Es ist gelungen

Predigt am 21. März 2008 (Karfreitag) zu Johannes 19,16-30

16 Da gab Pilatus ihrer Forderung nach und befahl, Jesus zu kreuzigen. Jesus wurde abgeführt. 17 Er trug sein Kreuz selbst aus der Stadt hinaus zu der so genannten Schädelstätte; auf hebräisch heißt sie Golgata.
18 Dort kreuzigte man ihn und mit ihm zwei andere, einen auf jeder Seite; Jesus hing in der Mitte. 19 Pilatus ließ ein Schild am Kreuz anbringen, das die Aufschrift trug: »Jesus von Nazaret, König der Juden.« 20 Dieses Schild wurde von vielen Juden gelesen; denn der Ort, an dem Jesus gekreuzigt wurde, war ganz in der Nähe der Stadt, und die Aufschrift war hebräisch, lateinisch und griechisch abgefasst. 21 Die führenden Priester des jüdischen Volkes erhoben Einspruch. »Es darf nicht heißen: ›König der Juden‹«, sagten sie zu Pilatus. »Schreibe: ›Dieser Mann hat behauptet: Ich bin der König der Juden.‹« 22 Pilatus erwiderte: »Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.«
23 Die Soldaten, die Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und teilten sie unter sich auf; sie waren zu viert. Beim Untergewand stellten sie fest, dass es von oben bis unten durchgehend gewebt war, ohne jede Naht. 24 »Das zerschneiden wir nicht«, sagten sie zueinander. »Wir lassen das Los entscheiden, wer es bekommt.« So sollte sich erfüllen, was in der Schrift vorausgesagt war: »Sie haben meine Kleider unter sich verteilt; um mein Gewand haben sie das Los geworfen.« Genau das taten die Soldaten.
25 Bei dem Kreuz, an dem Jesus hing, standen seine Mutter und ihre Schwester sowie Maria, die Frau von Klopas, und Maria aus Magdala. 26 Als Jesus seine Mutter sah und neben ihr den Jünger, den er besonders geliebt hatte, sagte er zu seiner Mutter: »Liebe Frau, das ist jetzt dein Sohn!« 27 Dann wandte er sich zu dem Jünger und sagte: »Sieh, das ist jetzt deine Mutter!« Da nahm der Jünger die Mutter Jesu zu sich und sorgte von da an für sie.
28 Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war. Und weil sich das, was in der Schrift vorausgesagt war, bis ins Letzte erfüllen sollte, sagte er: »Ich habe Durst!« 29 Da tauchten die Soldaten einen Schwamm in ein Gefäß mit Weinessig, das dort stand, steckten ihn auf einen Ysopstängel und hielten ihn Jesus an den Mund. 30 Nachdem er ein wenig von dem Essig genommen hatte, sagte er: »Es ist vollbracht.« Dann neigte er den Kopf und starb.

Auf Englisch heißt der Karfreitag der »good friday«, der »gute Freitag«. Und das ist keine Beschönigung, sondern das soll ausdrücken, dass an diesem Tag mitten unter den ganzen Gemeinheiten und Grausamkeiten, zu denen das römische Reich fähig war, etwas sehr Gutes geschehen ist.

Es gibt ja manchmal dieses Phänomen, dass in einem ganz schlechten Zusammenhang trotzdem etwas erstaunlich Gutes passiert. Am häufigsten hört man, glaube ich, diese Geschichten, wo einer einen Unfall hatte, das ganze Auto war nur noch Schrott, aber ihn selbst hat man unverletzt raus geschnitten, er hatte nur ein paar Kratzer. Man weiß dann gar nicht, was man dazu sagen soll, weil ja wirklich etwas Schlimmes geschehen ist, und so ein Auto ist ja ziemlich teuer, aber genauso auch etwas sehr Gutes, denn das Leben ist ja viel mehr wert als ein Auto.

Oder nehmen Sie jemanden, der sehr krank ist, vielleicht stirbt er an seiner Krankheit, aber durch diese Herausforderung wird aus einer durchschnittlichen Familie, die sonst vielleicht in gepflegter Langeweile die Konventionen aufrechterhalten hätte, eine Gemeinschaft, die mutig und entschieden zusammenhält angesichts dieser Bedrohung und so viel an Liebe und Hoffnung entwickelt – viel mehr als sie sonst je erlebt hätten. Und man weiß nicht, was man dazu sagen soll, weil das Schlimme und das Gute so nahe beieinander liegen und man es eigentlich gar nicht gegeneinander aufrechnen kann.

So viele Geschichten gibt es davon, wie mitten im Dunklen, im Chaos dieser Welt, doch etwas Gutes wächst, und es gerade diese Umgebung ist, die das Gute noch viel eindrucksvoller macht.

Von dieser Art ist die auch die Geschichte, an die wir uns an Karfreitag erinnern. Ja, es ist die Geschichte, die allen anderen Geschichten zugrunde liegt. Es ist die Geschichte, in der die Spannung zwischen dem Guten und dem Schlechten so extrem ist wie nirgendwo sonst. Da ist der beste Mensch, dem Menschen je begegnet sind. Und man tut ihm das Schlimmste an, was Menschen sich für andere Menschen ausgedacht haben. Und daraus entsteht etwas überwältigend Gutes, das den Zustand der Welt ein für alle Mal ändert.

Deswegen weiß man nicht so genau, welche Gefühlslage man dem Karfreitag eigentlich zuordnen soll. Es ist kein Tag des trauernden Gedenkens, weil Jesus ja lebt, und weil sein Tod ein Sieg war, weil er am Schluss mit vollem Recht sagen konnte: es ist vollbracht. Aufgabe erfüllt. Es ist aber auch kein Tag, an dem man diesen Sieg unbeschwert feiert, weil viel zu deutlich ist, was Jesus dafür leiden musste. Gefeiert wird der Sieg zu Ostern. Heute denken wir uns eher da hinein, wie es war, als das Schicksal der ganzen Welt auf Messers Schneide stand, als die Entscheidung so knapp fiel, wie es nur irgend denkbar ist.

Wir hören dazu wieder auf einen Abschnitt aus den Liedern, in denen im Buch Jesaja das Schicksal des leidenden Gottesknechts beschrieben wird. Diese rätselhafte Gestalt, über deren Schicksal man nur Vermutungen anstellen kann, hat schon ganz am Anfang den Christen geholfen, den Tod Jesu zu verstehen. Und wahrscheinlich sind diese Teile der Bibel schon für Jesus selbst ein Schlüssel zu seinem Auftrag und zu seinem Werk gewesen.

Achten Sie darauf, wie auch in diesen Zeilen Schlimmes und Gutes, Scheitern und Erfolg, ganz dicht nebeneinander stehen. Sie beginnen mit Einleitungsworten, die von Gott gesprochen sind. Gott setzt den Rahmen, er formuliert eine Überschrift über die Geschichte, und in dieser Überschrift spricht Gott von Erfolg und Gelingen. Und unabhängig von der historischen Frage, was Jesaja wohl vor Augen gehabt hat, als er diese Worte sprach oder aufschrieb, hören wir das Ganze als als eine Überschrift und eine Deutung des Weges Jesu, wie wir ihn vorhin in der Lesung in den Worten des Johannesevangeliums (19,16-30) gehört haben:

13 Seht, mein Knecht hat Erfolg, er wird groß sein und hoch erhaben. 14 Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen. 15 Jetzt aber setzt er viele Völker in Staunen, Könige müssen vor ihm verstummen. Denn was man ihnen noch nie erzählt hat, das sehen sie nun; was sie niemals hörten, das erfahren sie jetzt.
1 Wer hat unserer Kunde geglaubt? Der Arm des Herrn – wem wurde er offenbar? 2 Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm. 3 Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. 4 Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. 5 Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. 6 Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen. 7 Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf. 8 Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft, doch wen kümmerte sein Geschick? Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten und wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen. 9 Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab, bei den Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war.
10 Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen (Knecht), er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben. Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen. 11 Nachdem er so vieles ertrug, erblickt er das Licht. Er sättigt sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht; er lädt ihre Schuld auf sich. 12 Deshalb gebe ich ihm seinen Anteil unter den Großen und mit den Mächtigen teilt er die Beute, weil er sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ. Denn er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein.

Das ist in Umrissen die Geschichte vom Tod Jesu, wie wir sie vorhin in den Worten des Johannes gehört haben. Ein paar Hundert Jahre vorher aufgeschrieben. Über so lange Zeit bleibt Gott sich und seinen Absichten treu. Und dann kommt Jesus und erlebt genau das: gestorben, weil die anderen versagt haben. Gelitten, um die Geschichte der ganzen Schöpfung wieder zurückzubringen auf den Weg zum Ziel.

Jesus stirbt als Repräsentant des Gottesvolks, das bis dahin seine Aufgabe nicht erfüllt hat. Pilatus schreibt es über das Kreuz, dass Jesus der König der Juden sei, und mit diesen Worten will er in Jesus das ganze Volk demütigen. Und so stirbt Jesus als der König, der für sein Volk eintritt, so wie David, der für alle anderen mit Goliath kämpfte. So kämpft Jesus für uns mit den Riesen, die Tod und Chaos heißen. Er ist der Hohepriester, der eine, der alle anderen vertritt, aber was er dann tut, das gilt auch für alle anderen. Er bringt das Sühnopfer, um uns freizukaufen von der Komplizenschaft, von dem Bündnis mit dem Bösen, das die Menschheit in ihrer bisherigen Geschichte eingegangen ist. Wir haben den Feind hineingelassen in die Welt, und jetzt ist er hier und ruiniert sie, aber wir bekommen ihn nicht wieder hinaus. Das wieder rückgängig zu machen, kostet einen Preis, den wir nicht bezahlen konnten.

Und am Anfang und am Ende von Jesaja und in der Mitte von Johannes steht dieses Wort vom Erfolg. Meinem Knecht wird es gelingen. Und Jesus in seinen letzten Worten, bevor sein Kopf zur Seite fällt und sein Leben ans Ziel gekommen ist: »Es ist vollbracht«. Geschafft. Gelungen. Durchgehalten. Nicht vom Weg abgekommen. Dem Teufel auch nicht den kleinen Finger gereicht.

Das ist die Summe des Lebens und Sterbens Jesu. Hier kommt alles zusammen, was er getan hat. Alle Worte des Lebens, die er gegen den Tod in jeder Gestalt gesprochen hat. Die Kranken, die er geheilt hat. Die von Dämonen geknechteten, die er befreit hat. Die Hungrigen, die bei ihm satt geworden sind. Die Jünger, denen er Gottes Wege gezeigt hat. Die großen und kleinen Herrscher, denen er entgegengetreten ist. Gott, den er verstanden hat wie kein anderer. Jetzt ist es alles zu Ende gebracht.

Und es ist Freitag, der sechste Tag der Woche (der Samstag, der Sabbat, ist ja der siebte). In sechs Tagen hat Gott die Welt geschaffen. Und am Ende, am Abend des sechsten Tages, schaute er zurück und sah, dass es sehr gut geworden war. Und so hat Jesus am sechsten Tag der Woche sein Werk der Erlösung fertiggestellt. Und er schaut zurück und sagt: »es ist vollbracht«. Mit seinem schrecklichen, demütigendem, quälendem Sterben hat er sein Werk vollendet. Er ist ganz unten angekommen, am letzten und finstersten Punkt menschlichen Lebens, und hat auch da das Zeichen aufgerichtet, auf dem die Worte der Rettung stehen: Glaube, Liebe, und Hoffnung. Das Vertrauen Jesu auf seinen Vater im Himmel. Die Liebe des Schöpfers zu seiner ruinierten Schöpfung. Und die Hoffnung, die nicht leer blieb, denn Gott hat Jesus auferweckt und sein Werk bestätigt.

Im Rückblick kann man sagen, dass Jesus am sechsten Tag tatsächlich die Erschaffung einer neuen Welt vollendet hat, und Gott gibt dieser Welt seine Zukunft. Jesu hat die neue Welt vollendet, und deshalb wird er auferstehen als der erste von allen, jetzt schon, und aus dem Nebel der Zukunft kommt er uns entgegen und zeigt uns, was dahinter liegt.

Ja, dieser Sieg muss noch umgesetzt werden. Ja, jetzt müssen die Jüngerinnen und Jünger aufbrechen, durch die ganze Welt, damit es auch alle merken, dass die Festungen des Dunkels erobert sind. Ja, es wird noch viele Kämpfe geben, es wird noch Leiden geben, es wird Menschen geben, die gegen viele Entmutigungen an diesen Sieg Jesu glauben, nicht als Ideologie, sondern die praktisch und aktiv aus dieser Kraft leben.

Aber es ist vollbracht. Die neue Welt hat begonnen, und sie überlappt sich an vielen Stellen mit der alten. Und deshalb kann man diesen Geschichten trauen, wo mitten im Chaos etwas großes Gutes beginnt. Der Geschichte von der Familie, die angesichts des Todes zusammenhält und ihren Bund mit dem Leben viel fester macht als vorher. Von den Christen, die jahrzehntelang nicht locker gelassen haben, bis der Sklavenhandel verboten war. Von den Leuten, die 1989 mit Kerzen und Gebeten in Leipzig und anderswo auf die Straße gegangen sind, und am Ende gab es keine DDR mehr. Ohne Jesus wären das Zufallsgeschichten, denen andere Geschichten voller Hoffnungslosigkeit entgegen stünden. Ohne seine Geschichte, in der das größte Gute inmitten des Allerschlimmsten geschah, hätte das alles keine sichere Basis. Aber seine Geschichte schafft die Grundlage, auf der diese Geschichten kein Zufall sind, und sie öffnet den Raum, in dem mehr von diesen Geschichten geschehen. Sie werden alle zu Zeichen der kommenden Welt, die jetzt schon hineinbricht in die alte.

Man kann die Geschichte von Karfreitag nicht erzählen, ohne dass schon überall die Spuren der Auferstehung leuchten. Pilatus, der in seiner Arroganz genau das Richtige schreiben muss über den König der Juden. Der römische Hauptmann, der im sterbenden Jesus den Sohn Gottes erkennt. Die Frauen, die gegen alle Hoffnung doch beim Kreuz aushalten, wenn auch von Ferne. Johannes und Maria, die Mutter Jesu, die Jesus in seinem letzten Willen zusammenfügt zu einer neuen Gemeinschaft.

Ja, das ist unser Platz: hier am Kreuz zu stehen und zu hören, welche Worte von dort aus kommen und uns anstoßen, damit wir neue Schritte gehen und an vielen Orten das Zeichen der Hoffnung aufrichten. Damit wir eine Gemeinschaft der Hoffnung werden, nicht eine spirituelle Freizeitbeschäftigung, sondern ein Ort, wo der Sieg, den Jesus vollbracht ist, schon gespürt und gelebt werden kann. Mit unserer Stimme – vielleicht erinnern sich einige, dass das der Alt ist – wollen wir einstimmen in das große Lied Gottes. Maria, Johannes, der römische Hauptmann, Simon von Kyrene, der Jesus das Kreuz tragen musste – ihrer aller Leben war danach nie wieder das alte.

Die tiefgreifende Veränderung der Welt, die durch diesen Tod Jesu geschehen ist, sie zeigte sich an ihnen als ersten. Aber sie bleiben bei weitem nicht die letzten. An so vielen Stellen sind bis heute solche Siegeszeichen aufgerichtet worden, oft mitten in Dunkelheit und Tod, oft unscheinbar und leicht zu übersehen, oft schnell wieder vergessen, weil das vielen nicht ins Weltbild passt.

Aber Karfreitag, der »gute Freitag« signalisiert, dass Gott mitten hineinkommt in unser Chaos, in unsere Dunkelheit, dass er sich nicht aus seiner Welt aussperren lässt. Als wir vor zwei Wochen hier diese Steine zum Kreuz gebracht haben, da haben sie stellvertretend gestanden für unseren persönlichen Anteil an der Gebrochenheit dieser Welt. Wenn der zum Kreuz gebracht wird, dann gilt auch für ihn, was Jesus gesagt hat: Es ist gelungen.