Jesus geht (weiter)

Predigt am 12. Mai 2024 mit Johannes 16,5-15

Jesus sprach:
5 Jetzt aber gehe ich zu dem, der mich gesandt hat, und keiner von euch fragt mich: Wohin gehst du? 6 Vielmehr ist euer Herz von Trauer erfüllt, weil ich euch das gesagt habe. 7 Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden.
8 Und wenn er kommt, wird er die Welt überführen (und aufdecken), was Sünde, Gerechtigkeit und Gericht ist;
9 Sünde: dass sie nicht an mich glauben;
10 Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich nicht mehr seht;
11 Gericht: dass der Herrscher dieser Welt gerichtet ist.
12 Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. 13 Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird. 14 Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden. 15 Alles, was der Vater hat, ist mein; darum habe ich gesagt: Er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden.

Die Jünger Jesu sind traurig. Er hat ihnen gesagt, dass ihre Zeit mit ihm nun zu Ende geht. Drei Jahre waren sie zusammen, haben viel erlebt, viel gelernt, eine andere Lebensperspektive bekommen. Das geht jetzt zu Ende. Und wie jeder von uns möchten sie so eine gute Zeit festhalten. »Warum gehst du?« fragen sie. »Bleib noch ein bisschen, es war doch so schön!«

Jesus: Es ist gut, dass ich gehe!
Bild von Chil Vera auf Pixabay

Aber Jesus sagt: Nein, das geht nicht. Meine Mission ist fast erfüllt. Wenn ich bleibe, wird es nicht besser, sondern schlechter. Man kann eine gute Zeit nicht festhalten. Und vor allem: es ist auch für euch gut, wenn ich gehe, denn nur so kann das, was ihr mit mir erlebt habt, bleiben und weitergehen.

Das klingt jetzt komplizierter, als es ist. Stellen wir uns doch vor, was passieren würde, wenn Jesus einfach so weiter macht wie bisher. Er treibt den Konflikt mit den Priestern nicht auf die Spitze, er wird nicht gekreuzigt, er bleibt das, was man heute einen »unbequemen Mahner« nennt. Er zieht weiter herum, er heilt Menschen, er predigt gegen fromme Heuchelei, er ruft zum Gottvertrauen auf und „möchte Menschen Hoffnung geben“ (wie es heute kirchlich so schön heißt). Irgendwann wird er älter und ist nicht mehr so gut zu Fuß. Er darf bei Petrus im Gästezimmer wohnen und empfängt immer noch Menschen, die seinen Rat suchen.

Ein Traditionsverein werden?

Aber allmählich wird er müde. Die frühere Energie ist nicht mehr da. Eine Schwiegertochter von Petrus kümmert sich um ihn, pflegt ihn am Ende noch ein paar Jahre, bis schließlich seine Lebenskraft zu Ende ist und er stirbt. Zu seiner Beerdigung kommen noch einmal all seine Anhänger und Gefährten zusammen. Aber die sind jetzt alt geworden, viele sind auch gestorben oder zu schwach, um sich auf den langen Weg nach Nazareth zu machen.

Hinterher sitzen sie noch bei Kaffee und Mettbrötchen zusammen und erzählen von den alten Zeiten. Sie seufzen, dass die Welt sich so geändert hat und die Jugend sich kaum blicken lässt bei ihren Treffen. Irgendwer schlägt vor, dass man eine Jugendgruppe einrichten könnte, die mal zusammen in die Disco fährt oder den Jubilaren zu hohen Geburtstagen ein Ständchen bringt. Aber so richtig kommt das dann doch nicht zustande.

Wenn das so gelaufen wäre – wären wir heute Christen? Bestimmt nicht! Christen sind doch nicht der Traditionsverein der alten Jesusfreunde. Davor hat Jesus die Jünger bewahrt, indem er wegging: indem er den Konflikt auf die Spitze trieb, gekreuzigt wurde, auferstand und jetzt im Himmel, auf der verborgenen Seite der Welt, herrscht. Und dann, zu Pfingsten sendet er den Heiligen Geist. Der wird die Christen »in die ganze Wahrheit führen«. Das heißt: er wird uns die Augen öffnen für Jesus in immer neuen Zusammenhängen und uns da reinschicken.

Jesu Weg durch die ganze Welt, in die ganze Wahrheit

Und das sieht z.B. so aus: Jesus vor seiner Kreuzigung ist mit den Jüngern in Israel geblieben und hat zum Volk Gottes gepredigt. Nur für einen Kurzurlaub waren sie gelegentlich mal im Ausland, um sich von dem ganzen Stress zu erholen. Nach Ostern und Pfingsten schickt Jesus sie dann aber zu den anderen Völkern im ganzen römischen Reich und weit darüber hinaus.

Oh – zu den Heiden? Ernsthaft? Zu diesen unmoralischen Schweinefleischfressern, die auch ziemlich gefährlich sein sollen? Die meisten Jünger hatten da wahrscheinlich mindestens so die Hose voll wie manche Christen heute, wenn sie an den Islam denken. Und weil dieser Weg zu den Heiden mit den ursprünglichen Jüngern nicht wirklich in Gang kam, musste Jesus den Powertyp Paulus überfallen und ihm so richtig eins knallen, damit der kapierte, dass er jetzt für die Heiden zuständig war.

Das alles wäre nicht passiert, wenn Jesus in Frieden gealtert wäre, anstatt zu gehen und den Heiligen Geist zu senden. Und damit fing dieser »Weg in die ganze Wahrheit« ja überhaupt erst an. Der Glaube an Jesus breitete sich aus im römischen Reich, dem Imperium Romanum. Erst galten die Christen als Atheisten, weil sie keine richtigen Tempel hatten, sondern sich zu Hause trafen, wo ihnen keiner reinreden konnte. Dann waren sie plötzlich eine Religion, sogar die Staatsreligion. Wieder ein Weg ins Unbekannte: wie kann man den Weg mit Jesus in eine Religion transformieren? Geht das überhaupt?

Und heute?

Ich könnte jetzt lange von diesem Weg erzählen, den die verschiedenen Flügel der Christenheit dann gegangen sind, auch von den vielen Irrwegen und Sackgassen. Aber dann wird für uns alle das Mittagessen kalt. Also mache ich es kurz und springe in die Gegenwart: heute ist der Heilige Geist gerade dabei, uns daran zu erinnern, dass das Christentum auch gut funktionieren kann, wenn es keine Religion mehr ist. Also sozusagen Rückbau, nicht nur von Gebäuden und gesellschaftlichem Ansehen, sondern auch Rückbau von ganzen Denkgebäuden und Traditionen.

Ich sah neulich im Regionalfernsehen eine Mitchristin aus der katholischen Fraktion, die ganz traurig war, dass die Kirche in ihrer Gemeinde jetzt geschlossen und anderweitig genutzt wird. »Hier bin ich gefirmt worden, wir haben hier geheiratet und unsere Kinder taufen lassen« sagte sie. Es war als ob sie sagen wollte: »Bleib noch ein bisschen, es war doch so schön!«, wie die Jünger damals, als Jesus ankündigte, dass er nun zu einer neuen Station seines Wirkens aufbrechen würde.

Aber der Heilige Geist soll uns eben in die ganze Wahrheit führen, und die ist immer größer als das, was wir bisher mit Jesus erlebt haben. Und mit »Wahrheit« ist in der Bibel nicht in erster Linie die theologische Lehre gemeint, sondern der Weg, den Jesus uns durch den Heiligen Geist führt. Christen sind also nicht ein Traditionsverein (auch wenn manche das gern hätten). Christen sind eher eine Weggemeinschaft von Leuten, die zu einem Ziel aufgebrochen sind, wo sie noch nie waren. Die Wahrheit ist kein Lexikon mit richtigen Sätzen über Gott und die Welt, sondern in die Wahrheit wird man hineingeführt wie in ein neues Land, das man nach und nach entdeckt. Und hinterm Horizont geht es immer noch weiter.

Immer tiefer hinein!

Vorhin in der Lesung haben wir die schöne Stelle aus dem Epheserbrief (3,18) gehört, wo Paulus darum betet, dass die Gemeinde die Liebe Christi in all ihren Dimensionen erfassen möge – »in in ihrer Breite, in ihrer Länge, in ihrer Höhe und in ihrer Tiefe«. Da ist die Wahrheit, also die Liebe Christi, wie ein riesiger Raum, in den man nach und nach hineinwachsen soll. Das erschließt sich nach und nach immer mehr. Das fängt vielleicht damit an, dass du die Verkäuferin an der Kasse nicht mehr anmeckerst, wenn sie deine Tomaten falsch abgezogen hat. Aber irgendwann musst du auch über die Marktmacht von Lebensmittelkonzernen nachdenken und dich beschäftigen mit den Verflechtungen von Bauernverbänden, Banken, Saatgutfirmen und Agrarbürokratie. Und wenn du sagst: ach nee, das ist mir alles zu kompliziert, reicht es nicht, wenn ich zu der Frau an der Kasse nett bin? – dann wäre die Antwort: der Weg in die ganze Wahrheit ist immer ein Aufbruch ins Ungewisse. Es gibt immer wieder Neues zu entdecken und zu lernen. Wenn uns das zu mühsam ist, dann bleiben wir der Traditionsverein der alten Jesusfreunde. Aber die Musik spielt woanders.

Jesus schickt den Heiligen Geist, weil wir seine Mission fortsetzen sollen. Er ist damals in Israel beispielhaft seinen Weg gegangen, und das ist das Muster, das wir auf unsere Situation übertragen sollen. Nachfolge Jesu heißt ja nicht, dass wir in Klamotten wie vor 2000 Jahren rumlaufen, die Haare schulterlang wachsen lassen, Sandalen tragen und vielleicht noch Aramäisch lernen – also die Sprache, die Jesus wahrscheinlich im Alltag gesprochen hat. Nachfolge Jesu heißt: seinen Weg mitgehen, aber auf einer ganz anderen Etappe als damals.

Wahrheit erschließt sich

Deswegen sagt Jesus: der Heilige Geist nimmt die Dinge von mir. Der sagt also nichts anderes als Jesus, aber er aktualisiert das für die jeweilige Zeit und Situation. Er hört auf Gott und sagt uns, was jetzt von Jesus aus dran ist. Dann ist klar, warum die Jünger das damals noch nicht begreifen konnten. Stellt euch vor, Jesus hätte damals gesagt: ach ja, und noch eins: 2024 nach Christus, bei der Europawahl, da macht bitte euer Kreuz so und so. Dann hätten sie ihn groß angeschaut und gefragt: was ist Europa? Was für eine Wahl? Und wieso sollen wir 2024 gekreuzigt werden?

Das ist die Aufgabe des Heiligen Geistes, uns solche Anweisungen dann zu geben, wenn es so weit ist. Und auf diesem Weg erschließt sich uns die Wahrheit immer weiter. Manche denken ja stattdessen: die Wahrheit Jesu sollte man möglichst rein halten ohne irgendwelche Beschmutzungen durch veränderte Verhältnisse. Möglichst wörtlich, genau wie es in der Bibel steht. Aber der Job des Heiligen Geistes ist es, uns die ganze Fülle zu erschließen, die in Jesus steckt, und die er damals seinen Jüngern erst anfangsweise eröffnen konnte. So wie es im Kolosserbrief (2,3) heißt: In Jesus Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.

Alle Schätze. Die ganze Wahrheit. Alles in Jesus Christus – aber verborgen. Und der Heilige Geist führt uns in diese Schatzkammer hinein und enthüllt sie uns nach und nach. Und wir wollen doch nicht die Leute sein, die sagen: Gleich hinter der Tür zur Schatzkammer lagen schon ein paar dicke Bündel mit 1000 € – Scheinen, die habe ich mir genommen, das reicht mir schon. Mehr will ich nicht. Mit Goldstücken und Diamanten kenne ich mich nicht so aus, Heiliger Geist, zeig die den anderen!

Bessere Lösungen haben

Nein! Jesus will durch den Heiligen Geist in uns die Welt erreichen. Nicht weniger! Er will sie „überführen“, heißt es hier bei Johannes. Er will, dass den Menschen die Wahrheit so plausibel wird, dass sie sagen: Ja, das ist es! So hängt das also alles zusammen. Das ist die Lösung! Das machen wir nach! Christen sollen sich in der Welt besser auskennen als die anderen. Nicht, damit sie alle von oben herab belehren, sondern damit sie gute Lösungen parat haben, wenn den anderen die Probleme über den Kopf wachsen. Lösungen! Problembären haben wir schon genug.

Wenn Christen nämlich ein passendes und umfassendes Bild der Welt haben – und leben: wie sie mit Liebe funktioniert und nicht mit Egoismus und Kampf und Willkür der Stärksten, dann wird es plausibel werden, dass die eigentliche Sünde darin besteht, nicht an Jesus zu glauben, sich nicht in seine Wahrheit hineinführen zu lassen. Und die Gerechtigkeit besteht darin, dass Gott den gekreuzigten Jesus auferweckt und seinen Weg bestätigt. Endlich wird da der klar ins Recht gesetzt, den sie alle verurteilt und ans Kreuz gebracht haben. Und das bedeutet Hoffnung auch für alle anderen, denen Unrecht getan worden ist. Am Ende wird allen Gerechtigkeit widerfahren, die bis dahin vergeblich auf Gerechtigkeit gewartet haben.

Und der Fürst dieser Welt, der Mammon, der Machtgott, den sie alle anbeten und der über Leichen geht, der ist schon gerichtet, der erlebt in den Taten der Christen immer wieder Niederlagen und ist auf dem absteigenden Ast. Das ist das Gericht. Also trenn dich vom Zerstörer, damit du am Ende nicht zu den Verlierern gehörst! Handle nicht aus Angst und Bedenken, sondern aus dem Heiligen Geist heraus, der uns die Wahrheit Jesu immer wieder taufrisch ins Herz pflanzt. Sieh zu, dass der Böse sich auch an dir die Zähne ausbeißt!

Bist du nur ein kleines Licht?

Und wenn du jetzt denkst: ach, das ist doch nichts für mich, so groß kann ich nicht von mir denken, da geht es bestimmt um andere – ich bin doch nur ein ganz kleines Licht! Dann überleg dir: hat dir das der Heilige Geist gesagt? Oder haben dir das Menschen eingetrichtert?

Überleg es dir gut! In einer Woche ist Pfingsten. Bis dahin hast du noch Zeit.

Schreibe einen Kommentar