Die kollektive Rauschbrille

Predigt am 2. Juli 2017 zu Matthäus 6,16-23 (Predigtreihe Bergpredigt 9)

Jesus sprach: 16 Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer dreinsehen wie die Heuchler; denn sie verstellen ihr Gesicht, um sich vor den Leuten zu zeigen mit ihrem Fasten. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.
17 Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht, 18 damit du dich nicht vor den Leuten zeigst mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.
19 Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo Motten und Rost sie fressen und wo Diebe einbrechen und stehlen. 20 Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motten noch Rost sie fressen und wo Diebe nicht einbrechen und stehlen. 21 Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.
22 Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. 23 Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!

In diesem Abschnitt der Bergpredigt geht es zuerst noch einmal um das Thema der falschen Frömmigkeit, die sich nicht auf Gott richtet, sondern der es um die Wirkung auf Menschen geht. Fasten ist eine geistliche Übung, die uns stärker machen soll, weil wir uns da mit unserer Schwäche auseinandersetzen müssen: wer für eine Zeit auf Nahrung verzichtet, macht sich selbst schwach, und dann erkennt man besser, wer man selbst ist. Was für ein Mensch wirst du sein, wenn du von der Zufuhr an Wohlbefinden abgeschnitten bist, die ein gefüllter Bauch mit sich bringt? Was macht es mit dir, wenn du dich nicht mit ein paar Süßigkeiten über Frust wegtrösten kannst? Du lernst dich selbst besser kennen und musst andere Wege finden, um mit dem Mangel umzugehen.

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Genau dieser Effekt geht verloren, wenn man die Defiziterfahrung des Fastens kompensiert mit dem erfreulichen Gefühl, dass man durch seinen religiösen Eifer in der Achtung der Mitmenschen ein ganzes Stück nach oben geklettert ist. Wobei man heute jedes Mal dazu sagen muss, dass unter modernen Verhältnissen Frömmigkeit keine Punkte mehr bringt, auch wenn Leute immer noch auf dem Klischee vom frommen Heuchler herumreiten. Wenn sich jemand über Heuchler aufregen möchte, dann sollte er sich lieber mit denen auseinandersetzen, die allen anderen predigen, sie sollten den Gürtel enger schnallen, aber sich selbst dafür teure Gehälter bezahlen lassen. Zu Jesu Zeiten konnte man sich noch mit Frömmigkeit profilieren, heute musst du Biotope, wo das noch funktioniert, mit der Lupe suchen.

Gespeicherte Lebensenergie

Aber in unserem Textabschnitt wird ja allmählich deutlich, dass es bei der Frage der kalkulierenden Frömmigkeit sowieso um einen tieferen Zusammenhang geht, nämlich um die Frage, wo man sich Schätze sammelt: auf Erden, also da, wo es sichtbar ist und einigermaßen kalkulierbar ist, oder im Himmel, im verborgenen Bereich Gottes, wo man nicht kalkulieren kann, sondern sich auf die Treue Gottes verlassen muss?

Schätze sind ja so etwas wie gespeicherte Lebensenergie: für deine Arbeitskraft, für deine Lebenszeit bekommst du Geld, und das kannst du dann als Schatz horten: unter der Matratze oder auf dem Bankkonto. Aber wenn ein Einbrecher kommt, dann guckt der zuerst unter die Matratze, und schon ist deine ganze gesammelte Lebensenergie futsch. Oder die Inflation kommt, die Bank macht pleite, Hacker greifen deine Kontodaten ab, und schon ist auch die Lebensenergie auf dem Konto weg.

In jedem einzelnen Moment gehört deine Kraft und deine Zeit dir, aber wenn du sie irgendwo speicherst, dann können andere sie sich holen. Auch das Ansehen, das du bei anderen hast, dein soziales Kapital, ist so eine Art Schatz: du hast lange hart daran gearbeitet, aber dann verbreitet einer trickreich Lügen über dich, und alles war umsonst.

Was ist schon sicher?

Deswegen sagt Jesus: wenn du dir Schätze sammeln willst, die nicht den Bach runtergehen, dann investiere deine Lebenskraft, deine Zeit, dein Geld, dein Ansehen und was du sonst zur Verfügung hast, in die neue Welt, die Gott im Verborgenen baut: ein verborgenes Netzwerk, das die ganze Welt durchzieht. Ein Netzwerk des Lebens und der Freiheit. Zwischen Jesus und seinen Jüngern ist es zuerst sichtbar geworden: Lauter Menschen, die bei ihm gelernt haben, wie sich richtiges Leben anfühlt, wie man die Kraft Gottes weitergibt, so dass sie Menschen aufatmen lässt, sie heilt und zum Segen werden lässt.

Normalerweise denken Menschen: so etwas Unsichtbares, was sich nicht greifen und nicht definieren lässt, das ist doch nicht sicher. Jesus würde wohl zurückfragen: aber Geld auf der Bank oder an den Finanzmärkten, Familie, Gesundheit, Ansehen und all diese Dinge – sind die denn sicher? All das kannst du von einem Tag auf den anderen verlieren, genügend Menschen haben das erleben müssen. Wäre es nicht eine gute Idee, stattdessen Schätze im Himmel zu sammeln, wo die Einbrecher nicht vorbeikommen können? Ist es nicht viel sicherer, auf das Verborgene zu vertrauen als auf das Sichtbare, was nur so tut, als ob es sicher wäre?

Das Wahrnehmungsproblem

Und Jesus schließt den Satz an, dass es auf unsere Augen ankommt, auf unsere Art, die Welt zu sehen. Die wenigsten Menschen richten deshalb Unheil an, weil sie sich vorgenommen habe, jetzt mal was richtig Böses zu tun. Fast alle Menschen möchten gut sein. Das Problem entsteht viel früher: bei der Art, wie wir die Welt sehen.

Ich hatte neulich für das Gemeindefest sogenannte »Rauschbrillen« ausgeliehen, das sind Apparate, die du dir aufsetzt, und dann siehst du die Welt ungefähr so, wie wenn du schon ein paar Schnaps und Bier geschluckt hättest. Und ich dachte, das wäre doch nett, wenn wir damit so ein Spiel machen könnten: wer es schafft, mit so einer Brille 10 Meter geradeaus auf einer Linie zu laufen, der kriegt 10 Punkte. Aber dann habe ich es erstmal selbst ausprobiert und merkte: nein, das können wir nicht machen, nachher wird einem schwindlig dabei und er kippt um und bricht sich was oder so ähnlich.

Die Konfirmanden fanden es schade.

»Gut gemeint« reicht nicht

Aber das war eine drastische Illustration zu diesem Jesus-Satz »Das Auge ist das Licht des Leibes.« Du kannst die besten Absichten haben, aber wenn deine Wahrnehmung gestört ist, dann ist die Wirksamkeit deiner guten Absichten sehr begrenzt, und du kannst auch bei besten Absichten ziemlich viel Schaden anrichten. Es ist dann eben nur noch »gut gemeint«.

Wir sind in unserer Wahrnehmung behindert, weil wir nicht sehen, was für eine wichtige Rolle die verborgene Seite der Welt spielt, der »Himmel«. Ein ganz schlimmes Beispiel sind all die Kriege von Syrien bis Afghanistan, wo der Westen mit großer militärischer Macht immer mehr Chaos angerichtet hat, weil man nur auf die sichtbare Seite gesetzt hat: Bomben, Drohnen, Geld, Technik. Aber viel wichtiger ist die unsichtbare Seite: was Menschen glauben und hoffen, wo sie verletzt oder beleidigt sind, worauf sie vertrauen und worauf nicht. Und wer das nicht mit einkalkuliert, der läuft mit einer weltanschaulichen Rauschbrille durch die Welt und zieht eine Spur von Blut und Trümmern hinter sich her.

Weltanschauliche Scheuklappen

Ganz besonders in der Neuzeit sind wir auf diesem Auge enorm blind, weil wir jetzt Realität geradezu definieren als das, was man sehen, anfassen, messen und berechnen kann. Wir ignorieren das Unsichtbare schon in unserer ganzen Weltanschauung. Aber natürlich waren Menschen auch zu Jesu Zeiten schon in Versuchung, für ihr sehr irdisches Ansehen bei Menschen fromm zu sein und nicht, weil sie wirklich den Himmel im Blick hatten, diesen unsichtbaren Bereich, für den Gott die Bürgschaft übernimmt und wo sein Wille jetzt schon geschieht.

In der modernen Welt ist es aber so weit gekommen, dass diese verzerrte Sicht: Sicherheit, Geld, Ansehen und Macht als die allein realistischen Faktoren zu sehen, dass das die offizielle Weltanschauung ist. Weil wir aber dem Geld und der Sicherheit nicht wirklich vertrauen können, deshalb schleicht sich die Angst in unser Leben ein, und wir wollen immer mehr an Sicherheit, Geld und Macht, und gerade so wird die Welt gefährlicher und ärmer, und wir selbst werden schwächer und unsicherer. Gott hat die Welt aus Liebe geschaffen, es ist genug für alle da, aber das kannst du nicht experimentell nachweisen, und deshalb treibt die Angst, zu kurz zu kommen, Menschen dazu, miteinander zu konkurrieren und zu kämpfen. Und das ruft den Mangel erst hervor.

Die Welt neu sehen lernen

Das ganze Problem kommt dadurch, dass unser Auge, also unsere Wahrnehmung der Realität, gestört ist, krank, verzerrt von Angst und Gier, getrübt durch Illusionen. Und das ist natürlich nicht bloß ein individuelles Problem, sondern wir sehen die Welt mit den Augen der Medien, wir sehen die Welt in Mustern, die nicht wir persönlich uns ausgedacht haben, sondern die wir mit vielen anderen teilen. Jesus ist gekommen, damit wir lernen, bei ihm die Welt neu zu sehen. Wenn dein Auge lauter ist, wird dein ganzer Körper hell sein, sagt er. Wenn du einen geraden, unverstellten Blick auf die Welt hast, wenn du dich von der kollektiven Rauschbrille trennst, dann wirst mit dem, was du tust, kein Chaos mehr anrichten, sondern Segen weitergeben.

Vorhin in der Lesung (Matthäus 13,44-46) haben wir von Leuten gehört, die alles daran gesetzt haben, den verborgenen Schatz und die kostbare Perle zu bekommen. So sieht es aus, wenn das Reich Gottes, seine Herrschaft, seine Welt unter Menschen zum Zuge kommt, sagt Jesus. Dann wird ihnen der Himmel, die Welt Gottes, so real, dass sie ihr ganzes Potential dort investieren. Sie haben die Rauschbrille abgesetzt, und jetzt sehen sie, was wirklich lohnt, was wirklich zählt.

Mit der Wahrnehmung fängt es an

Und Jesus sagt: das ist ein sich selbst verstärkender Kreislauf. Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. Je mehr Schätze du im Himmel gesammelt hast, um so wichtiger wird er dir. Und dann wird dein Blick klarer, und du wirst erst recht sehen, wie vernünftig es ist, nicht mehr beim Tanz ums Goldene Kalb dabei zu sein, sondern dein Herz mit Gottes anbrechender Welt mitten unter uns zu verbinden. Alles daran zu setzen, dass wir da dabei sind.

Und das erste ist da immer wieder, dass wir uns diesen Worten Jesu aussetzen, die geduldig daran arbeiten, dass unsere Augen wieder klar werden und nicht mehr diesen hässlichen Knick in der Pupille haben. Zuerst müssen die Augen klar werden, damit wir uns mit all unseren guten Absichten nicht wie der Elefant im Porzellanladen benehmen. Das gilt für jeden persönlich, aber erst recht kollektiv.

Diese Klarheit ist das Wichtigste. Jesus arbeitet daran, mit seinen Gleichnissen, mit der Bergpredigt, mit seinem Heiligen Geist. Das ist der Weg, wie wir zurückgeholt werden zum Realismus, unter dem die Welt aufatmet.

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