Wie in einem Spiegel

Predigt am 20. Mai 2007 zu Johannes 14,15-19

15 Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten. 16 Und ich werde den Vater bitten und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll. 17 Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird. 18 Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, sondern ich komme wieder zu euch. 19 Nur noch kurze Zeit, und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich, weil ich lebe und weil auch ihr leben werdet.

Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass es bei Jesus Worte gibt, die sich so anhören, als ob er gar nicht will, dass alle ihn verstehen können? z.B. im Markusevangelium (Kap. 4) sagt Jesus: ich rede in Gleichnissen, damit sie hören und nichts verstehen, damit sie sehen und nichts erkennen. Und hier ist wieder so eine Stelle, wo Jesus sagt: ich sende den Geist der Wahrheit, aber die Welt kann ihn nicht empfangen. Sie sieht ihn gar nicht. Und Jesus findet das offensichtlich richtig. Aber wie geht das, dass zwei Leute, die beide nicht dumm sind, die gleiche Geschichte hören und der eine versteht sie und der andere nicht? Zum einen kommt der Heilige Geist, und der andere merkt gar nichts davon? Warum ist das so?

Man muss sich das vorstellen wie mit einem Spiegel: zwei Leute schauen rein, aber beide sehen unterschiedliche Dinge. Der eine sagt: ich sehe die Haustür und den Flur, und der andere sagt: ich sehe das Wohnzimmer mit den Möbeln. Beide schauen in den gleichen Spiegel, aber sie sehen etwas ganz anderes. Woran liegt es? Sie stehen an unterschiedlichen Stellen. Sie schauen aus unterschiedlichen Richtungen. Und deshalb sehen sie Unterschiedliches.

So ist es auch mit Jesus: man nimmt ganz verschiedene Dinge von ihm wahr, je nachdem wo man steht. Es liegt nicht an der Intelligenz oder an der Kreativität, die einer hat, sondern daran, wo er steht. Natürlich weiß die Welt von Jesus – übrigens: die Welt, das sind alle Menschen, die fest eingebunden sind in die Gesellschaft, die denken wie alle anderen und so leben wie alle. Natürlich wissen die von Jesus. Damals in Jerusalem kannte jeder Jesus, und heute wissen ziemlich viele, dass Geschichten über ihn in der Bibel stehen, und mancher kennt auch noch solche Geschichten aus dem Religionsunterricht z.B. Aber man kann ganz viel davon wissen und trotzdem keinen Zugang dazu haben.

Was man im Spiegel sieht, das hängt vom eigenen Standort ab. Deswegen gibt es auch so viele Auslegungen der Bibel und so viele Spielarten des Christentums. Manche Menschen sagen: das kann doch nicht sein, der eine sagt dies, der andere das, was ist denn nun richtig? Aber tatsächlich wird das nie aufhören, weil es von uns selbst abhängig ist, was sich uns erschließt von Jesus. Von uns selbst, von unserer Persönlichkeit und dem Jahrhundert, in dem wir leben, vor allem aber von der Frage, ob wir mit Jesus mitgehen. Jesus ist ja immer unterwegs gewesen, und man musste mit ihm unterwegs sein, wenn man ihn verstehen wollte. Seine Jünger hat er genau dazu berufen, dass sie mit ihm unterwegs sind und ihn vielen verschiedenen Situationen kennenlernen.

Heute, wo Jesus nicht mehr draußen auf der Straße rumläuft, ist das Stichwort dafür »Heiliger Geist«. Jesus sendet den Heiligen Geist, weil es im Glauben nicht um ein Gebäude aus Lehrsätzen geht, sondern um ein Lebensverhältnis. Und der Heilige Geist kommt nur in dem Maß zu uns, wie wir uns von ihm bewegen lassen. Wir verstehen nur so viel, wie wir auch tun. Na ja, vielleicht ein bisschen mehr, aber nicht sehr viel mehr. Wir selbst entscheiden darüber, ob das Leben Jesu wirklich bei uns Einzug hält, und zwar läuft das ganz einfach darüber, ob wir tun, was er sagt. »Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten« sagt Jesus, und dann wird dieser Prozess in Gang kommen, dass der Heilige Geist zu uns kommt und Jesus von neuem mitbringt.

Man kann sagen, Jesus hat für seine Botschaft die perfekte Tarnung gewählt. Jeder, der sich von seinem Geist bewegen lässt, für den wird dieser Geist eine Hilfe und eine Unterstützung sein, und dann wird das Leben Jesu in ihm weitergehen. Der Geist wird uns helfen, dass das Leben, das Jesus bietet, allmählich zu unserem eigenen Leben wird.

Aber auf der anderen Seite wird derjenige, der sich vom Geist nicht bewegen lässt, auch nicht begreifen, worum es bei Jesus geht. Es geht dabei nicht einfach um die Frage, ob man das auch tut, was man von Jesus begriffen hat. Es ist noch grundsätzlicher: wenn du nicht angefangen hast zu leben, was Jesus sagt, dann wirst du gar nicht verstehen, was er sagt. Jesus hat immer dafür gesorgt, dass diejenigen, die ihm nicht nachfolgen, ihn auch nicht wirklich verstehen. Deswegen hat er in Gleichnissen geredet, und deswegen hat er uns nicht eine Sammlung von Vorschriften hinterlassen, sondern den Heiligen Geist gesandt.

Deswegen ist es möglich, ganz viel über Jesus zu wissen, und trotzdem nicht zu verstehen, worum es bei ihm geht. Man kann die richtigen Sätze über Jesus bejahen und trotzdem unglücklich sein. Man kann die richtigen Lehrsätze bejahen und trotzdem Jesus nicht kennen.

Man kann sich das klar machen an den beiden Bedeutungen des Wortes »Tafel«: eine Tafel ist entweder eine Schultafel, wo lauter richtige Sachen drauf stehen, und man sollte sie sich abschreiben und so gut wie möglich merken. Eine Tafel ist aber auch ein Platz, wo es gute Sachen zu essen gibt, und man sollte sie sich mit großem Appetit einverleiben.

So stellt Jesus hier zwei verschiedene Arten gegeneinander, wie Menschen sich zu ihm verhalten: die Welt erkennt und sieht den Heiligen Geist nicht. All die Menschen, die von den Konventionen der Gesellschaft nicht loskommen, die mitschwimmen im großen Strom, die schauen sozusagen auf eine Schultafel und schreiben die Sätze dort ab und verstehen nicht, worum es wirklich geht. Aber wirklich erschließen tut sich die Wahrheit Jesu nur dann, wenn sie für uns wie eine festlich gedeckte Tafel ist, an der wir Platz nehmen und mit großem Appetit zulangen. Wenn man richtig gearbeitet hat, dann hat man auch Hunger, und dann schmeckt alles noch mal so gut. Wenn man nicht in der Arbeit steht, in den Mühen und Verlegenheiten, die es mit sich bringt, mit Jesus zu gehen, dann hat man auch diesen Hunger nicht, und dann schätzt man auch die Speisen auf der Tafel nicht wirklich.

Wir kommen heute aus einer Vergangenheit, in der das Christentum eine Kraft war, die die Gesellschaft in vieler Hinsicht kulturell geprägt hat. Die beste Bezeichnung, die ich dafür gefunden habe, lautet: eine christentümliche Gesellschaft (Michael Herbst). In einer christentümlichen Gesellschaft gelten christliche Traditionen und christliche Sitte, auch wenn sich natürlich schon immer viele insgeheim nicht daran gehalten haben. Die Menschen kannten die Bibel, sie konnten es verstehen, wenn jemand sie zitierte, sie hatten Bibelverse und Lieder auswendig gelernt, und sie hatten viele Bilder vor Augen, in denen die Geschichten von Jesus dargestellt waren. In so einer christentümlichen Gesellschaft schreiben alle von der richtigen Tafel ab, aber damit ist noch längst nicht gesagt, dass sie auch beim Festessen an der reich gedeckten Tafel sitzen. Wir sind da ganz nahe an der jüdischen Gesellschaft in der Zeit Jesu, die ja auch eine biblisch geprägte Gesellschaft war. Das Alte Testament war jedem vertraut und regelte beinahe jeden Aspekt des Lebens. Und trotzdem sagt Johannes: die einen haben den Geist der Wahrheit, und die anderen nicht.

Es ist für eine Gesellschaft sicher gut und hilfreich, wenn sie sich auf christliche Grundwerte stützt. Aber es ist nicht gesagt, dass in einer christentümlichen Gesellschaft auch die Chance, Jesus zu kennen, größer ist. Das sind zwei verschiedene Dinge. Und Johannes lag anscheinend daran, die Worte Jesu extra so zu überliefern, dass wir das nicht miteinander verwechseln.

Deswegen umschreibt er in seinem Evangelium mit immer neuen Bildern und Definitionen diese verborgene Gegenwart Jesu, er meditiert sie, er umkreist sie, er versucht, etwas zu beschreiben, was man eigentlich erleben muss. Deswegen ist Johannes oft nicht einfach zu verstehen. Wie Jesus selbst sendet er eine Botschaft aus, die nur dann zu verstehen ist, wenn man sie lebt. »Ihr werdet mich sehen, denn ich lebe, und ihr sollt auch leben.« sagt Jesus. Damit ist natürlich das volle Leben des Reiches Gottes gemeint. Die Lebenden erkennen einander. Das Auferstehungsleben Jesu spiegelt sich wider in dem neuen Leben seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger. Die anderen lernen vielleicht sogar Bibelverse auswendig und verstehen trotzdem nichts von dem, worum es Jesus geht.

Wir haben hier also eine höchst kunstvoll weitergegebene Botschaft, die zu jedem so kommt, wie er sie aufnimmt. Ein Spiegel, in dem unterschiedliche Menschen Unterschiedliches sehen. Einige sehen auch gar nichts.

Ein Literaturwissenschaftler hat in einem anderen Zusammenhang einmal gesagt, ein Text wie z.B. ein Gedicht sei ein Apparat zur Erzeugung von Sinn. Und er meinte damit, es ginge gar nicht um die Frage, was da eigentlich steht (also die berühmte Frage: „was will uns der Dichter hier sagen?“), sondern was dieser Text und sein Leser miteinander machen. Das ist natürlich ein bisschen steil, weil man aus einem Text nicht willkürlich irgendetwas machen kann. Aber etwas abgewandelt kann man sagen, die Bibel ist ein Apparat zur Erzeugung neuen Lebens. Es geht nicht darum, was da steht, sondern ob der Heilige Geist in den Texten und durch sie hindurch mit uns etwas tun kann.

Lassen Sie es mich an einem Beispiel sagen: viele Menschen benutzen die Bibel ja so, dass sie sie irgendwo aufschlagen, wenn sie in einer besonderen Bedrängnis sind, dann sich blind eine Stelle suchen und das als Gottes Wort und Wegweisung in diesem Moment annehmen. Das ist natürlich eine ganz fragwürdige Methode, und es hat oft gar nichts mit dem zu tun, was da wirklich steht. Ich würde es wirklich nicht unbedingt empfehlen.

Und trotzdem kann das von Johannes aus gesehen doch manchmal der richtige Weg sein, weil es da einer wirklich wissen will, weil einer nicht von der Tafel Richtigkeiten abschreiben will, sondern weil er an der Tafel mit dem nahrhaften essen Platz nehmen will, weil er aus ehrlichem Herzen bereit ist, das zu tun und zu leben, was dann von Gott her zu ihm kommt. Wer auf jeden Fall die Wahrheit hören will, zu dem wird sie kommen, auf welchen Wegen auch immer.

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