Die Musik der Passion (1)

Predigt am 2. März 2008 zu Jesaja 50,4-10

Vielleicht haben Sie noch die Lesung von vorhin (Markus 14,53-65) im Kopf – die Geschichte, wie Jesus gefangen zum Hohen Priester gebracht wird, und wie sie ihn dort in einem manipulierten Gerichtsverfahren zum Tode verurteilen, und dann, als ob er nun endgültig freigegeben ist für alle Gemeinheit, ihn beschimpfen, schlagen und anspucken. Bis heute ist die Zivilisation nur ein dünner Anstrich auf der Oberfläche; es braucht nur einen kleinen Anlass, und es wird sichtbar, wozu Menschen alles fähig sind. Und mittendrin Jesus, der verstummt ist und all das schweigend erträgt. Was soll einer noch sagen, wenn die brutale Gewalt angefangen hat, ihr Gesicht zu zeigen?

Diese Geschichte sollten wir in unseren Gedanken haben, wenn wir jetzt den Predigttext hören. Es ist ein Text aus dem Alten Testament, aus dem Buch Jesaja. Dort im Buch Jesaja haben die frühen Christen nachgelesen, wenn sie verstehen wollten, was Jesus passiert ist. Dort finden sich Geschichten, nein eher Gedichte oder Lieder von einem rätselhaften »Knecht Gottes«, dessen Geschichte auf eine merkwürdig genaue Weise der Geschichte Jesu gleicht. Und es besteht guter Grund, um anzunehmen, dass auch Jesus diese Gedichte im Kopf hatte, als er auf die für ihn tödliche Konfrontation mit der Macht in Jerusalem zuging. Es könnte sein, dass er selbst in diesen Worten seinen Weg vorgezeichnet gesehen hat und sich an ihnen orientiert hat, als er durch all das hindurchging:

4 Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. 5 Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. 6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. 7 Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. 8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! 9 Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.
10 Wer ist unter euch, der den HERRN fürchtet, der der Stimme seines Knechts gehorcht, der im Finstern wandelt und dem kein Licht scheint? Der hoffe auf den Namen des HERRN und verlasse sich auf seinen Gott!

Das ist die Geschichte von einem, der gelernt hat, Gottes Stimme zu hören und anderen weiterzusagen, so dass sie ermutigt ihr schweres Leben von Neuem angehen können. Einer, den das in die Konfrontation bringt, in den Konflikt. Er wird geschlagen und angespuckt, aber er weicht nicht zurück, er schweigt, weil es keinen Zweck hat, mit denen zu argumentieren, die die Wahrheit mundtot machen wollen, aber er nimmt nichts zurück von dem, was er gesagt hat und wofür er steht. Und er wartet darauf, dass Gott ihm zu seinem Recht verhelfen wird, und dass alle, die ihn zerstören wollen, scheitern und vergehen werden.

Wenn wir auf die Geschichte vom Leiden, Sterben und der Auferstehung Jesu hören, dann müssen wir das sozusagen nebeneinander hören: die Geschichten im Neuen Testament und diesen Vorlauf im Alten. Man kann es sich vielleicht an einem mehrstimmigen Chorstück klar machen: die Melodiestimme, also normalerweise der Sopran, ist im Vordergrund zu hören. Aber da gibt es auch noch den Bass, der dem Ganzen Stabilität und Tiefe gibt, der sozusagen die Grundlage abgibt, auf der sich dann die Melodie entfalten kann. Die Geschichte Jesu ist die Melodie: wie er nach Jerusalem geht und die Konfrontation mit den Mächtigen sucht, die die ganze Zeit versucht haben, ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen; wie er eine Woche in Jerusalem im Tempel zubringt und sich auf diesem feindlichen Territorium glänzend behauptet; wie er dann durch Verrat in die Hände seiner Feinde fällt, von ihnen verurteilt und grausam hingerichtet wird.

Wenn also die Melodiestimme diese Geschichte erzählt, dann ist das Alte Testament und ganz besonders das, was es über den Knecht Gottes sagt, die Bassstimme. Wenn die ersten Christen die Geschichte Jesu kurz zusammenfassten, dann sagten sie: Jesu starb für unsere Sünden nach der Schrift. Und dieses »nach der Schrift« bedeutet, dass Jesus die Antwort war, auf die das ganze Alte Testament zuläuft. Das Alte Testament stellt eine Frage, deren Beantwortung im Alten Testament noch offen bleibt.

Das Alte Testament erzählt die Geschichte davon, wie Gott die Welt vollkommen geschaffen hat, »sehr gut« in seinen eigenen Worten, und wie diese Welt aus den Fugen geriet durch die Schuld der Menschen. Und im Alten Testament stoßen wir dann auf immer neue Geschichten aus dieser zerbrochenen Welt, Mord und Lüge und Größenwahn und Machtgier und Sklaverei und Krieg und Hunger und Krankheit und was noch alles dort zu finden ist. Es sind diese Geschichten, von der auch die völlig weltliche Literatur voll ist – jeder Kriminalroman lebt davon.

Aber mitten in diesen Geschichten erzählt das Alte Testament auch davon, wie Gott sich ein Volk schafft und formt, durch das die Welt wieder in Ordnung gebracht werden soll. Es fängt an mit Abraham, es wird in Ägypten versklavt, und Gott befreit es; er gibt seinem Volk Gesetze und formt es 40 Jahre in der Wüste zu einem freien Volk ohne Sklavengesinnung; er gibt ihm ein Land, in dem man gut leben kann; er will eine Alternative schaffen, an der man ablesen kann, wie Gott sich das menschliche Zusammenleben eigentlich gedacht hat.

Aber dann läuft diese Alternative immer mehr aus der Spur; die Geschichten von der Versuchung und dem Verrat im Paradies wiederholen sich im Volk Gottes; Kriegspolitik nach außen und Unterdrückung im Innern zerstören Gottes Alternative mehr und mehr; und am Ende sorgt Gott selbst dafür, dass dieses Experiment beendet wird. Israel wird als Staat zerstört und erreicht nie wieder seine alte Größe.

Und das ist die Frage, die sich im Lauf der Jahrhunderte immer deutlicher heraus schält: ist Gottes Plan mit Israel jetzt gescheitert? Ist damit dann auch Gottes Plan mit der Welt gescheitert? Und immer wieder sagten die Propheten Israels, aber auch die einfachen Leute: das kann es doch nicht gewesen sein! Das kann doch nicht sein, dass Gott mit seinem Plan so scheitert! Da muss doch noch etwas nachkommen! Er hat doch sicher noch einen Plan B, es wird eine überraschende Wendung geben!

Aber die Jahrhunderte vergingen, die alten Geschichten wurden immer mehr zur Vergangenheit, und nichts dergleichen geschah. Aber als schließlich Jesus kam, da wurde seinen Jüngern nach und nach immer deutlicher: er ist es, mit dem Gott ein ganz neues Blatt in der Geschichte seines Volkes und in der Weltgeschichte aufschlägt! Er ist es, mit dem Gott seinen Plan doch noch ausführen wird!

Und deswegen dann diese Aussagen, dass Jesus starb »nach der Schrift«, und all die Zitate aus dem Alten Testament, die besonders Matthäus immer wieder einfügt, wenn er die Geschichte Jesu erzählt, aber die anderen Evangelisten auch. Immer wieder haben die Jünger Jesu ihre Bibel, das Alte Testament durchforscht und im Rückblick verstanden, wie da schon überall Spuren sind, die auf Jesus zulaufen. Um in diesem Bild eines Chorstücks zu bleiben: wenn Sie da nur den Bass hören, dann klingt das manchmal merkwürdig. Wenn bei den Proben diese Stimme allein singt, dann fragt man sich schon mal: wie soll das bloß am Ende klingen? Aber wenn man dann den Sopran dazu hört, dann versteht man, wie das ganze gemeint ist. Dann sagt man: ach, so passt das also zusammen! So klingt es gut!

Wenn wir also verstehen wollen, was der Tod Jesu bedeutet, dann müssen wir nicht nur die Geschichte selbst hören, sondern das ganze Stück mit seiner Grundierung in der Geschichte Gottes von Anbeginn der Welt an. Das Alte Testament endet mit einer großen Frage und einigen versteckten Hinweisen auf die Lösung, so wie der erste Teil eines Fernsehkrimis. Und man fragt sich, wie der Regisseur diese verzwickte Geschichte nur zu Ende bringen will, obwohl es doch einige hoffnungsvolle Hinweise gibt, dass es am Ende eine Lösung geben soll.

Und so heißt es auch am Ende dieses Jesajatextes:

10 Wer ist unter euch, der den HERRN fürchtet, der der Stimme seines Knechts gehorcht, der im Finstern wandelt und dem kein Licht scheint? Der hoffe auf den Namen des HERRN und verlasse sich auf seinen Gott!

Da kommt Gott selbst zu Wort, wie er fragt: gibt es unter euch einen, der meine Stimme im Munde meines Knechtes hört, auch wenn der geschlagen und beschimpft wird und keine gute Zukunft auf ihn wartet? Gibt es einen, dessen Herz trotz allem an den Worten hängt, die er von meinem Knecht gehört hat? Und es ist, als ob Gott exklusiv zu denen, die trotz allem nicht vergessen können, was sie von diesem misshandelten Knecht Gottes gehört haben, etwas sagt. Nämlich: vertraut mir! Die Geschichte geht gut aus! Auch wenn es ganz anders aussieht, auch wenn ihr jetzt in Ungewissheit auf die Fortsetzung warten müsst, aber verlasst euch darauf, es ist noch nicht aller Tage Abend!

Verstehen Sie, wir sind doch alle selbst betroffen von dieser Geschichte unserer zerbrochenen Welt. Zwischen der Geburt und dem Ende eines Menschen erleben wir das so oft am eigenen Leib. Man muss noch nicht mal an die Menschen denken, die in die großen Verwicklungen der Weltgeschichte hineingezogen werden und durch Krieg oder Unterdrückung ihre Heimat oder auch das Leben verlieren, obwohl auch unter uns einige das sehr deutlich erlebt haben. Aber auch in einem relativ geordneten und ruhigen Leben in einer ruhigen Gegend wie unserer begegnen wir immer wieder schmerzlich der Wirklichkeit der zerbrochenen Welt: Krankheit und Abschied, Lüge und Verrat, zerbrochene Beziehungen und zerstörte Hoffnungen; missachtete Schönheit und missbrauchtes Vertrauen; lähmende Traurigkeit, enttäuschte Hoffnungen und erdrückende Enge. So viele Menschen, die nicht das Format erreichen, die Größe, für die sie geschaffen sind. Und deshalb kommt in der Frage, die das Alte Testament stellt, auch unsere Frage vor, wenn wir nicht ganz aufgehört haben zu fragen: ist das schon alles? Gibt es da nicht noch eine Fortsetzung mit einer überraschenden Wendung, die das Ganze zu einem guten Ende bringt?

Und wenn wir noch einmal an den Chorsatz denken, dann gibt es da ja nicht nur die Melodiestimme und den Bass, sondern meistens auch noch Tenor und Alt. Den Tenor lasse ich heute mal außen vor, der soll am kommenden Sonntag noch seine Rolle spielen, aber da ist ja auch noch der Alt: irgendwo zwischen Bass und Sopran, gar nicht auffällig – es gibt in der Musik nicht viele wichtige oder bekannte Alt-Partien. Aber das Stück ist nicht komplett ohne den Alt, und an manchen Stellen hat er auf einmal eine ganz wichtige Rolle. Und so können wir uns unsere Stimme vorstellen, unsere ganz persönliche Geschichte, unseren eigenen Anteil an der Musik. Wir hören also die Melodie der Passionsgeschichte Jesu, und wir hören sie zusammen mit der Bassstimme des Alten Testaments und seiner ungelösten Frage, wie denn Gott diese verfahrene Situation überhaupt noch herumreißen kann. Aber dann sollen wir unsere eigene Geschichte da mit hineinbringen. Wenn wir nicht lernen, irgendwo dazwischen mitzusingen mit unserer ganz eigenen Stimme, dann ist das Stück nicht vollständig.

Die ganze Welt singt eine andere Melodie und versucht uns immer wieder in ihre Musik hineinzuziehen. Wir sind dabei zu lernen, wie wir in unserem Stück drin bleiben können, in der Geschichte vom Knecht Gottes, Jesus, dessen Aufgabe es ist, die Welt von neuem in Ordnung zu bringen. Wie wir in Harmonie bleiben können mit dieser erstaunlichen Geschichte, einer Geschichte davon, wie die Wende gerade durch Einen kommt, der in Dunkelheit und Schmerz geworfen wird, der im Finsteren wandelt und dem kein Licht scheint, und auf dem doch die ganze Hoffnung Gottes ruht. Wie wir unsere eigenen Geschichten von Schmerz und Traurigkeit verbinden können mit der Geschichte Jesu, über das Versprechen Gottes steht: es wird gut ausgehen.

Wenn wir so lernen, unsere eigenen Stimme, unseren eigenen Weg mit hineinzubringen in die Musik Jesu, unseren Weg parallel zu seinem zu gehen, dann verwandelt sich unser Weg. Dann bekommt unsere Stimme einen Zusammenhang, in dem sie erst richtig klingt. Dann finden wir uns umgeben, beschützt, erwartet, herausgefordert, geheilt und erneuert durch eine Liebe, die wir nirgendwo anders finden können. Gottes Liebe, wie sie in Jesus Gestalt angenommen hat. Sie ist die Rettung der Welt, und nur an Jesus können wir vollständig ablesen, wie sie wirklich ist.