird er dir helfen? Wird er sichtbar werden? In dieser Situation trotzdem am Gott des Lebens festzuhalten, allein, unter Schmerzen, unter feindseligen Menschen, ohne irgend etwas in seiner ganzen Welt, das diese innere Haltung bestätigt, das ist das Einmalige, was Jesus damals getan hat, an unserer Stelle, weil wir das nicht geschafft hätten.

Schau nach vorn, meine Seele!

Hier im Psalm ist diese Situation schon angedeutet, weil das die Lage aller ist, die ihr Heil nicht bei den toten Götzen suchen, sondern beim lebendigen Gott. Und dreimal antwortet der Mensch dieses Psalms seiner unruhigen Seele mit dem Ausblick nach vorne: harre auf Gott, meine Seele! Orientiere dich an der Vorstellung, dass ich ihm wieder danken werde, so wie ich es früher getan habe, gemeinsam mit vielen anderen, die diese Liebe zum lebendigen Gott teilen. Zum Glück reagiert ja unsere Seele auch schon auf Bilder, auf Vorstellungen, auch wenn die noch nicht äußere Realität sind.

Jesus hat deshalb seinen Jüngern gezeigt, wie sie auch als winzige kreative Minorität ihrem Glauben Ausdruck geben können: zum Abendmahl braucht man keinen Tempel, keine Priesterschaft, keine teuren Opfertiere. Um Tempel zu bauen und zu unterhalten muss man entweder ein ganzes Volk sein oder wenigstens reich und mächtig. Wer ist das schon? Aber Abendmahl kann man in jedem Haus feiern, zur Not auch in Lagern und Gefängnissen, und das ist oft genug geschehen. Und gleichzeitig ist es ein starkes und gültiges Symbol dafür, dass Gott in unsere Lebensrealität hineinkommt. Ein Symbol, das den Durst unserer Seele stillt, damit wir wieder hinausgehen können in eine Welt, die in vielen Bereichen eher eine Todeswelt ist als die Schöpfung des lebendigen Gottes.

Jesus hat ein Symbol geschaffen, das mitgeht auch ins Exil. Jetzt kann jeder Ort zur heiligen Stadt werden, jedes Haus zum improvisierten Tempel. Christlicher Glaube muss keine Mehrheitsreligion sein. Er muss aber auch nicht irgendwo in einem Winkel des Herzens verkümmern. Der lebendige Gott kommt auch durch winzige Eingänge in seine Welt, um den Herzen und der Schöpfung neues Leben zu schenken.

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