Eine andere Art zu sterben

Predigt am 2. April 2010 (Karfreitag) zu Lukas 23,33-49

33 Als sie zu der Stelle kamen, die »Schädel« genannt wird, nagelten die Soldaten Jesus ans Kreuz, und mit ihm die beiden Verbrecher, den einen links von Jesus, den anderen rechts. 34 Jesus sagte: »Vater, vergib ihnen! Sie wissen nicht, was sie tun.« Dann losten die Soldaten untereinander seine Kleider aus. 35 Das Volk stand dabei und sah bei der Hinrichtung zu.
Die Ratsmitglieder verhöhnten Jesus: »Anderen hat er geholfen; jetzt soll er sich selbst helfen, wenn er wirklich der ist, den Gott uns zum Retter bestimmt hat!« 36 Auch die Soldaten machten sich lustig über ihn. Sie gingen zu ihm hin, reichten ihm Essig 37 und sagten: »Hilf dir selbst, wenn du wirklich der König der Juden bist!« 38 Über seinem Kopf hatten sie eine Aufschrift angebracht: »Dies ist der König der Juden.«
39 Einer der Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt worden waren, beschimpfte ihn: »Bist du denn nicht der versprochene Retter? Dann hilf dir selbst und uns!«40 Aber der andere wies ihn zurecht und sagte: »Nimmst du Gott immer noch nicht ernst? Du bist doch genauso zum Tod verurteilt wie er, 41 aber du bist es mit Recht. Wir beide leiden hier die Strafe, die wir verdient haben. Aber der da hat nichts Unrechtes getan!« 42 Und zu Jesus sagte er: »Denk an mich, Jesus, wenn du deine Herrschaft antrittst!« 43 Jesus antwortete ihm: »Ich versichere dir, du wirst noch heute mit mir im Paradies sein.«
44-45 Es war schon etwa zwölf Uhr mittags, da verfinsterte sich die Sonne, und es wurde dunkel im ganzen Land bis um drei Uhr. Dann riss der Vorhang vor dem Allerheiligsten im Tempel mitten durch, 46 und Jesus rief laut: »Vater, ich gebe mein Leben in deine Hände!« Mit diesen Worten starb er.
47 Als der römische Hauptmann, der die Aufsicht hatte, dies alles geschehen sah, pries er Gott und sagte: »Wahrhaftig, dieser Mensch war unschuldig, er war ein Gerechter!« 48 Auch all die Leute, die nur aus Schaulust zusammengelaufen waren, schlugen sich an die Brust und kehrten betroffen in die Stadt zurück, nachdem sie gesehen hatten, was da geschah. 49 Alle Freunde von Jesus aber standen weit entfernt, auch die Frauen, die seit der Zeit seines Wirkens in Galiläa mit Jesus gezogen waren. Die Frauen sahen dies alles mit an.

In dieser Geschichte sehen wir das nackte, unverhüllte Gesicht der Sünde: Gewalt, Grausamkeit, Justizmord, Folter. Lukas erzählt es alles ohne Empörung oder Anklage; aber er erzählt die Geschichte so, dass er uns die Augen dafür öffnet, was da passiert. Er erzählt von der Gewalt und Gemeinheit, mit der Menschen sich unterein­ander behandeln.

Bis heute finden sich Menschen wieder als Ziel und Opfer von Gewalt und Grausamkeit der anderen, und sie müssen erleiden, was nicht beschrieben werden kann. So wird auch Jesus unbeschreibbarem Schmerz ausgeliefert. Es gibt kein Entkommen, es gibt nur noch diese Hölle aus Schmerz, die ihn völlig umgibt. Schmerz konzentriert unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich; wenn er wirklich stark ist, dann gibt es kaum noch etwas anderes für uns. Schlimmer Schmerz wird zu einer ganzen Welt, die uns umgibt. Und Kreuzigung bedeutet lang anhaltende, schreckliche Schmerzen. Die Verfinsterung des Himmels zeigt es an: da sind alle Kräfte des Bösen losgelassen.

Und trotzdem erzählt Lukas die Geschichte so, dass man sieht: selbst in dieser Hölle von Schmerz und Tod ist Gott nicht machtlos. Denn Jesus ist anders als alle anderen, und das verändert alles. Selbst in dieser erschreckenden Geschichte ist es zu sehen.

Um Jesus herum sind die Menschen, die alle auf ihre Weise zu dieser Hölle beigetragen haben. »Sie wissen nicht, was sie tun« sagt Jesus. Er hat recht. Sie wissen es wirklich nicht. Auf irgendeine Weise schotten sich alle dagegen ab, das mitzuerleben, das mitzufühlen, was da vor aller Augen geschieht. Aber Lukas erzählt die Geschichte, damit wir verstehen, was da passiert, und damit wir lernen, die Welt und die Menschen klar zu sehen.

Da sind einmal die Soldaten. Sie tun die Dreckarbeit. Sie haben ihren eigenen Weg, um nicht mitfühlen zu müssen, was sie da tun. Vielleicht haben sie an diesem Tag eine Extraration zu trinken bekommen, damit es ihnen nichts ausmacht, spitze eiserne Nägel in weiches menschliches Fleisch zu treiben. Vielleicht sind sie abgestumpft von ihrem Handwerk. Vielleicht haben sie schon so viele Tote und Halbtote gesehen, dass es auf einen mehr oder weniger nicht mehr ankommt. Und dann gibt es ja noch die Aussicht auf einen kargen Gewinn: die Kleider des Verurteilten dürfen sie sich teilen. Vielleicht hat sich mancher deswegen freiwillig zu diesem Kommando gemeldet.

Aber verspotten tun sie ihn auch. Wenn wir sehen, dass ein Mensch sich hilflos zu Tode quält,dann ist die spontane Reaktion darauf Identifikation, Mitleid und der Wunsch zu helfen. Man muss schon einiges tun, um sich diese urmenschliche Reaktion abzugewöhnen. Man muss sich sehr abgrenzen, um nicht mitzufühlen, was da einem Menschen geschieht. Und die stärkste Abgrenzung gegen das Leiden anderer ist Spott. Spott killt das Mitleid, er panzert uns gegen die Angst, dass mit uns dasselbe geschehen könnte. Wer einen Menschen im Unglück verspottet, der beruhigt sich damit, dass ihm das nicht geschehen kann, weil er ja auf der sicheren Seite steht.

Das Volk steht stumm dabei. Den Menschen hat es buchstäblich die Sprache verschlagen. Ihnen fehlen die Worte. Zu widersprüchlich sind die Dinge, die sie empfinden. Gestern war Jesus noch der bejubelte Mittelpunkt Jerusalems, und heute hängt er am Kreuz. Die Menschen tun das, was sie in solchen Fällen immer machen: sie stehen da und begreifen nicht und warten ab.

Da stehen auch die Mitglieder des Hohen Rates. Sie wissen, was hier geschieht. Das hier ist ihr Werk. Solche Grausamkeiten geschehen nicht von alleine. Immer haben Menschen das vorbereitet, Menschen haben es geplant und gewollt. Die einen waren die treibende Kraft und die anderen die Mittäter. Kann es Menschen geben, die einem anderen vorsätzlich so etwas antun? Ja, es gibt sie. Und sie kommen selbst, um sich vom Erfolg ihrer Bemühungen zu überzeugen. Schließlich haben sie endlich ihr Ziel erreicht.

Lukas hat einen Blick für die kleinen Details: Die Mitglieder des Hohen Rates sind die ersten, die spotten. Als die tonangebenden Leute geben sie für die anderen die Losung aus, und die lassen sich dann mit hineinziehen. Der Fisch stinkt immer vom Kopf her. Aber es scheint, als ob sich in ihre Selbstsicherheit doch leise Zweifel eingeschlichen haben. »Wenn er wirklich der versprochene Retter ist, dann soll er sich selbst helfen!« Das klingt fast so, als ob sie sich immer noch nicht sicher sind. Als ob sie irgendwie immer noch fürchten, es könnte wahr sein, was er gesagt hat.

Schließlich die beiden anderen, die mit ihm gekreuzigt werden. Einer davon macht genau das gleiche, was ihm die Soldaten und die Ratsmitglieder vormachen: er grenzt sich ab mit Spott. Das ist schon fast lächerlich, wie selbst dieser Todeskandidat noch irgendwie versucht, sich auf die Seite der Henker, auf die Seite der Starken zu stellen. Aber es ist anscheinend selbst in seiner Lage noch beruhigend, wenn man unter sich einen hat, der noch schlechter dran ist als man selbst.

Aber der andere! Irgendetwas hat ihn gehindert, es genauso zu machen wie sein Kollege. Irgendetwas sorgt dafür, dass er mitten in der Hölle der Kreuzigung anders reagiert. Und es ist deutlich: das liegt an Jesus. Hier stoßen wir zum ersten Mal darauf, dass Jesus auch jetzt noch Einfluss ausübt. Selbst jetzt, wo er ohnmächtig, verhöhnt und sterbend am Kreuz hängt, hat er noch Einfluss auf Menschen. Und für einen Augenblick zeigt sich, dass Jesus auch jetzt noch seine ganze Autorität hat; und mit dieser Autorität sagt er dem Mann zu, dass er heute noch mit ihm im Paradies sein wird.

Und es gibt weitere Zeichen dafür, dass Jesus immer noch an seinem Weg festhält, seinem Weg, wie er ihn am klarsten in der Bergpredigt beschrieben hat. Auch wenn aus seiner Welt jeder Hinweis auf Gott verschwundener ist, auch wenn seine ganze Welt nur noch aus Schmerz und Spott besteht: trotzdem ist er kein anderer geworden. Als sie ihn annageln und der Schmerz des Aufgehängtwerdens beginnt, gerade da bittet er um Vergebung für die, die nicht wissen, was sie tun.

Es sind ja zwei Dinge: was uns von außen angetan wird, und wie wir darauf reagieren. Wir werfen das gerne durcheinander und sagen: ich hatte keine Wahl. Ich konnte nicht anders. Bei Jesus wird deutlich: es gibt keinen Zwang, wie wir reagieren müssen. Es gibt zwar ausgetretene Spuren, in denen wir oft gehen, aber die sind nicht der einzige Weg. Und Jesus zieht hier neue Spuren, er bahnt einen neuen Weg.

Sie haben ihn in eine grauenvolle Situation gebracht, und es schmerzt Gott, es zerreißt ihm das Herz, wenn Menschen anderen Menschen das antun. Aber die Reaktion Jesu darauf, die ist in Gottes Augen richtig, gut, heilsam. Zu dieser Reaktion kann Gott nur sagen, was er schon früher zu Jesus gesagt hat: du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen, du machst es richtig, ich freue mich über dich. In seiner fürchterlichen Situation tut Jesus immer noch genau das, was seinem ganzen Weg und seinem Auftrag entspricht. Er entlastet sich nicht mit Feindschaft oder Hass, er vergibt, und er hat immer noch die Autorität, um dem Mann neben ihm zu sagen: heute wirst du mit mir im Paradies sein. Und ganz am Ende, bevor er in das dunkle Nichts des Todes stürzt, vertraut er Gott sein Leben an und verlässt sich darauf, dass dieser Gott treu ist, und stärker als der Tod. Was keiner gedacht hätte: so kann man leben, bis zum Ende. Jesus macht es jedenfalls.

Wie konnte Jesus das vollbringen? Auch wenn er der Sohn Gottes war – er war doch den Bedingungen des menschlichen Lebens, des menschlichen Fleisches unterworfen. Er war nicht weniger von Schmerz bedrängt als jeder andere.

Aber da wird noch einmal die Kraft Gottes sichtbar, dieselbe Kraft, durch die Jesus Wunder getan hat, dieselbe Kraft, die ihm im richtigen Augenblick Worte der Weisheit gegeben hat, um Menschen gerecht zu werden und seinen Feinden zu antworten, dieselbe Kraft, die die Menschen in Massen anzog, die Kraft, durch die er immer wieder den Mächten des Bösen widerstanden hat – diese Kraft ist auch jetzt noch da. Sie verhindert die Kreuzigung nicht, weil Jesus sich entschlossen hat, Gottes Willen zu tun und diesen Weg zu gehen. Aber sie zeigt sich in der Art, wie Jesus auf seinen Tod zugeht. So wie er gelebt hat, so stirbt er auch: anders als alle anderen. Die Umstehenden nehmen das deutlich wahr, auch wenn sie es nicht verstehen.

Ich weiß nicht, ob Jesus selbst gewusst hat, was da immer noch von ihm ausging. Im Markusevangelium sind ja von ihm die Worte überliefert: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Das würde bedeuten, dass er selbst nichts mehr davon gespürt hat, dass er auch jetzt noch in Übereinstimmung mit Gott lebt. Lukas zeigt in seiner Erzählung, dass es nach außen anders war. Selbst jetzt noch ging von Jesus Kraft aus, und vielleicht ist das noch überzeugender als alle Wunder.

Der einzige, der dafür Worte findet, ist ausgerechnet der römische Offizier, der Kommandant des Hinrichtungskommandos. Der hat schon viele sterben sehen. Der hat sie alle erlebt, wie sie fluchen, schimpfen, betteln und flehen, wie sie in stummer Verzweiflung oder in wilder Auflehnung dem Tod entgegen gehen. Aber so einen Tod wie diesen hat er noch nie erlebt. Ein Mensch, der auf all die Reaktionen verzichtet, mit denen die anderen versuchen, sich die Wirklichkeit des Sterbens ein wenig zu erleichtern.

Und wir sehen den Einfluss, den Jesus bis zum letzten Atemzug hat, auch am Volk. Hätte Jesus geschrien und geflucht wie andere, dann wäre alles in normalen Bahnen gewesen. Aber die Menschen haben die ganze Zeit gespürt, dass dieser Tod anders ist und dass da etwas nicht stimmt. Und als Jesus gestorben ist, schlagen sie sich an die Brust, ein wortloses Zeichen für Reue und Scham. Schweigend gehen sie auseinander. Sie können es nicht in Worte fassen, aber sie haben gemerkt, dass da mitten unter ihnen etwas Schlimmes geschehen ist, etwas, was nicht wiedergutzumachen ist.

Dass Jesus in dieser Situation bestehen kann – ist das Glückssache, dass das dem einen gegeben wird und dem anderen nicht?

Jesus war der Sohn Gottes, aber ein ganzes Leben im Hören auf Gott hatte ihn auf diesen Tag vorbereitet. Erst sein langjähriges Gebet und Bibelstudium, sein Ja zu Gott bei seiner Taufe und sein Nein zum Versucher in der Wüste, und dann noch einmal die drei Jahre öffentlichen Wirkens, all die Erfahrungen mit Gott in Wundern und Führungen, sein intensives Vertrauensverhältnis zu seinem Vater im Himmel, seine tägliche Einübung, nach dem Willen Gottes zu fragen und ihn dann zu tun – alles das wurde nun noch einmal endgültig auf die Probe gestellt. Und es zeigte sich: es war so fest mit ihm verbunden, es gehörte so sehr zu ihm, dass er auch in seinen letzten Stunden immer noch davon lebte. Das alles war nicht nur von oben eingegossen, irgendwie verliehen, sondern Jesus selbst war so.

Und darauf antwortet Gott. Er macht den Gequälten zum Ort, wo er handelt. Erst noch, am Kreuz, spricht er durch ihn immer noch zu Menschen. Und dann, zu Ostern, führt Gott ihn herauf von den Toten, er gibt ihm neues Leben, er bestätigt seinen ganzen Weg. Und als die Jünger dem Auferstandenen begegnen, da wird ihnen klar: dieser Weg wird nie wieder zerstört werden können. Ein für allemal hat Jesus gezeigt, dass man mit Gott auch dort gehen kann, wo kein Weg mehr ist. Einer musste vorangehen, und Jesus hat das stellvertretend für uns getan, damit wir ihm nachfolgen, damit wir in sein Bild verwandelt werden, damit wir auch dieses Leben haben, das selbst im Angesicht von Qual und Tod nicht zuschanden wird.

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