Verborgene Schätze

Predigt am 25. Dezember 2022 (Christfest I) zu Kolosser 2,3-10

3 In Christus sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen. 4 Ich sage das, damit euch niemand durch Überredungskünste hinters Licht führt.

5 Obwohl ich fern von euch bin, bin ich im Geist bei euch und freue mich zu sehen, wie fest ihr zusammenhaltet und wie unerschütterlich euer Vertrauen auf Christus ist. 6 Ihr habt Jesus Christus als den Herrn angenommen; darum lebt nun auch in der Gemeinschaft mit ihm und nach seiner Art! 7 Seid in ihm verwurzelt und baut euer Leben ganz auf ihn. Bleibt im Glauben fest und lasst euch nicht von dem abbringen, was euch gelehrt worden ist. Hört nicht auf zu danken für das, was Gott euch geschenkt hat. 8 Seht zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt und nicht auf Christus.

9 In Christus allein wohnt wirklich und wahrhaftig die Heilsmacht Gottes in ihrer ganzen Fülle, 10 und durch ihn allein wird euch die Fülle des Heils zuteil, nicht durch irgendwelche anderen Mächte. Denn Christus ist das Oberhaupt jeder Macht und Gewalt im ganzen Kosmos.

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Dieser Text korrigiert unseren Zugang zu Weihnachten; er ist die deutliche Erinnerung daran, dass wir die Geburt Jesu wegen all dem feiern, was der erwachsene Jesus getan hat, und nicht umgekehrt. Klar, auch im Baby von Bethlehem ist Gott voll da, aber eben in menschlicher Gestalt, und deshalb muss sich das erst nach und nach entfalten. Das Baby ist der Keim des Menschen Jesus, der sich nach und nach erst zur vollen Größe entwickelt. Und diesen Keim, aus dem sich noch so viel entwickeln sollte, Sachen, von denen damals noch niemand auch nur im Geringsten ahnte: den feiern wir zu Weihnachten.

Die Botschaft entwickelt sich

Aber das hört nicht auf, wenn Jesus erwachsen ist, selbst nach Tod und Auferstehung entwickelt sich das weiter, was damals in Bethlehem begonnen hat: die Christenheit entdeckt erst nach und nach immer mehr von dem, was mit Jesus in die Welt gekommen ist. Eigentlich geht es sogar erst nach Jesus richtig los.

Ein Beispiel: die ersten Christen haben in einer Sklavenhaltergesellschaft gelebt, wo Sklaverei völlig selbstverständlich war. Für alle antiken Philosophen war klar, dass es von Natur aus Sklaven gibt, und ohne die funktioniert die Gesellschaft nicht. Und Sklaven sind Menschen zweiter Klasse, bzw., weil ja Frauen schon die Menschen zweiter Klasse waren, deshalb sind Sklavinnen und Sklaven eigentlich Menschen dritter Klasse.

Dann kamen die Christen und sagten: Aber hier in unserer Gemeinde, da ist es egal, ob man Sklave oder frei ist. Der entscheidende Unterschied ist, dass wir alle gleichermaßen zum Messias Jesus gehören. Die konnten sich damals zwar noch längst nicht vorstellen, dass es eine Gesellschaft völlig ohne Sklaverei geben könnte, aber in der Gemeinde galt von Anfang an: wir sind alle eins in Christus. Da gab es jedenfalls diesen einen Ort, an dem Sklavinnen und Sklaven erleben konnten: wir sind keine Menschen dritter Klasse!

Und als sich Europa nach den dunklen Jahrhunderten der Völkerwanderung neu formierte, hat Karl der Große den Christen verboten, andere Christen zu versklaven. Das ging jetzt einfach nicht mehr. Die Heiden durfte man zwar immer noch versklaven, aber es war trotzdem ein wichtiger Schritt voran. Und dann nochmal 1000 Jahre später waren es wieder Christen, denen klar wurde: auch Angehörige anderer Kulturen und Religionen zu versklaven ist unchristlich und unmenschlich. Das waren Leute aus englischen Freikirchen, die haben viele Jahrzehnte gekämpft und nicht aufgegeben, bis vor gut 200 Jahren der Sklavenhandel wirklich verboten wurde. Und es sind immer noch Christinnen und Christen, die sich bis heute dafür einsetzen, dass auch alle Formen moderner Sklaverei bekämpft werden.

Den Spielraum wachsen lassen

Und wer jetzt sagt: das hat aber ganz schön lange gedauert, bis den Christen das aufgegangen ist – da kann man nur sagen: ja, es hat gedauert, aber offenbar kommt man nicht so schnell raus aus den Selbstverständlichkeiten der Gesellschaft, in der man lebt. Selbst die neuzeitlichen Philosophen der Aufklärung, die die Menschenrechte erfunden haben, sogar die haben die Sklaverei noch gerechtfertigt, und zwar in einer Zeit, als jedenfalls die radikalen Christen schon weiter waren!

Auch Christen stecken drin in der Denke ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft. Aber wo man Jesus Christus kennt, da zeigt sich – um es in einem Bild zu sagen – schon der erste Riss im Betongehäuse der Gesellschaft. Und Paulus sagt im Kolosserbrief: gebt euch nicht mit diesem ersten Riss zufrieden! Macht weiter, denkt weiter, vertieft den Riss, schafft Hohlräume, in denen ihr schon mal die Alternativen ausprobiert, legt das Stahlskelett im Beton frei und knabbert es an, bis am Ende dieser Denk- und Zwangsrahmen die Menschen nicht mehr hält, bis sie Gottes Liebe entdecken und das Leben wieder aufblühen kann.

Der entscheidende erste Riss im Beton war die Geburt von Jesus, samt ihrem Vorlauf bei den Propheten Israels. In einem unbeachteten Winkel der Gesellschaft kam er zur Welt und wuchs auf unter dem Schutz von Maria, Josef und freundlichen Engeln. Und irgendwann konnte er für sich selbst sorgen und dann stieß er seine Bewegung an, die Christen, die Jüngerinnen und Jünger, die immer neue Bereiche der Welt erreichen und immer noch dabei sind, die Welt zu erneuern.

Bleibt nicht auf Los stehen!

Und Paulus schreibt der Gemeinde: Bleibt in dieser Bewegung drin! Gebt euch nicht mit dem zufrieden, was ihr schon habt! Ihr habt noch längst nicht alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis entdeckt, die in Christus verborgen sind. Weitersuchen! Weiterdenken! Weitermachen!

Und für uns heute muss man das so übersetzen: bleibt nicht bei dem niedlichen Baby in der Krippe stehen! Es ist schon ok, Weihnachten an das Krippenkind zu denken und sich dabei zu erinnern an die vielen Kinder, die so wie er irgendwo unterwegs geboren werden, im Notquartier oder im Flüchtlingslager. Aber wie viele denken noch nicht mal so weit!

Es ist auch ok, sich vorzustellen, dass der kleine Jesus sehr wahrscheinlich auch den Charme ausstrahlte, mit dem neugeborene Kinder unser Herz bezaubern. Aber wenn uns das berührt, dann sollen wir auch weitermachen und Gemeinschaften bilden, in denen Menschen eine Chance haben, ihr Leben lang so frisch und fröhlich und jung zu bleiben und nicht irgendwann doch in diese milde resignierte Verbitterung und Illusionslosigkeit abzurutschen, die sich so vielen Menschen jenseits der 40, 50 oder mehr Jahre ins Gesicht stiehlt.

Was »Geheimnis« in der Bibel bedeutet

»Bleibt nicht stehen!« sagt Paulus den Christen in Kolossä. Und noch viel mehr müssen wir das hören. Greift zur Welterklärung nicht auf die heidnische Philosophie zurück und nicht auf das, was alle sich so denken. In Christus steckt die ganze Wahrheit drin. Er ist das Geheimnis Gottes, aber das erschließt sich erst nach und nach. Biblisch gesprochen ist ein Geheimnis nicht das, was einer dem anderen heimlich ins Ohr flüstert, und dann kichern beide, und dann ist es auch schnell wieder vergessen. Es ist auch nicht eins von diesen Geheimnissen, die unter dem Siegel der Verschwiegenheit die Runde machen, wer mit wem gerade Ärger hat oder wer von wem ein Kind bekommt.

Ein biblisches Geheimnis ist ein Sachverhalt, der sich erst nach und nach erschließt: wo man heute etwas versteht, und nächstes Jahr versteht man es noch tiefer, und in 10 Jahren gehen einem noch ganz andere Konsequenzen davon auf. Das braucht seine Zeit, da muss man geduldig dranbleiben, bis sich wieder etwas Neues erschließt.

Rotieren, ohne weiterzukommen

Das Problem mit unserem Weihnachtsfest ist, dass wir jedes Jahr wieder einen Neustart an der Krippe machen, aber dann geht es nicht weiter. Die wenigsten machen etwas aus diesem kleinen Anfang, und im nächsten Jahr sind wir wieder auf Los und fangen von vorne an mit dem holden Knaben im lockigen Haar. Das ist wie mit den Hirten und Königen auf der Weihnachtspyramide, die alle Jahre wieder 1000mal im Kreis rumlaufen und nie vorwärts kommen. Das ist kein gesundes christliches Leben!

Im Urlaub besuchen wir gern mal die verschiedenen Gottesdienste, die es da gibt, und vor ein paar Jahren hörte ich eine Predigt, in der ein Kollege mit großem Enthusiasmus berichtete, dass sein Predigttext ihm gezeigt hatte, dass Gott uns so annimmt, wie wir sind. Ein Jahr später waren wir da wieder im Urlaub – Sie merken, wir sind in der Wahl unserer Urlaubsziele eher konservativ – und hörten zufällig den gleichen Prediger, und wieder war er völlig überrascht, dass ihm sein Predigttext gezeigt hatte – was wohl? – dass Gott uns so annimmt, wie wir sind. Und ich dachte: hast du dich nicht weiterentwickelt? Hast du im vergangene Jahr nichts Neues und Tieferes gelernt? Sind wir Christen denn Leute, die eine fromme Formel lebenslang wie ein Mantra vor sich hinmurmeln? Das ist doch kein Glaube!

Und im Ergebnis sagen dann die Leute: kennen wir doch alles schon, ist doch alle Jahre wieder das Gleiche, Gähn! Dann lasst uns doch mal nach was Interessanterem gucken als nach diesem Krippenkind! Für die Kinder ist das ok, aber wir könnten doch mal bei den Buddhisten schauen oder in unserem Sprüchekalender oder im Koran – ach nee, Islam geht jetzt nicht mehr, zu gefährlich.

Die Tiefen ausloten

Ich meine, ich stöbere gern in anderen Wissensgebieten, gelegentlich auch mal in anderen Religionen und Philosophien, aber am interessantesten und fruchtbarsten ist es wirklich, in dieses Geheimnis Christi immer tiefer einzutauchen, die Welt von da aus immer besser zu verstehen. Und auch zu verstehen, zu welchen Konsequenzen diese Gedanken führen. Und schließlich darauf achten, was passiert, wenn man anfängt, das in die Lebenspraxis umzusetzen. Da kommt uns das Geheimnis am nächsten.

Deshalb sagt Paulus den christlichen Leuten in Kolossä: fangt an, dieses Christusereignis jedes Jahr wieder etwas tiefer zu verstehen. Benutzt euren Grips! Wenn man ein ganzes langes Christenleben bestehen will, dann sollte man mehr wissen als: Gott liebt mich, er nimmt mich an so wie ich bin und vergibt mir meine Sünden. Das kann ein Start sein, aber dann muss man auch daran gehen, all die verborgenen Schätze von Weisheit und Erkenntnis in Christus zu entdecken, die noch dahinter liegen.

Bevor man mit Gott die Welt gestalten kann, muss man sie von ihm her verstehen: in ihrer ganzen Breite und Länge und Tiefe und Höhe. Und so kann auch unser Weihnachtsfest durch Gottes Gnade vielleicht mal ein Start sein, sich von Jesus Christus berühren zu lassen. Aber danach komm runter von der Weihnachtspyramide, lauf nicht sinnlos im Kreis, sondern verbinde dein Leben immer tiefer mit diesem Geheimnis. Was wirst du in einem Jahr besser und voller verstanden haben? Welche neuen Erfahrungen liegen vor dir?

Geschenke auspacken

In Jesus begegnet uns die Fülle Gottes, aber sie ist verborgen und verpackt und will entdeckt werden. Geschenke packt man aus, man stellt sie in der Regel nicht unausgepackt ins Regal. Man packt sie aus und macht was mit ihnen. Von Christus aus verstehen wir die Welt und die Mächte, die sie bewegen und haben Anteil an seiner Vollmacht. Das ist heute vielleicht so nötig wie noch nie zuvor. Der Messias Jesus kann uns durch die ganze Unsicherheit unserer Welt hindurchlotsen. Aber dazu musste er erwachsen werden, und wir sollten in unserem Glauben auch das Kinderstadium hinter uns lassen.