Schuld und Schulden

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 5. Juli 2015 zu Matthäus 18,23-35

Einleitung:

Ich begrüße Sie und euch alle herzlich zum Besonderen Gottesdienst mit dem Thema »Schuld und Schulden«. Als wir die Idee dazu hatten, haben wir natürlich an Griechenland gedacht, aber dass genau heute die Volksabstimmung in Griechenland sein würde, das konnten wir natürlich nicht wissen.

»Schuld und Schulden« – gibt es da eigentlich einen Zusammenhang? Es ist ja interessant, dass man für beides beinahe das gleiche Wort benutzt, und das ist nicht nur auf Deutsch so, sondern auch im Originaltext des Neuen Testaments. Wörtlich müsste es sogar im Vaterunser heißen: »Erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben.« Die religiöse und die finanzielle Bedeutung dieses Begriffs hängen schon seit Jahrtausenden ganz eng zusammen.

Und in der Tat sind das ganz ähnliche Dinge: egal, ob du etwas Schlimmes gemacht hast, oder ob du dir Geld geliehen hast, du bist verpflichtet, es auszugleichen, es zurückzuerstatten. Du bist in der Schuld von jemandem, und das heißt: er hat Macht über dich. Er kann dir eine Last auflegen, und vielleicht kommst du da nie mehr raus. Aber das Vaterunser redet vom Erlass, vom Freilassen. Gott lässt uns frei, er schenkt uns Freiheit unter der Bedingung, dass wir auch andere freigeben.

Warum ist das so? Weil Schuld und Schulden beide eine verheerende Wirkung haben. Sie ersticken das Leben. Wenn Schulden so groß sind, dass sie absehbar nicht zurückzahlbar sind, nehmen sie alle Hoffnung. Aber Gott wollte nicht, dass Menschen endlos an ihre Schulden gebunden sind. Deshalb gibt es schon im Alten Testament Vorschriften über einen regelmäßigen Schuldenerlass. Alle 50 Jahre sollte es ein Jubeljahr geben, wo Schulden gestrichen wurden, und wer Land verkaufen musste, sollte es im Jubeljahr wiederbekommen. Alle 50 Jahre sollte die Gesellschaft sozusagen einen Reset bekommen, alle 50 Jahre sollte alles zurück auf Anfang gehen, damit jeder wieder eine neue Chance hat.

Ganz ähnlich gibt es bei uns für Privatleute die Privatinsolvenz und für Firmen Konkursverfahren: damit es einen Weg aus der Verschuldung heraus gibt und ein Neuanfang möglich wird. Dabei müssen die Gläubiger auf einen mehr oder weniger großen Teil ihrer Forderungen verzichten, und das ist oft durchaus gerecht: vielleicht hätten sie ja nicht so großzügig Kredite geben oder mit teuren Handy-Knebelverträgen arbeiten sollen.

Das Problem ist: für Staaten gibt es bisher so etwas nicht. Wenn Staaten überschuldet sind, gibt es nur politische Lösungen. Und das heißt: es muss verhandelt werden. Es gibt keine festen Regeln. Man kann einmal großzügig sein, und ein andermal knallhart.

Das andere Problem ist: die einfachen Bürger eines Staates sind in der Regel nicht gefragt worden, ob Kredite aufgenommen werden sollen. Sie haben meist auch nichts davon gehabt. Aber wenn es um die Rückzahlung geht, dann trifft es sie als erstes. Dann hat der Staat kein Geld mehr für Sozialleistungen und Renten. Darum geht es zentral in Griechenland: ob die einfachen Bürger die Zeche für den Staat zahlen sollen.

Wir haben dazu heute eine Theaterszene vorbereitet. Sie spielt diesen Gedanken durch: wie würde es aussehen, wenn die Schulden des Staates bei den Bürgern eingetrieben würden? Schauen Sie sich das mal an!

Die folgende Theaterszene zeigte den Besuch eines Gerichtsvollziehers, der bei einem Rentnerehepaar Staatsschulden eintreiben wollte.

Das war natürlich eine unrealistische Szene. De facto kommt in so einem Fall kein Gerichtsvollzieher vorbei, um deine Rente zu pfänden. Aber vielleicht werden eben Renten gekürzt. Vielleicht werden Steuern erhöht. Vielleicht verlierst du den Anspruch auf Krankenversorgung. Das kommt aufs Gleiche hinaus. Wenn Schulden eingetrieben werden, geht es manchmal erbarmungslos zu.

Die gute Nachricht ist, dass es nicht Gott ist, der diese erbarmungslose Logik vertritt. Schon im Alten Testament gibt es Vorschriften für Schuldenerlass, und Jesus hat daran mehrfach angeknüpft. Gott ist der Gott des Lebens, und er will, dass seine Geschöpfe leben. Das steht bei ihm an oberster Stelle. Und der Glaube soll uns auch zu Leuten machen, die an erster Stelle dem Leben verpflichtet sind.

23 Mit dem Himmelreich ist es deshalb wie mit einem König, der beschloss, von seinen Dienern Rechenschaft zu verlangen. 24 Als er nun mit der Abrechnung begann, brachte man einen zu ihm, der ihm zehntausend Talente schuldig war. 25 Weil er aber das Geld nicht zurückzahlen konnte, befahl der Herr, ihn mit Frau und Kindern und allem, was er besaß, zu verkaufen und so die Schuld zu begleichen. 26 Da fiel der Diener vor ihm auf die Knie und bat: Hab Geduld mit mir! Ich werde dir alles zurückzahlen. 27 Der Herr hatte Mitleid mit dem Diener, ließ ihn gehen und schenkte ihm die Schuld.
28 Als nun der Diener hinausging, traf er einen anderen Diener seines Herrn, der ihm hundert Denare schuldig war. Er packte ihn, würgte ihn und rief: Bezahl, was du mir schuldig bist! 29 Da fiel der andere vor ihm nieder und flehte: Hab Geduld mit mir! Ich werde es dir zurückzahlen. 30 Er aber wollte nicht, sondern ging weg und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlt habe.
31 Als die übrigen Diener das sahen, waren sie sehr betrübt; sie gingen zu ihrem Herrn und berichteten ihm alles, was geschehen war. 32 Da ließ ihn sein Herr rufen und sagte zu ihm: Du elender Diener! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich so angefleht hast. 33 Hättest nicht auch du mit jenem, der gemeinsam mit dir in meinem Dienst steht, Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?
34 Und in seinem Zorn übergab ihn der Herr den Folterknechten, bis er die ganze Schuld bezahlt habe. 35 Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt.

In diesem Gleichnis entmythologisiert Jesus Schulden. Er nimmt den Schulden den Anschein, als seien sie eine sachliche Regelung, so eine Art Mathematikaufgabe: wenn einer x Talente schuldet und pro Jahr y Talente zurückzahlen kann, wie lange braucht er für die Rückzahlung, wenn der Zinssatz z beträgt? So könnte das in einem Mathe-Schulbuch oder in einem Lehrbuch für Banklehrlinge stehen.

Ein Mann in hoffnungsloser Lage

Aber Jesus erzählt es als eine Geschichte von Menschen. Und ganz ohne viel Rechnerei ist klar: der Mann wird seine 10.000 Talente nie zurückzahlen können. Er ist völlig in der Hand des Königs. Und das Problem ist eben, dass es der König ist, bei dem er verschuldet ist. Wäre das irgendein Geldverleiher, dann wäre das nicht so schlimm, als Amtsträger des Königs hätte er ja vielleicht die Möglichkeit, den schnell mal zu beseitigen, ins Gefängnis werfen zu lassen oder so. Aber der König hat die Macht im Land, der kann den Schuldtitel vollstrecken lassen. 10.000 Talente, die du dem König schuldest sind etwas ganz anderes als 10.000 Talente, die irgendein Geldverleiher von dir haben will.

Schulden sind nicht objektive Zahlen auf einem Papier. Sie tun nur so. In Wirklichkeit sind sie ein verborgenes Machtverhältnis zwischen Menschen.

Das merkt man in dem Gleichnis daran, dass es völlig von der Laune des Königs abhängt, was aus den 10.000 Talenten wird. Ein Befehl des Königs, und der Mann ist vom hohen Staatsbeamten zum Sklaven geworden. Ein zweiter Satz des Königs, und er ist frei und auch seine unbezahlbaren Schulden los. Schulden sehen neutral und sachlich aus, weil sie Zahlen auf einem Papier sind, mit denen man rechnen kann. Aber in Wirklichkeit sind Schulden ein Machtverhältnis zwischen Menschen, und sie sind es oft nicht freiwillig eingegangen.

Wie Schulden entstehen

Viele Schulden stammen aus Kriegen. Groß Ilsede zum Beispiel musste sich im Dreißigjährigen Krieg mehrmals freikaufen, um nicht geplündert zu werden. Die Schulden, die die Gemeinde damals aufgenommen hat, lasteten wahrscheinlich noch über 100 Jahre lang auf dem Ort. Noch die Urenkel haben dafür zahlen müssen.

Andere Schulden entstehen, weil jemand wirtschaftliche Probleme bekommt. Ein Bauer, der mehrere Missernten hintereinander erlebt. Eine Firma, deren Planungen falsch waren oder deren Kunden ihre Rechnungen nicht bezahlen. Jemand wird krank oder verliert seine Arbeit und hat das nicht in der Finanzplanung für das Haus bedacht.

Manche Schulden entstehen auch aus Dummheit oder Gier. Aber immer wird aus der anfänglichen Situation ein Schuldtitel auf dem Papier, der sogar weiterverkauft werden kann. Und er ist unabhängig von der Situation, in der er entstanden ist. Schulden müssen bezahlt werden, egal, ob jemand sein Geld im Spielsalon verspielt hat, oder ob Groß Ilsede von räuberischen Landsknechten erpresst wurde.

Gut, heute ist manches etwas weniger willkürlich geregelt, man kann nicht mehr als Sklave verkauft werden, hoffnungslose Fälle haben bei uns einen Anspruch auf eine geregelte Privatinsolvenz. Aber wenn es um Staaten geht, dann ist es beinahe noch so wie zu Jesu Zeiten. Viele griechischen Bürger müssen bitterer für die Schulden ihres Staates bezahlen, als es bei uns jemand für seine eigenen müsste.

Niemand soll anderen ausgeliefert sein

So, das ist also in dem Gleichnis schon mal klar, dass Schulden nichts Sachliches, Objektives sind, sondern ein Verhältnis zwischen Personen. Und nun geht es um die Frage: wie sollte dieses Verhältnis gestaltet sein? Und Jesus macht deutlich: aus Gottes Perspektive kann es nicht sein, dass Menschen für immer unter die Macht eines anderen kommen.

Deswegen gibt es schon im Alten Testament diese Regelungen des Schuldenerlasses – Schuldenschnitt würde das heute heißen. Einiges davon haben wir vorhin in der Lesung (3. Mose 25,35-43) gehört. Und das ist ja eingebettet in viele andere Regelungen, die alle darauf abzielen, dass Menschen durch Solidarität aus Notlagen herausgeholt werden, egal, wie die entstanden sind. Besser als Schulden ist es sowieso, Menschen in Not gleich zu unterstützen. Immer wieder wird deutlich: Gott ist kein Buchhalter, der pingelig darauf achtet, dass auf Heller und Pfennig zurückgezahlt wird. Gott ist am Leben interessiert. Er will, dass das Leben weitergehen kann. Deswegen sorgt er für Schuldenerlass und deswegen vergibt er Schuld.

Und die einzige Bedingung dafür ist, dass wir uns diese Logik Gottes dann auch selbst zu eigen machen. Es gibt eigentlich nur einen Weg, wie wir die Barmherzigkeit Gottes verspielen können: indem wir sie nicht weitergeben. Das ist ja das Erstaunliche in dem Gleichnis: dass dieser hohe Beamte, dem eben gerade sein Leben zurückgegeben worden ist, dass der jetzt völlig erbarmungslos gegenüber einem anderen ist, der ihm eine viel kleinere Summe schuldet. Und das kostet ihn am Ende auch die Gnade, die ihm schon erwiesen worden ist.

Das ist unsere Geschichte

Und man muss sagen: das ist im Augenblick auch unsere Geschichte mit Griechenland. Denn Deutschlands Wirtschaftswunder nach dem Krieg hängt auch damit zusammen, dass wir unsere Schulden erlassen bekamen. 1945 war der deutsche Staat mit 200% seines Sozialprodukts verschuldet. Das ist wesentlich mehr als die Schulden Griechenlands. Solche Schulden kann man nicht zurückzahlen. 1952/53 gab es deshalb die Londoner Schuldenkonferenz, auf der mehr als die Hälfte der deutschen Schulden erlassen wurden. Der Rest wurde neu geordnet und die Rückzahlungen wurden gestreckt. Und Ausgleichszahlungen für die Zerstörungen, die Hitlers Krieg in Europa angerichtet hat, wurden bis zum Friedensvertrag vertagt. Weil es aber nie einen Friedensvertrag gegeben hat, haben wir für diese Schäden nur sehr wenig freiwillig bezahlt. Die echten Schäden hätte auch niemand bezahlen können.

Klar, das war nicht reine Barmherzigkeit. Man wollte Deutschland schnell wieder auf die Beine bringen. Westdeutschland war damals zum Bollwerk gegen den Kommunismus geworden, das hätte nicht funktioniert, wenn hier Hunger und Elend geherrscht hätten. Aber die Länder, die damals auf die Eintreibung ihrer Schulden verzichtet haben, haben wohl auch gewusst, dass Frieden nicht stabil ist, wenn noch eine riesige Schuldenlast in der Welt zirkuliert. Es liegt kein Segen darauf, wenn einem Land die Luft zum Atmen genommen wird.

Das westdeutsche Wirtschaftswunder wurde u.a. dadurch möglich, dass uns damals enorme Schulden erlassen wurden und wir so einen neuen Anfang machen konnten. Wenn also heute besonders Deutschland auf dem Standpunkt steht, die Griechen müssten sparen, sparen, sparen, dann ist das genau die Methode, die uns damals erspart geblieben ist. Wir sind heute in der Position des Mannes, dem ganz viel erlassen worden ist und der jetzt viel kleinere Schulden erbarmungslos eintreibt. Und wenn man das Gleichnis Jesu zu Ende liest, dann kann man sich nur davor fürchten, wie Gott auf so etwas reagiert. Gott ist enorm großzügig, aber was er wirklich überhaupt nicht leiden kann, das ist, wenn jemand auf Barmherzigkeit mit Unbarmherzigkeit antwortet.

Die Menschen zahlen die Zeche

Aber auch ganz praktisch kann man sich fragen: was ist das für eine Politik, die dafür sorgt, dass Arbeitslose nach einem Jahr die Unterstützung verlieren, dass fast ein Drittel der Menschen ihre Krankenversicherung verlieren, Krankenhäuser schließen und viele sich Medikamente nicht mehr leisten können, dass 50 % der jungen Leute arbeitslos sind? Und wenn die Verantwortlichen das offenbar billigend in Kauf nehmen, werden sie sich um uns mehr Gedanken machen, wenn wir irgendwann mal in so eine Lage kommen? Liegen ihnen denn Menschen überhaupt am Herzen, egal ob Griechen, Syrer, Menschen vom Balkan oder Deutsche?

Und irgendwann ist es vielleicht so weit, dass Menschen so verzweifelt sind, dass sie zu verzweifelten Mitteln greifen. Die Amerikaner machen sich schon Sorgen, dass es da unten am Mittelmeer demnächst noch einen Krisenherd gibt, als ob die Lage in der Türkei, in Syrien und im Irak nicht schon dramatisch genug wäre. Wenn man Deutschland 1953 als Bollwerk gegen den Kommunismus stabilisieren wollte – wäre es nicht ebenso wichtig, heute in dieser Südostecke Europas, gleich neben den ganzen Krisengebieten in der Nachbarschaft, ein starkes, gesundes, blühendes Griechenland zu haben? Wie kurzsichtig ist es, stattdessen dort für noch mehr verzweifelte Leute zu sorgen? Und können die Menschen in all den zerstörten Staaten dort jetzt noch irgendeine Hoffnung auf Europa setzen?

Moral, Religion und Finanzen liegen eng beieinander

Vielleicht gibt es ja jemanden, der denkt: das ist doch ein Gleichnis, und in Wirklichkeit geht es um religiöse Schuld, nicht um etwas so Profanes wie finanzielle Fragen. Aber es ist die gleiche Haltung, wenn man jemanden in die moralische Schuldenfalle steckt, indem man ihm immer wieder seine Verfehlungen unter die Nase reibt, oder ob man ihn in finanzieller Abhängigkeit hält. Und es ist ja erstaunlich, wie sich in der öffentlichen Diskussion beides immer wieder verbindet: die Gnadenlosigkeit im Finanziellen hat immer auch moralische Untertöne – dass die endlich ihre Hausaufgaben machen sollen, dass die sich auf die Tugenden der sparsamen schwäbischen Hausfrau besinnen.

Die ganze Materie ist viel zu kompliziert für solche einfachen Muster. Man muss ziemlich suchen, bis man herausfindet, worum es im Kern der Sache geht. Eine Predigt kommt da an ihre Grenzen. Aber wenn man es einfach haben will, dann bitte so einfach, wie es die Bibel macht:

Gott ist barmherzig, und wir sollen uns an ihm ein Beispiel nehmen. Weil das das Leben fördert und in unserem eigen Interesse ist. Menschen in Abhängigkeit zu lassen, vergiftet die Atmosphäre für alle. Gott schenkt Freiheit, und wir sollen es auch tun.

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