Krise? Welche Krise?

Predigt im Besonderen Gottesdienst am 25. Januar 2009 mit Matthäus 16,1-4

 

 
 

Einleitende Präsentation:

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Am 10. April 1912 mittags legte der neugebaute Dampfer »Titanic« in Southampton zu seiner ersten Fahrt nach Amerika ab. An Bord befanden sich über 1300 Passagiere und 900 Besatzungsmitglieder.

Die Titanic war zu dieser Zeit mit 45.000 Bruttoregistertonnen das größte Schiff der Welt. Nach heutigem Wert hatte es ungefähr 400 Millionen Dollar gekostet.

Das Schiff war in der ersten Klasse mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet. Sogar die Reisenden der Dritten Klasse konnten wesentlich bequemer reisen als auf früheren Schiffen.

Vor allem aber sollten durch die luxuriöse Ausstattung Passagiere für die Erste Klasse gewonnen werden. So befanden sich einige Multimillionäre und viele Prominente an Bord.

Nach Zwischenstopps in Frankreich und Irland nahm die Titanic Kurs auf New York. Kapitän Smith und seine Offiziere wussten schon vor der Abfahrt, dass das Treibeis auf dieser Route umfangreicher war als in allen Jahren zuvor.

Am Mittag des 14. April erhielt die Titanic eine Eiswarnung von der Caronia. Diesen Funkspruch zeigte Kapitän Smith dem zweiten Offizier und ließ ihn im Kartenraum aufhängen. Gegen 13.40 Uhr empfingen die Funker der Titanic einen Funkspruch, aus dem sie erfuhren, dass ein griechischer Dampfer Eisberge und ausgedehnte Treibeisfelder gesichtet habe. Diesem Spruch, der sofort an den Kapitän weitergeleitet wurde, schenkte Smith keine große Beachtung.

Eine Eiswarnung der California kam gegen 18.30 Uhr bei der Titanic nicht an, da Funker Harold Bride das Gerät abgeschaltet hatte. Um 19.30 Uhr fing er die Meldung doch noch auf. Die California meldete, sie habe drei große Eisberge gesehen. Bride bestätigte und gab den Spruch an die Brücke weiter. Um 21.30 Uhr kam abermals eine Nachricht. Der Dampfer Mesaba berichtete von einem Eisfeld mit viel Packeis sowie Treibeis. Da Funker Phillips ziemlich beschäftigt war und bereits viele andere Eiswarnungen eingegangen waren, erschien ihm dieser Spruch nicht mehr so wichtig, als dass er ihn unbedingt an die Kommandobrücke weiterleiten müsse. Das war fatal, denn anders als die anderen Meldungen, die nur von einzelnen Eisbergen berichteten, hatte die Mesaba ein gigantisches, sozusagen rechteckiges Eisfeld samt Maßangabe gemeldet.

Trotzdem fuhr die Titanic mit voller Geschwindigkeit weiter. Ein letzter Funkspruch erreichte Phillips von der Californian, die von Eis umgeben sei und fest stecke. Der Kontakt wurde aber von Phillips unwirsch unterbrochen und dieser fuhr mit anderen Funksprüchen fort. Untersuchungen ergaben später, dass nur der Funkspruch der Caronia im Kartenraum ausgehängt wurde. Von den anderen Eiswarnungen hatten Smiths Offiziere also keine Ahnung.

Als der Ausguck um 23.40 Uhr direkt voraus einen Eisberg entdeckte, war es zu spät für ein Ausweichmanöver. Die Titanic kollidierte bei voller Reisegeschwindigkeit ungebremst mit ihrer vorderen Steuerbordseite mit dem circa 300.000 Tonnen schweren Eisgebilde. Durch mehrere große Lecks strömte sofort Wasser ein.

Zweieinhalb Stunden lang konnten die Ingenieure und Maschinisten das Schiff noch über Wasser halten, dann zerbrach es und versank in der Tiefe des Atlantiks. Nur 700 Menschen wurden gerettet; 1500 starben. Kapitän Smith ging mit seinem Schiff unter.

Obwohl noch viele Menschen im Wasser trieben und viele Rettungsboote nicht voll besetzt waren, kehrte nur ein einziges Boot um und rettete 5 Menschen aus der eiskalten See.

Begrüßung:

Die Geschichte des Dampfers Titanic beschäftigt die Menschen nun schon seit beinahe 100 Jahren, und eben nicht nur, weil dies eine der großen Katastrophen in der Geschichte der Seefahrt ist. Diese Katastrophe beschäftigt uns, weil sie vermeidbar gewesen wäre. Wenn Kapitän Smith vorsichtiger gefahren wäre, wenn die Eiswarnungen rechtzeitig die Schiffsleitung erreicht hätte, wenn genügend Rettungsboote an Bord gewesen wären, wenn die Rettungsboote wenigstens voll besetzt gewesen wären, dann hätten nicht 1500 Menschen sterben müssen. Viele Warnlichter haben aufgeleuchtet, aber keins wurde beachtet.

Und natürlich kommt dazu noch eine gehörige Portion Selbstsicherheit: das größte Schiff der Welt war die Titanic, unsinkbar angeblich. Zu große Selbstsicherheit macht unvorsichtig. Und so nahm das Unglück seinen Lauf. Von der Krise bis zur Katastrophe waren es drei Minuten: drei Minuten vom ersten Warnsignal des Ausgucks bis zur Kollision.

Und wenn wir an diese Geschichte denken, dann werden wir die dunkle Ahnung nicht los, dass unsere Zivilisation auch so ein ahnungsloser Riese sein könnte, der auf direktem Kollisionskurs fährt, bloß wir wissen nicht, wie weit es noch ist bis zum Eisberg. Aber immer wieder gibt es Warnsignale. Die Finanzkrise im vergangenen Herbst war sicher so ein Signal. Aber die Finanzkrise ist wahrscheinlich noch harmlos im Vergleich zu den Krisen, die uns drohen, wenn unsere Umwelt gründlich durcheinandergerät, wenn die Atmosphäre sich erwärmt und die Energievorräte zu Ende gehen.

Und immer wieder gibt es diesen Zusammenhang: je länger eine Krise ignoriert wird, je länger die Warnsignale nicht ankommen, um so größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass aus der Krise eine Katastrophe wird.

Wir werden deshalb heute miteinander darüber nachdenken, wie Krisen eigentlich funktionieren, und wie man darauf reagieren kann. In der Bibel finden wir ziemlich viele Geschichten von Krisen und auch von einigen Katastrophen. Dort und durch einige Krisengeschichten, die wir im Lauf dieses Gottesdienstes noch hören werden, werden wir merken, wie unterschiedlich Krisen verlaufen können. Aber gemeinsam ist ihnen eigentlich fast immer, dass Warnzeichen zu lange übersehen werden, und dass es dadurch erst wirklich schlimm wird.

Trotz allem sind Krisen auch immer Chancen. Sie können uns herausholen aus dem gewohnten Trott, uns die Augen öffnen und uns bereit machen für neue Sichtweisen und neue Wege. Wenn wir vom Tod bedroht sind, verankern wir uns manchmal neu im Leben.

Aber man braucht Mut, um seinen Ahnungen zu trauen und nicht die Augen zu schließen. Man muss unabhängig sein. Gott ist es, der Mut gibt und unabhängig macht.
 

Lesung:

Matthäus 16,1 Die Pharisäer und Sadduzäer kamen zu Jesus, um ihn auf die Probe zu stellen. Sie verlangten von ihm ein Zeichen vom Himmel als Beweis dafür, dass er wirklich von Gott beauftragt sei. 2 Aber Jesus antwortete ihnen: »Wenn der Abendhimmel rot ist, dann sagt ihr: Morgen gibt es schönes Wetter. 3 Und wenn der Morgenhimmel rot und trübe ist, sagt ihr: Heute gibt es Sturm. Ihr könnt also das Aussehen des Himmels beurteilen und schließt daraus, wie das Wetter wird. Warum versteht ihr dann nicht auch, was die Ereignisse dieser Zeit ankündigen? 4 Diese böse Generation, die von Gott nichts wissen will, verlangt einen Beweis; aber es wird ihr keiner gegeben werden – ausgenommen das Wunder, das am Propheten Jona geschah: Den Beweis werden sie bekommen!« Damit ließ er sie stehen und ging weg.

Vier Krisengeschichten:

  1. Der Vater
    Joachim Ruß wusste nicht, wie er es seiner Frau sagen sollte. Dass ihre Tochter schwer krank war, wussten sie schon lange. Aber heute hatte ihm der Arzt mitgeteilt, dass es keine Hoffnung mehr gab. Er hatte ihn nicht angesehen, sondern über seine Schulter in die rechte obere Ecke des Raumes geschaut. Der Weg nach Hause war für ihn noch nie so schwer gewesen.
    Erst kurz vor der Haustür schlich sich wieder eine ganz winzige Hoffnung in seine Gedanken. Neulich hatte ihm jemand einen Tipp gegeben: es gebe da einen Heiler, der nicht mit den Methoden der Schulmedizin, sondern mit alternativen Methoden arbeiten würde und auch in ganz hoffnungslosen Fällen noch geholfen habe. Joachim Ruß war natürlich klar, was die Kollegen und auch die Familie sagen würden, wenn er seine Tochter jetzt noch einem Scharlatan auslieferte. Er selbst hatte früher auf Menschen herabgesehen, die so verzweifelt waren, dass sie nach jedem Strohhalm griffen. Aber jetzt, wo er jeden Tag den Tod seines Kindes erwarten musste, jetzt konnte er sie verstehen. Er beschloss, gar nicht erst auf seine Frau zu warten. Er legte ihr einen Zettel hin, den sie finden musste, wenn sie zurückkam. Er brauchte nicht lange, um die Adresse herauszufinden. Dann machte er sich auf den Weg.
    Zwei Tage später ist ein Wunder geschehen: die Tochter befindet sich eindeutig auf dem Weg zur Genesung. »Es ist, als ob auch uns das Leben neu geschenkt worden ist« sagen Joachim Ruß und seine Frau.

  2. Die Firma
    Gerd Endenburgs Elektronikfirma war ursprünglich ein kleiner Familienbetrieb gewesen. Aber nachdem er sie von seinen Eltern übernommen hatte, spezialisierte er sich auf den Bau von elektronischen Systemen für Hochseeschiffe. Die Firma wuchs und wuchs. Bald hatte er 150 Mitarbeiter.
    Als Gerd Endenburg Mitte dreißig ist, verändern sich die Märkte. Die Kunden, meistens Werften mittlerer Größe, kaufen ihre Elektronik immer öfter in Asien, irgendwann bestellen sie gar nichts mehr. Die Firma gerät in Not. Endenburg sieht keinen anderen Ausweg, als 60 Beschäftigte zu entlassen. Den Sozialplan hat er schon mit der Gewerkschaft ausgehandelt.
    Da meldet sich auf einer Betriebsversammlung einer der Schlosser zu Wort. Er sagt, die Bewältigung der Krise sei eigentlich eine Gemeinschaftsaufgabe. Wenn alle zusammenhalten, müssten sie doch einen Ausweg finden. Die Belegschaft hört ihm zu – und immer mehr Mitarbeitern erscheint das als ein ungewöhnlicher, aber richtiger Vorschlag. So ziehen sie alle los, um Aufträge zu finden: ob Ingenieur, Elektroniker, Monteur, EDV-Experte oder kaufmännischer Angestellter. Sie fragen auf Baustellen, ob sie Leitungen installieren können, sie sprechen wahllos Unternehmen an.

    Nach sieben Monaten sind die Auftragsbücher wieder voll. Die Firma hat sich neue Geschäftsfelder erschlossen: Notstromanlagen und radargestützte Sicherheitssysteme. Endenburg muss niemanden entlassen, nein, er stellt sogar zusätzliche Mitarbeiter ein.

  3. Der neue Präsident
    Als der neue Präsident sein Amt antrat, machte er einer langen Periode des Niedergangs, des moralischen Verfalls und des Schlendrians ein Ende. Je tiefer er die Machenschaften seines Vorgängers durchschaute, um so mehr widerte ihn das Erbe an, das er übernommen hatte. Ihm wurde klar: das Schicksal der ganzen Nation steht auf der Kippe. Wir müssen zurück zu den alten Werten, auf die unsere Vorväter dieses Land gegründet haben. Energisch packte er die Aufgabe an. Überall sprach er vom notwendigen Wandel und er ermutigte andere, es ebenfalls zu tun. Ein großer Aufbruch voller Hoffnung ergriff das Land. Die Geschichtsschreiber sind sich einig, dass er einer der größten Präsidenten in der Geschichte war, vielleicht der Größte nach den Gründervätern.
    Leider blieb ihm ein dauerhafter Erfolg versagt: durch einen gewaltsamen Tod wurde er mitten aus seiner Arbeit herausgerissen. Wäre er am Leben geblieben, dann wäre die Wende vielleicht noch möglich gewesen. Aber ohne ihn war der Niedergang nicht mehr aufzuhalten.

  4. Der Finanzjongleur
    John D. Greedy war heute gar nicht gut drauf. Von einem alten Kumpel hatte er den Tipp bekommen, dass Leute von der Bankenaufsicht angefangen hatten, sich um die Geschäftsmethoden seiner Finanzmaklerfirma zu kümmern. Und da gab es natürlich einiges, was bei einer Nachprüfung ans Licht kommen würde. Um das Gefängnis würde er wohl herumkommen, glaubte er. Er hatte immer darauf geachtet, dass alles einigermaßen legal aussah und mögliche Beweise verschwanden. Seine guten Beziehungen und sein Anwalt würden ihn wahrscheinlich vor einer langjährigen Haftstrafe beschützen.
    Anders war es mit den finanziellen Konsequenzen. In Gedanken sah er schon, wie sein Vermögen auf seine Gläubiger aufgeteilt wurde und seine Villa in bester Lage ebenso unter den Hammer kam wie der neue Ferrari, den er sich gerade erst zu Weihnachten geschenkt hatte. Ihm war klar, dass seine betrogenen Kunden auf das Fest der Liebe keine Rücksicht nehmen würden. Aber worauf zum Teufel sollte man sich verlassen, wenn noch nicht einmal Konten und Immobilien sicher waren?
    Da kam ihm eine Idee, und er zögerte nicht, sie sofort auszuführen. Von einer Telefonzelle aus rief er einige seiner besten Kunden an und schenkte ihnen reinen Wein ein. Er warnte sie, dass ihre Zertifikate in wenigen Tagen nur noch den Wert des Papiers haben könnten, auf den sie gedruckt waren. Solche Tipps kurz vor einem Bankrott konnten Millionen wert sein.
    Ein Jahr später interessierte sich niemand mehr für John D. Greedy. Die Zeitungen schrieben schon längst wieder über andere, neuere Affären. Dabei hätten sie gerade über ihn Erstaunliches berichten können: nachdem der Prozess gegen ihn aus Mangel an Beweisen eingestellt worden war, führte er auch weiterhin ein ziemlich luxuriöses Leben. Ehemalige Kunden von ihm liehen ihm großzügig Autos; er war gern gesehener Gast in ihren Ferienhäusern, und Geld schien er auch zu haben. Aber beweisen konnte das nie jemand. Und so lehrt diese Geschichte, dass die Dankbarkeit unter den Menschen eben doch nicht so selten ist, wie man manchmal denkt.

Predigt:

Lauter Krisengeschichten haben wir gehört. Keine ist wie die andere. Manche gehen gut aus, andere nicht. Was ist das Gemeinsame all dieser Geschichten? Ich sage es mal so: in jeder Krise wird etwas unübersehbar, was bis dahin von den meisten oder von allen nicht wahrgenommen wurde. Bei der Titanic war das der Eisberg. In der Geschichte mit dem kranken Mädchen war es die unmittelbare Lebensgefahr. Die Krise der Elektrofirma machte den Wandel der Märkte unübersehbar. Der neue Präsident sprach aus, dass sein Land in den Niedergang schlittert. Der windige Finanzjongleur merkt, dass seine Geschäfte auffliegen werden. Immer geht es darum, dass für einen oder meistens für mehrere unübersehbar wird: wenn ich jetzt nichts tue, gibt es eine Katastrophe! Und meistens tun sie dann auch etwas, und manchmal wendet das die Katastrophe noch ab und manchmal nicht.

Das heißt, wann eine Krise ausbricht, das hat auch immer mit unserer Wahrnehmung zu tun. Wie früh wir ein Problem spüren und merken, dass wir etwas ändern müssen, das hängt auch von uns ab. Wir können die Krise hinausschieben, indem wir die Eiswarnungen ignorieren, aber irgendwann kommt die Krise trotzdem, und je länger wir sie ignoriert haben, um so gefährlicher wird sie.

Das meinte Jesus, als er zu den Pharisäern sagte: ihr schließt vom Aussehen des Himmels auf das Wetter von morgen, aber die Zeichen der Zeit lesen, das tut ihr nicht. Und er meinte damit: mit Wetterprognosen habt ihr kein Problem, obwohl die höchst wacklig sind. Das ist bis heute so geblieben, dass die Wettervorhersage ein riskantes Geschäft ist. Obwohl das jeder weiß, versuchen wir es immer wieder, uns auf den angekündigten Eisregen von morgen früh einzustellen. Aber wenn es um die Zeichen der Zeit geht, sagt Jesus, wenn es darum geht, sich auf die künftige Entwicklung der Gesellschaft und auf Gottes Handeln und überhaupt auf die Zukunft vorzubereiten, dann denkt ihr erstaunlich wenig nach. Dann verlangt ihr auf einmal Sicherheiten und Beweise, die noch nicht mal die Wettervorhersage geben kann.

Jesus macht darauf aufmerksam, dass wir dazu neigen, die Krisenanzeichen so lange wie möglich zu ignorieren. Das hat ja auch einen gewissen Sinn: so lange wir es schaffen, die Krisenanzeichen zu ignorieren, so lange gibt es noch keine Krise. Und das kommt uns entgegen, denn eine Krise ist nichts Angenehmes. Wenn aber der Eisberg unübersehbar ist, dann ist die Krise wirklich da, aber drei Minuten später folgt schon die Katastrophe. Also: wer die Krise rechtzeitig erkennt, der kann noch das Steuer herumreißen. Wer zu lange wartet, bleibt zwar länger in seiner Komfortzone, aber möglicherweise zahlt er einen hohen Preis für diesen Aufschub. Die Frage, ob man rechtzeitig merkt, worauf man zusteuert, ist in jeder Krise entscheidend. Und wie viele Geschichten gibt es darüber, dass Einzelne schon früh merken, was da auf uns zukommt, aber die anderen wollen ihre Warnungen nicht hören.

Zum Glück ist es so, dass zu einer Krise nicht nur die Gefahr gehört, sondern da finden wir auf einmal auch Lösungen, zu denen wir sonst nie gegriffen hätten. Zu einem obskuren Wunderheiler zu gehen oder die ganze Belegschaft einer Firma auf die Suche nach Aufträgen zu schicken – in normalen Zeiten würde nie jemand auf so eine Idee kommen. Aber wenn man kurz vor der Katastrophe steht, dann greift man manchmal auch zu abenteuerlichen Lösungen.

Der Dichter Friedrich Hölderlin hat das so ausgedrückt: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«. Eine Krise bringt nicht nur die Gefahr ans Licht, sondern sie zeigt uns auch Hilfen, die wir vorher nicht erkannt haben. Übrigens, wenn man sich dieses Hölderlin-Gedicht ganz anschaut, dann merkt man, dass das bei ihm nicht nur ein frommer Wunsch ist, sondern Hölderlin denkt von Gottes Möglichkeiten her. »Denn noch lebt Christus« schreibt er in der vorletzten Strophe. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass in Krisen auch die Rettung sichtbar wird, sondern das ist eine Glaubensaussage, dass in dieser Welt trotz allem auch das Rettende für uns bereit steht. Krisen enthüllen nicht nur die Gefahr, sondern auch Christus, der unter uns lebt.

Wenn wir es so sehen, dann kommen wir zu einer neuen Sicht auf unsere Krisen. Das sind Momente, wo wir herausgerissen werden aus unserer selbstverständlichen Art zu leben und Möglichkeiten sehen, an die wir vorher nie gedacht hätten. Gegen die Gefahren, die uns bedrohen, suchen wir nach Handlungen, in denen wir das Leben bejahen und uns fester im Leben verankern. Das gilt selbst noch mitten in einer Katastrophe wie beim Untergang der Titanic: das eine Rettungsboot ist umgekehrt und hat wenigstens versucht, ein paar Menschen zu retten und das andere nicht. Die Ingenieure und Maschinisten haben bis zuletzt daran gearbeitet, das Schiff stabil zu halten und sind dann alle mit dem Schiff untergegangen. Aber sie haben sich damit für das Leben entschieden, sich im Leben festgemacht, und das ist niemals sinnlos.

Denkens Sie auch an den Präsidenten, von dem wir vorhin gehört haben, dessen mutige Anstrengungen, sein Land vom Abgrund zurück zu reißen, am Ende scheiterten. War seine Arbeit deshalb sinnlos? Nein, die Menschen denken bis heute mit großer Achtung von ihm, und er hat viele andere inspiriert. In Wirklichkeit war das übrigens kein Präsident, ich habe die Geschichte etwas verfremdet. Das war der israelische König Josia, der versucht hat, das Schicksal seines Volkes noch zu wenden, aber der ägyptische Pharao ließ ihn anscheinend heimtückisch umbringen, und Jerusalem wurde bald darauf erobert und zerstört und die Menschen in die babylonische Gefangenschaft deportiert. Aber im zweiten Buch der Könige (23,25) heißt es: so einen guten König wie Josia gab es vorher und nachher nicht wieder. Und was er getan hat, das hat doch Früchte getragen, wenn auch viel später und ganz anders, als er es gedacht hat. Auch wenn es für Israel damals zu spät war, es ist nie zu spät, eine mutige und befreiende Tat zu tun.

Das Problem ist ja, dass es die Menschen gibt, die erst die Katastrophe nicht sehen wollen und anschließend, wenn sie unübersehbar ist, sagen: jetzt ist es zu spät, jetzt können wir sowieso nichts mehr machen. Aber in Wirklichkeit gibt es dazwischen ein Zeitfenster, in dem man mit Aussicht auf Erfolg handeln kann; ein Zeitfenster, wo die Menschen schon aufwachen und es noch nicht zu spät ist. Es gibt keine Garantie, dass man dann die Katastrophe abwendet, aber auch der kleinste Versuch ist sinnvoll. Denken Sie an die Verschwörer des 20. Juli 1944 an die wir durch den Film „Operation Walküre“ jetzt immer wieder erinnert werden: Es ist ihnen nicht gelungen, Hitler zu töten, es ist ihnen nicht gelungen, die Niederlage im Krieg abzuwenden, es war alles schon viel zu spät, aber deswegen war es nicht sinnlos, und der Mut dieser Männer und Frauen gehört zu dem Erbe, von dem wir bis heute zehren.

Aber man muss nicht König oder Präsident oder Kapitän oder Offizier sein, um in einer Krise richtig zu handeln. Denken Sie an die vielen Menschen, die im Angesicht einer lebensbedrohenden Krankheit ihr Leben mit neuen Augen gesehen haben und sich auf ganz unterschiedliche Weise neu im Leben verankert haben. Es ist manchmal erst wirkliche Lebensgefahr, die uns dazu bringt, die Dinge neu zu sehen und danach zu fragen, was denn bleibt und was tragfähig ist. Und wenn wir an diesen Früchten der Krise festhalten, dann werden wir eines Tages im Rückblick Gott für unsere Krisen danken können, weil uns da die Augen aufgegangen sind für das wirkliche, echte Leben.

Dafür steht der Mann mit dem kranken Kind, von dem wir vorhin gehört haben. Auch das ist eine wahre Geschichte, nur hieß der Mann nicht Joachim Ruß, sondern Jairus, und die Geschichte steht im Markusevangelium (5,21-24.35-43): der Synagogenvorsteher Jairus hat sich angesichts der Krankheit seiner Tochter überwunden und ist zu dem Rabbi Jesus gelaufen, der im Kreise seiner Vorsteherkollegen einen sehr schlechten Ruf hatte; und er wurde mit dem Leben seiner Tochter belohnt. Ohne diese Liebe zu seiner todkranken Tochter wäre er wohl nie im Leben zu Jesus gekommen. So drängt uns Gott durch Krisen und Gefahren, die Dinge neu zu sehen und seine Möglichkeiten zu entdecken.

Die Geschichte von dem Elektronikbetrieb, der in Not geraten ist, die ist auch wirklich passiert (Quelle: brandeins, Januar 2009, Seite 146), sie ist aber nicht aus der Bibel, sondern aus Holland. An der kann man sehen, wie wichtig es ist, dass es viele Menschen sind, die eine Krise wahrnehmen und auf die Suche nach dem Rettenden gehen. Wenn viele Menschen in einer Krise aktiviert werden und Ausschau halten nach solchen rettenden Möglichkeiten, wenn sie sich einbringen wollen und die Verantwortlichen ihnen auch den Raum dafür geben, dann sind die Aussichten auch in einer verzweifelten Lage gar nicht so schlecht. Und das gibt uns Hoffnung, wenn wir an die globalen Gefahren denken, auf die wir zugehen: die Erwärmung der Erdatmosphäre, die drohende Energieknappheit, die militärischen Konflikte, die daraus entstehen können. Zum Glück gibt es inzwischen viele Menschen, die anfangen, aufzuwachen und die Krise wahrzunehmen. Wenn dann auch noch eine politische Führung dazu kommt, die die Zeichen der Zeit erkennt und den Wandel auf die politische Tagesordnung setzt, dann kann es sehr schnell eine Wende zum Besseren geben.

Es ist eigentlich nicht erstaunlich, dass der Slogan von Barack Obama so viele Menschen bewegt hat: »Yes, we can« – ja, da ist etwas möglich, ja, wir haben ein Potential, ja, es kommt letztlich auf uns alle an. Erstaunlich ist, dass jemand, der politisch an die Spitze will, an diesen Überzeugungen festhält und sich jedenfalls bis jetzt nicht davon abbringen lässt, Menschen ganzheitlich anzusprechen, mit ihren Träumen und Hoffnungen, und das Beste an ihnen anzusprechen.

Jesus hat immer diese Bereitschaft gelobt, rechtzeitig und entschlossen die Konsequenzen aus einer ungewöhnlichen Lage zu ziehen. Er hat das sogar an Leuten gerühmt, die sonst eigentlich keine Vorbilder sind. Er hat in einem seiner Gleichnisse von dem unehrlichen Geschäftsführer erzählt, der noch schnell seine Schäfchen ins Trockene gebracht hat, bevor sein Betrug herauskam, und das war dann vorhin die Geschichte von John D. Greedy. Ein schmieriger, unsympathischer Typ, aber er konnte die Krise kommen sehen und hat nicht voll Selbstsicherheit weitergemacht wie vorher, sondern hat sich entschlossen auf die neue Lage eingestellt.

Es ist die arrogante Selbstsicherheit, mit der ein Käpt’n Smith mit Vollgas auf den Eisberg zusteuert; die sture Selbstsicherheit, mit der ein Präsident Bush über Jahre sein Land und dessen Werte gegen die Wand steuert; die feige Selbstsicherheit, mit der Politiker bei uns in der Krise auch noch die Benzinfresser subventionieren wollen; aber auch die überhebliche Selbstsicherheit, mit der so viele Menschen in unserem Land glauben, sie könnten die Botschaft Jesu von der Lebenserneuerung aus der Kraft des Heiligen Geistes auf der Hitliste ihres Lebens irgendwo an Platz 23 setzen.

Nicht jede Krise geht gut aus. Manchmal kommen die besten Bemühungen zu spät. Aber sinnlos sind sie nie. Es ist immer richtig, das Leben zu wählen. Nichts davon geht verloren, weil Gott es sieht und aus all diesen Mosaiksteinen seine neue Welt baut. Denkfaulheit und Arroganz zahlen sich nie aus. Wenn wir das wirklich verstehen, dann werden wir auch die Augen für die Zeichen der Zeit öffnen und in jeder Krise unsere besten Möglichkeiten entdecken.

Wir danken Gott, dass er die Welt so eingerichtet hat, dass mitten in Dunkel und Verderben immer noch das Rettende wachsen kann. Wir danken Gott, dass Jesus Christus unter uns lebt.