Das Reich Gottes kommt barfuß

Predigt am 10. Juni 2012 zu Matthäus 9,35 – 10,10

35 Und Jesus ging ringsum in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. 36 Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. 37 Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, doch es sind nur wenig Arbeiter da. 38 Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende. 1 Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen. 2 Die Namen aber der zwölf Apostel sind diese: zuerst Simon, genannt Petrus, und Andreas, sein Bruder; Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und Johannes, sein Bruder; 3 Philippus und Bartholomäus; Thomas und Matthäus, der Zöllner; Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Thaddäus; 4 Simon Kananäus und Judas Iskariot, der ihn verriet. 5 Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht in keine Stadt der Samariter, 6 sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. 7 Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe. 8 Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt böse Geister aus. Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebt es auch. 9 Ihr sollt weder Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben, 10 auch keine Reisetasche, auch nicht zwei Hemden, keine Schuhe, auch keinen Wanderstab. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert.

Ziemlich schutzlos sendet Jesus seine Jünger zu ihrem ersten großen Auftrag aus: ohne Geld, ohne Rucksack, sogar barfuß schickt er sie los. Das einzige, was er ihnen mitgibt, ist die Macht zu heilen und Menschen von bösen Geistern zu befreien. Bisher haben sie zugeschaut, wie Jesus das tat, und jetzt überträgt er ihnen das als Aufgabe: geht, heilt, befreit, stellt die Menschen wieder her.

Jesus sieht die ganze Orientierungslosigkeit der Menschen. Sie haben keinen inneren Kompass, der ihnen einen Weg zeigen könnte. Damals wie heute ist die Welt unübersichtlich und widersprüchlich, und alle versuchen irgendwie durchzukommen. Aber das ist keine Garantie, dass es gelingt. Im Gegenteil, Jesus sah auf sein Volk eine schreckliche Katastrophe zukommen. Er sah, wie da zwei Züge ungebremst aufeinander zu rasten: das römische Imperium und die Freiheitssehnsucht seines Volkes. Immer wieder gab es Aufstände, die wurden niedergeschlagen, daraufhin wuchs die Erbitterung, bis es zum nächsten Aufstand kam. Irgendwann musste das ein schreckliches Finale geben.

Vierzig Jahre später war es wirklich so weit: ein grausamer Krieg, der das Land verwüstete, und in dem Jerusalem zerstört wurde. Mit brutaler Gewalt haben die Römer den großen jüdischen Aufstand niedergeschlagen, haben erbarmungslos Menschen abgeschlachtet, bis das Land beinahe menschenleer war.

Wenn Sie sich an die Lesung vorhin erinnern (Jeremia 23,16-29): in solchen Situationen schickt Gott Propheten, um die Menschen zu warnen. Aber die falschen Propheten sagen ihnen: keine Sorge, Gott macht das schon, es wird bestimmt gut gehen.

Jesus ist ein Prophet, der die Mernschen warnt: ihr rast ungebremst in die Katastrophe. Aber im Unterschied zu den früheren Propheten kann Jesus nicht nur warnen, sondern er setzt ein positives Zeichen: Heilung. Befreiung, neues Vertrauen in Gott. Eine Leitschnur, an der man durch die ganze unübersichtliche Welt hindurchkommen kann. Menschen müssen nicht länger orientierungslos von einem Spektakel zum nächsten laufen, ratlos die Krisenmeldungen im Fernsehen hören und hoffen, dass ihnen vielleicht doch nichts passiert.

Dass es das gibt, das sehen sie an den Jüngern Jesu, die völlig schutzlos durch die Welt gehen und trotzdem Hoffnung verbreiten – nein, gerade deshalb, weil sie ohne Konto, ohne Wäsche zum Wechseln, ohne Wanderstab, mit dem man sich verteidigen kann, unterwegs sind, und ausgerechnet von ihnen geht umfassend Heilung aus: gerade deshalb sind sie eine lebendige Hoffnung.

Jesus hat die zwölf Jünger, die Apostel ausgesucht, damit sie das Zeichen für ein alternatives Israel sind. Damals verstand das jeder: 12 Jünger standen für die 12 Stämme Israels. Wer dieses Symbol zu Ende dachte, kam vielleicht sogar auf die Idee, dass Jesus, der sie aussandte, dann für Gott stehen müsste. Auf jeden Fall spiegelten die 12 die ganze Bandbreite der jüdischen Gesellschaft wider: Matthäus, der ehemalige Zöllner war dabei, der für einen guten Posten sein Volk an die Römer verkauft hatte, aber auch Simon, ein Zelot, also ein Terrorist, der früher Leute wie Matthäus gehasst und bekämpft hatte. Dann eine ganze Menge Leute aus dem breiten Mittelbau der Gesellschaft: Petrus und Andreas, die Fischer vom See Genezareth, die ihr Handwerk verstanden und sich in der Welt auskannten; Jakobus und Johannes, die gerne Karriere gemacht hätten, und die Jesus »Donnersöhne« nannte, weil sie wohl sehr ungeduldig und vielleicht auch cholerisch waren; und dann noch viele andere, mit deren Namen wir heute keine konkrete Geschichte mehr verbinden können.

Und die sind erst einmal mitgegangen mit Jesus, haben gesehen, was er tat, haben angefangen, sein Denken zu verstehen, und dann kam der Moment, wo er sie losgeschickt hat, damit sie ihre eigenen Erfahrungen machen. Und als sie zurückkamen, sagten sie: »Wow! Es hat funktioniert! Selbst die bösen Geister konnten uns nichts entgegensetzen.«

Wer diese 12 beieinander sah, für den konnten sie ein Hoffnungszeichen sein: Israels war vielleicht doch noch zu retten, so verletzt die Gesellschaft auch war. Wenn Jesus seine bunte Truppe zusammenhalten konnte, dann gab es vielleicht auch noch eine Chance für all die Fraktionen und Milieus in diesem zerrissenen Volk. Und tatsächlich ist das immer ein Effekt der Jesusbewegung gewesen: dass Menschen multikulturell zusammengefunden haben, fraktionsübergreifend, quer durch die Gesellschaft. Die Heilung von Krankheiten und die Heilung der Gesellschaft gehen bei Jesus Hand in Hand. Und die bösen Geister müssen auch abtreten.

Böse Geister – da denken wir zuerst an Gruselfilme, Vampire und solche Sachen. Aber in Wirklichkeit geht es da um viel schrecklichere Dinge. Da geht es um Menschen, die in ihrer Seele fundamental zerstört sind durch den grausamen Druck der Besatzung und der Kriege. Menschen, die innerlich so zerbrochen sind, dass sie nicht mehr Herr im eigenen Haus sind, sondern von allen möglichen Einflüssen und Mächten getrieben sind. Überall gab es solche Menschen, und niemand wusste, wie man ihnen helfen konnte.

Ich habe in diesen Tagen gerade irgendwo gelesen, dass die größte Gefahr für amerikanische Soldaten, die in Kampfeinsätze verwickelt sind, in Afghanistan oder Irak oder irgendwo sonst, nicht darin besteht, dass sie von Feinden getötet werden. Rein zahlenmäßig besteht die größte Gefahr darin, dass sie von den Erfahrungen des Krieges so traumatisiert, innerlich so belastet sind, dass sie sich irgendwann später selbst töten, aus Verzweiflung, weil sie mit ihren Erinnerungen und Ängsten nicht fertig werden.

Das ist nicht das Gleiche wie das, was im Neuen Testament mit »bösen Geistern« gemeint ist, aber wenn schon Soldaten, die selbst ziemlich gut geschützt sind, nach dem Einsatz nicht mehr leben wollen, was macht ein Krieg dann erst mit Menschen, die schutzlos all der Brutalität ausgeliefert sind, die keine Rechtssicherheit haben, die vielleicht geschlagen oder gefoltert werden, und die den Tod naher Freunde mit ansehen müssen? Man mag überhaupt nicht daran denken, was heute in den Seelen von Menschen angerichtet wird, die in Syrien leben müssen, im Irak, in Afghanistan, aber auch in manchen Gewaltzonen in der westlichen Welt. Und wenn du manchmal merkst, mit was für Zerstörungserfahrungen auch bei uns Menschen leben müssen, dann verstehst du erst, was das für große Gabe ist: Macht zu bekommen über die bösen Geister in allen möglichen Gestalten, die großen und kleinen Tyrannen, die sich in Menschen einnisten und ihnen die Kraft und die Lebensfreude nehmen.

Und verstehen Sie jetzt, warum die Apostel völlig machtlos in die Welt gesandt werden? Ohne Schutz und ohne irgendetwas, womit sie Macht ausüben können? Weil die Menschen, zu denen sie gesandt sind, von der Gewalt der Mächte schon so schrecklich zugerichtet worden sind. Die Apostel müssen alles tun, damit sie nur nicht den Verdachtes erregen, sie könnten auch mit dieser Art von Macht paktieren, deren Spuren die Menschen an Leib und Seele tragen. Auch keinen psychischen Druck dürfen sie anwenden. Auch wenn sie mit der Hölle drohen würden, das wäre so ein unerlaubter Druck, und der richtet bis heute immensen Schaden in den Menschen an. Es muss ganz klar sein, dass die Jünger Jesu diese Art von Macht nicht nötig haben. Sie kommen mit der Macht der Liebe, und deshalb können sie die Liebe zur Macht zu Hause lassen.

So schickt Jesus seine Apostel los, damit sie Heilung zu den Menschen bringen: in die Seelen, in die Körper, in die Gesellschaft, in die Köpfe und Herzen. Und den Menschen sollen sie sagen: das ist nur der Anfang, das ist das erste Zeichen. Ihr sollt dadurch merken, dass das Himmelreich nahe ist. Und mit Himmelreich ist nicht gemeint ein Raum, wo die Seelen verstorbener Menschen auf Wolken sitzen und Halleluja singen, sondern das Wort »Himmel« ist eine Umschreibung für »Gott«, es ist also das Reich Gottes gemeint, seine Herrschaft, sein Königtum hier auf der Erde unter den Menschen. Und was damit gemeint ist, sieht man an dem, was die Jünger tun: Menschen wiederherstellen, die Welt heilen, Freiheit mitbringen. Und sie werden das erklären und sagen: so ist Gottes Reich, seine Herrschaft. Er kommt zu euch. Er ist nahe. Wir bringen ihn mit im Auftrag von Jesus. Jetzt ist es so weit: Gott macht dem Elend ein Ende. Seine Kraft ist in der Welt, und deswegen brauchen wir keine Macht und keine Sicherheit wie alle anderen.

Es geht um eine neue Art von Macht. Dass die Jünger barfuß gehen, das heißt ja nicht, dass sie ohnmächtig wären. Es heißt nur, dass sie auf eine bestimmte Art von Sicherheit verzichten: auf Bequemlichkeit, auf ein festes Zuhause und das eigene Bett, auf die Garantie, dass abends etwas zu essen auf dem Tisch steht. Stattdessen sind sie abhängig von der Freundlichkeit und Dankbarkeit der Menschen und der Fürsorge Gottes. Das ist schon eine gute Sache, wenn die Boten Jesu beim Abendbrot auf die Menschen angewiesen sind, zu denen sie kommen. Wenn alle Missionare sich so von den Menschen abhängig gemacht hätten, dann stünde es heute um das Christentum wesentlich besser.

Denn es ist paradox: gerade durch den Verzicht auf unsere übliche Art von Schutz und Sicherheit gewinnt man die Kraft, Menschen wieder aufzurichten, Hoffnung zu geben und Leben zu ermöglichen. Der Extremfall davon ist Jesus am Kreuz: völlig entblößt von jedem Schutz, in einem Sinn völlig ohnmächtig, aber trotzdem der eine Mensch, der die Welt von Grund auf ändert.

Das ist eine andere Art von Macht. Und es ist die stärkste Macht in der Welt. Aber die kriegst du nicht so, wie du einen Posten bekommst, bei dem dir viele gehorchen müssen. Es ist eine Kraft, die aufs Engste mit unserer Person verbunden ist. Du kannst nicht irgendwann Feierabend machen und sagen: morgen geht es weiter. Du musst ein anderer werden, du musst den Weg Jesu mitgehen, dann kommt auch seine Kraft zu dir.

Die Jünger haben das alles live an Jesus erlebt. Wir können das leider so selten live erleben, weil bei uns die Christenheit traditionell auf prächtige Gebäude, prächtige Gewänder und mächtige Bürokratie gesetzt hat. Da blieb dieser persönlichen Macht Jesu wenig Raum zum Leben. Deshalb glauben wir kaum, dass sie funktionieren könnte. Wir müssen noch viel lernen. Zum Glück registriert Jesus es auch schon, wenn wir ein wenig mehr Unsicherheit zulassen, auch wenn wir nicht gleich barfuß gehen.

Aber im Zweifelsfall eher das sinnvolle Wagnis zu wählen, die hilfreiche Unsicherheit, lieber die vertretbare Schutzlosigkeit auszuprobieren, die nicht lebensgefährliche Verletzlichkeit, das liebevolle Unbekannte, das alles zu wählen und nicht zu vermeiden, das ist es, was uns weiterbringen wird. Dann antwortet Jesus mit seiner Kraft, live. Und wir werden ihm danach mehr vertrauen.

Und irgendwann kommt dann vielleicht auch mal eine Zeit, um die Sandalen zu verschenken. Aber bevor wir uns jetzt darum Sorgen machen, sollten wir lieber das tun, was heute dran ist – und die Zukunft Gott überlassen.


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