Jesus unter emotionalen Analphabeten

Predigt am 17. April 2011 zu Markus 14,3-9

3 Jesus war in Betanien bei Simon dem Aussätzigen zu Gast. Während der Mahlzeit kam eine Frau mit einem Alabastergefäß voll echtem, kostbarem Nardenöl. Sie zerbrach das Gefäß und goss Jesus das Öl über den Kopf. 4 Einige der Anwesenden waren empört. »Was soll das, dieses Öl so zu verschwenden?«, sagten sie zueinander. 5 »Man hätte es für mehr als dreihundert Denare verkaufen und das Geld den Armen geben können!« Und sie machten der Frau heftige Vorwürfe.
6 Aber Jesus sagte: »Lasst sie! Warum macht ihr es der Frau so schwer? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. 7 Arme wird es immer bei euch geben, und ihr könnt ihnen Gutes tun, sooft ihr wollt. Mich aber habt ihr nicht mehr lange bei euch. 8 Sie hat getan, was sie konnte: Sie hat meinen Körper im Voraus für mein Begräbnis gesalbt. 9 Ich sage euch: Überall in der Welt, wo man das Evangelium verkünden wird, wird man sich auch an sie erinnern und von dem reden, was sie getan hat.«

In dieser Geschichte ist Jesus der Einzige, der versteht, was eigentlich passiert. Die Frau, die da kommt und ihn mit dem kostbaren Öl salbt, die kann nur mit dieser Geste zeigen, was sie meint. Sie könnte es wahrscheinlich nicht wirklich in Worte fassen, aber sie drückt mit Duft aus, was sie meint. Und Jesus zeigt ihr mit seiner Reaktion, wie gut er sie verstanden hat. Die übrigen Gäste aber verstehen gar nichts.

Es muss irgendeine Vorgeschichte geben, irgendetwas, was die Frau schon mit Jesus erlebt hat. Vielleicht hat er sie geheilt, vielleicht hat sie ihn aber auch nur gehört, und was er gesagt hat, hat ganz viel für sie bedeutet. Und jetzt drängelt sie sich in diese Männergesellschaft hinein und schenkt ihm das Beste, was sie hat, ein kostbares Duftöl, dessen intensiver Geruch sofort den ganzen Raum erfüllt. Das ist ihr Weg, um Jesus zu danken, um ihm zu zeigen, wieviel er ihr wert ist.

Dreihundert Denare, der Preis des Öls, waren damals ungefähr der Jahreslohn eines Arbeiters, nach heutigen Maßstäben wären das also etliche Tausend Euro, die diese Geste kostet. Das muss ein Öl gewesen sein, das auch für Könige nicht zu schlecht gewesen wäre. Die Frau muss viel Geld haben, sie kommt wahrscheinlich aus der Oberschicht, vielleicht gehört ihr Mann zum Hohen Rat und berät gerade mit den anderen dort, wie man Jesus am besten beseitigen kann. Vielleicht weiß sie davon und hat gedacht: jetzt muss es sein, das ist meine letzte Chance. Und sie setzt alles auf eine Karte und nimmt sich das kostbare Öl und geht los, um Jesus zu salben. Sie tut es von ganzem Herzen, ohne Rücksicht auf die Folgen. Vielleicht wird sie dafür noch viel Ärger kriegen. Egal. Sie geht das Risiko ein, sie investiert ganz viel, nur um ihren Dank auszudrücken.

Und vielleicht ist es gerade das, was andere Gäste verstört. Wie kann man dermaßen radikal sein, dermaßen – ja, unvernünftig; ja, wie kann man denn überhaupt so hingerissen sein von einer Sache oder einer Person, dermaßen entschieden und in Übereinstimmung mit seinem eigenen Herzen, dass man alle Gedanken zu den Kosten einer Sache zur Seite wischt und so etwas Verwegenes tut?

Wenn Menschen so etwas erleben, dann fühlen sich manche zu allen Zeiten unbehaglich oder peinlich berührt oder verwirrt, weil das so völlig aus dem Rahmen fällt. Weil das so eine Anfrage ist an unsere halbherzige Vorsicht und unser enges Herz. Und wir in der Neuzeit sind sowieso grundsätzlich gewöhnt, alles im Rahmen von Nützlichkeit zu sehen und nur das für real zu halten, was man messen und zählen und verkaufen kann. So eine scheinbar völlig nutzlose Geste, in der sich ein Mensch mit seinem ganzen Wesen ausdrückt, die fällt da völlig raus. So eine Radikalität war schon immer verstörend und ist es heute erst recht.

Und so suchen sie nach irgendeiner vernünftigen Argumentation, mit der sie ihren Unwillen ausdrücken können, irgendetwas, wohinter sie ihre tiefe Beunruhigung verbergen können, dass da ein Mensch so ganzheitlich und verwegen und entschieden handelt, wie sie es selbst nie tun würden. Und dass Jesus das auch noch zulässt und es ihm zu gefallen scheint! Irgend etwas muss man doch finden, womit man das beanstanden kann und wogegen auch Jesus nichts sagen kann.

Und da fallen ihnen dann plötzlich die Armen ein. Genau! So eine Verschwendung! Wie kann sie das nur machen, Tausende Euro verplempern, während viele Menschen hungern? Und wie kann das der soziale Jesus zulassen, der Freund der Armen, als der er sich immer gibt. Nicht, dass ihnen die Armen so radikal am Herzen liegen würden wie der Frau ihr Dank, aber als Argument taugen sie allemal.

Das ist so, wie wenn man heute darüber spricht, dass wir uns nicht mit viel Chemie und aus Tierfabriken ernähren sollten, sondern anständig essen sollten, und dann kommt irgendwer und sagt: aber die armen Hartz IV-Empfänger, die müssen doch billiges Fleisch essen können! Wir mit unserem guten Einkommen, wir könnten uns das natürlich leisten, aber denk an die andern und sei still! Und das Verlogene daran ist, dass dem weder die Tiere noch die Armen wirklich am Herzen liegen, sonst würde er nicht so reden.

Und Jesus entlarvt das und sagt: niemand hindert euch, den Armen ganz viel zu geben! Schön zu hören, dass die euch so wichtig sind! Ja, kümmert euch um sie! Besucht die Flüchtlinge in ihren Unterkünften, begleitet Antragsteller zu den Behörden, schenkt was von eurem Geld weg, demonstriert für höhere Hartz IV-Sätze! Gute Sache, tut es mit der gleichen Entschiedenheit, die man an dieser Frau sehen kann! Es gibt viel zu tun, und wenn ihr damit anfangt, dann habt ihr gar keine Zeit mehr, um euch über andere Gedanken zu machen.

Aber lasst die Frau in Ruhe, macht ihr ihre Sache nicht noch schwerer als sie es ohnehin schon ist. Ihr müsst ja nicht gut finden was sie tut, aber macht das, was euch anscheinend so wichtig ist, mit der gleichen Klarheit und Konsequenz, die euch an ihr so verstört.

Und so nimmt Jesus sie in Schutz gegenüber diesen emotionalen Analphabeten, die keine Ahnung davon haben, was sie mit ihrem Geschwätz anrichten, denen jedes Gespür dafür fehlt, was in anderen wirklich passiert, und die sich nur an dem orientieren können, was »man« angeblich tut und was nicht. Und Jesus signalisiert der Frau: ich habe dich verstanden, ich habe gesehen, was du ausdrücken wolltest. Unter diesen ganzen ahnungslosen Leuten sind mindestens wir zwei es, die wissen, worum es wirklich geht.

Und zu allem Überfluss dreht er die ganze Sache noch so, dass sie sogar nach dem Gesetz einen guten Sinn macht. Für die Kritiker war es wahrscheinlich besonders ärgerlich, dass die Sache irgendwie einen frivolen Beigeschmack hatte. Frau schmeißt sich so nah an Mann ran und vollzieht an ihm so eine vertraute Handlung wie das Salben – das ist zwar nicht wirklich verboten, aber irgendwie anstößig ist das schon. Luxus, Berührung, Duft, eine sehr selbständige Frau – das ist eine Mischung, die bei manchen ungute Assoziationen hervorruft.

Aber Jesus gibt ihnen zu verstehen: das sind eure Probleme, eure Männerfantasien, die mehr über euch sagen als über das, was hier passiert. Ihr habt keine Ahnung, wovon ihr redet, in mehrfacher Hinsicht nicht. Für mich geht es nicht um Erotik, für mich ist Sterben dran, schon in ein paar Tagen. Ich bin schon so gut wie tot. Und niemand wird mir den letzten Liebesdienst tun und meinen Leichnam waschen und einbalsamieren. Aber diese Frau, die macht es schon jetzt, und sich um Tote kümmern, das ist doch auch nach dem Gesetz nicht nur erlaubt, sondern eine gute, barmherzige Tat.

Jesus und die Frau sind die einzigen in der ganzen Gesellschaft, die wissen, in welcher Gefahr er schwebt. Sie weiß genauso gut wie Jesus, dass er entschlossene Gegner hat, die ihn hassen und seinen Tod planen. Sie kann es nicht verhindern, aber sie kann Jesus ein Zeichen ihrer Solidarität geben, und sie lässt es sich viele tausend Euro kosten, ihm zu zeigen, dass es auch in der Jerusalemer Oberschicht Menschen gibt, die zu ihm halten.

Das ist auch ein Zeichen dafür, dass niemand ausweglos an seine Klasse und seine Nationalität oder was auch immer gebunden ist. Man muss nicht alles mitmachen. Du kannst immer irgendetwas tun, um zu signalisieren, dass du dich nicht an den Verbrechen deiner Kultur und deines Milieus beteiligst. Möglicherweise kannst du sie nicht verhindern, aber du kannst ein Zeichen setzen, und das ist immer gut und richtig. So wie manche in der Hitlerzeit einem Verfolgten etwas zugesteckt haben oder einem Gefangenen sein Los ein wenig erleichtert haben. So wie bis heute Flüchtlinge manchmal aufgenommen und ernährt werden, obwohl kaum etwas da ist, und viele Arme und arme Länder tun da mehr als das reiche und hartherzige Europa.

Du kannst oft nur wenig tun, aber irgendetwas kannst du immer tun, wenn du es wirklich willst. Gott sieht das. Und Jesus versteht das. Er hebt diese scheinbar nutzlose Geste der Frau hoch und sagt: schaut sie euch an! Wie kostbar ist das, was sie tut! Nicht wegen dem Geld, sondern wegen dem Herzen dahinter. Vielleicht ändert es im Moment nichts, aber es wird nicht vergessen werden. Wo immer man meine Geschichte erzählen wird, da wird man auch ihre Geschichte erzählen.

Und wenn das schon unter den Menschen nicht vergessen wird, wieviel mehr wird es im Gedächtnis Gottes bleiben. So eine scheinbar nutzlose, überflüssige, verschwenderische Geste – aber Gott sieht das Herz dahinter an, er versteht, was das bedeutet, und er macht aus dieser Geste einen Baustein der neuen Welt. Gott schaut nicht auf die Reichweite dieser Tat, wieviel sie bewegt oder auch nicht, sondern auf die Art von Menschsein, die sich darin zeigt. Und was die Reichweite angeht: wer weiß denn, was diese Geste tatsächlich bewirkt? Wer weiß denn, was unsere geringe Kraft bewirkt im großen Netzwerk des Lebens?

Wer weiß denn, ob es nicht vielleicht diese Geste war, die Erinnerung an diese Ermutigung, die Jesus in seiner letzten Minute geholfen hat, an seinem Weg festzuhalten und bis zuletzt gegen alle Hoffnung der Güte der Erde und ihres Schöpfers zu vertrauen? Wer weiß denn, ob nicht die Tat dieser Frau es war, die noch fehlte im großen Kampf um die Rettung der Welt? Das Sandkorn, das dafür sorgt, dass die Waage sich auf der richtigen Seite senkt? Der kleine Anstoß, der dem Teufel im letzten Moment den Triumph verdirbt?

Und kann es nicht sein, dass auch deine und meine Taten, so schwach und unbedeutend sie sein mögen, doch den entscheidenden Unterschied machen? Vielleicht für ein Menschenleben, vielleicht für eine Gruppe von Menschen, vielleicht für ein Land, vielleicht für die ganze Welt? Wer weiß das schon? Es ist dem Herrn nicht schwer, mit wenig oder mit viel zu helfen, aber es sollte schon ein ganzes und klares und eindeutiges Herz sein, das dahinter steht.

Ich habe in diesen Tagen die Osternacht noch einmal neu konzipiert, habe mich umgeschaut, was es da noch für Möglichkeiten gibt. Und da habe ich gefunden, dass manche Gemeinden sich in der Osternacht auch an unsere Vorfahren im Glauben erinnern, an die eindrucksvollen Gestalten der Bibel und der Kirchengeschichte. Natürlich kann man die gar nicht alle nennen, es gibt da viel zu viele, und von vielen, die groß sind im Reich Gottes, wissen wir heute gar nichts mehr. Aber trotzdem ist es so eindrucksvoll, sich an all diese Namen zu erinnern und daran, dass sie alle ihr Teil dazu beigetragen haben, dass die Geschichte Jesu durch die Zeiten hindurch weitergeht.

Und du weißt nicht, wer das meiste und Wichtigste und Größte getan hat. Du kannst es selbst aus dem Abstand von vielen Jahren nicht sagen. Aber keiner von ihnen hätte fehlen dürfen. Keiner von ihnen hat gewusst, was aus seinem Beitrag noch werden wird. Und genauso weißt du nicht, was fehlt, wenn dein kleiner Beitrag fehlt, wenn die Entschiedenheit fehlt, die du aufbringen könntest, und der Mut, der dir zur Verfügung stehen würde.

Aber wenn wir unseren geringen Beitrag nicht zurückhalten, dann verbindet sich unsere Geschichte mit der Geschichte Jesu. Für jetzt und für immer. Wie diese Geste der Frau für immer in die Geschichte der neuen Welt Gottes hineingehört, so sollen auch wir mit unseren großen und kleinen Taten mit hineingehören in die Geschichte des Reiches Gottes, das sich hier unter uns entfaltet, von dem schon manches sichtbar ist, und das sich eines Tages in seiner ganzen Fülle offenbaren wird.

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