Jesus schreibt die Spielregeln neu

Predigt am 05. April 2009 zu Johannes 12,12-19

12 Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem käme, 13 nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel! 14 Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,9): 15 »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« 16 Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan hatte. 17 Das Volk aber, das bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat. 18 Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. 19 Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.

Dies ist ein politischer Text, und trotzdem ist er irgendwie anders. Die Leute begrüßen Jesus wie einen König, und Jesus spielt das sogar mit, er inszeniert durch das Reiten einen Auftritt, bei dem er deutlich in die Rolle eines Königs kommt, der vor einer jubelnden Menschenmenge in eine Stadt einzieht, Jesus thematisiert mit dieser Symbolhandlung also die politische Sphäre, aber irgendwie läuft es dann doch anders, schon deshalb, weil ein Esel gar nicht zu einem König passt. Und man weiß nicht so recht, ob Jesus nun ein König sein will oder nicht. Sechs Kapitel vorher, nachdem er Tausende Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen gesättigt hatte, wollten die Menschen ihn schon mal zum König machen, und da hat sich Jesus rechtzeitig aus dem Staub gemacht, weil er das nicht wollte. Hier geht er auf diesen Wunsch ein, aber irgendwie doch nicht so richtig.

Auf solche scheinbaren Unklarheiten trifft man öfters in der Bibel. Und ich habe unzählige Diskussionen erlebt, die offiziell oder inoffiziell um die Frage kreisten: »wie politisch soll/darf/muss die Kirche sein?« Und die enden alle unbefriedigend, weil die Frage falsch gestellt ist. Wir wenden unsere Begriffsschubladen auf das Evangelium an, und das Evangelium gibt zurück: es passt nicht, es klemmt irgendwie, die Schublade geht nicht zu.

Das Problem dabei ist, dass Jesus nicht einfach im Machtspiel der Politik mitspielt, sondern er verändert die Spielregeln. Und das hat natürlich politische Folgen, aber nicht in der Art, wie wir das erwarten. Wir kennen Politik entweder so, dass da verschiedene Akteure mit mehr oder weniger Macht auf mehr oder weniger geschickte Weise miteinander in den Clinch gehen, sich verbünden oder sich bekämpfen. Und dann kennen wir noch die andere Variante der Revolution, wo Menschengruppen, die bisher von diesen Machtspielen ausgeschlossen waren, auf einmal sehr deutlich sagen: wir wollen aber auch dabei sein! Wir sind auch Akteure, wir schauen uns nicht mehr nur im Fernsehen an, was ihr da veranstaltet, wir mischen uns ein!

Diese zweite Art der Politik kennen wir hier in Deutschland nicht so sehr, aber in Ländern wie Frankreich ist das nicht so unbekannt, da kommt es schon öfter mal vor, dass die Leute in Massen auf die Barrikaden gehen, oder dass der Generalstreik ausgerufen wird, oder dass Bauern die Autobahn blockieren oder ein paar Fuder Mist vor dem Landwirtschaftsministerium abladen.

Und auch Israel gehörte zu Jesu Zeiten zu den Ländern, in denen so eine revolutionäre Tradition lebendig war. Die Juden waren das Volk, das immer wieder Befreiungskriege gegen das Römische Reich geführt hat – allerdings haben sie nie gewonnen, weil die Römer einfach zu stark waren. Aber das waren nicht so kleine Strohfeuer, die man schnell austreten konnte, sondern Rom musste jedesmal richtig ein mehrere Legionen hinschicken, bis die Lage wieder unter Kontrolle war.

Aber Jesus passt einerseits nicht in das Schema der normalen Politik – ich glaube, das war damals wie heute allen klar -, aber er passt andererseits auch nicht in das Schema der revolutionären Politik. Aber irgendwie steht er diesem revolutionären Schema näher. Und weil in Israel diese Alternative der revolutionären Politik auch wirklich zur Debatte stand, deshalb hatte Jesus vor allem damit ein Problem, dass er öfters im Sinne der revolutionären Politik missverstanden wurde. Und zwar von seinen Freunden ebenso wie von seinen Feinden.

Und diese Szene am Stadttor von Jerusalem zeigt, dass Jesus zwar einige Symbole der herkömmlichen und auch der revolutionären Politik aufnimmt, aber er verfremdet sie gleichzeitig, und er versucht damit auszudrücken, dass er die ganzen Spielregeln des politischen Handelns verändert. Der König auf dem Esel passt auf keinen Fall zur konventionellen Politik, aber auch nicht richtig zur revolutionären Spielart der Politik. Stattdessen erinnert er an eine Prophezeiung Sacharjas, der schon Jahrhunderte vorher von einem Friedenskönig geredet hat, der anders ist: er ist arm, deshalb reitet er ja auf einem Esel und nicht auf einem Pferd, es gibt Abrüstung, denn er kommt ohne Pferde und Streitwagen aus, die ja damals ungefähr das waren, was heute Panzer sind. Und er sorgt für weltweiten Frieden.

Es steht aber hier ausdrücklich dabei, dass selbst seine Jünger das damals nicht begriffen haben, sondern ihnen fiel erst nach seinem Tod und seiner Auferstehung dieser Zusammenhang ein. Naja, die sind eben auch nicht immer mit der Bibel in der Hand rumgelaufen.

Aber die Leute, dieser Haufen, der ihn mit Palmzweigen begrüßt und in Königsrufe ausbricht, die scheinen tatsächlich instinktiv etwas begriffen zu haben, was sie dann aber nur mit diesem traditionellen Königsbegrüßungs-Ritual ausdrücken können. Das ist die Weisheit der Massen: die Leute spüren etwas ganz richtig, aber sie haben nicht unbedingt die Begriffe und Ausdrucksformen dafür. Die Leute stellen den Zusammenhang her zwischen der Auferweckung des Lazarus von den Toten durch Jesus einige Tage vorher und dieser Königsbegrüßung. Wer Tote auferwecken kann, der soll König sein!

Das wäre ja keine schlechte Idee, wenn man auf diese Weise die politischen Positionen vergeben würde: Finanzminister wird man erst, wenn man schon mal 5000 Menschen mit fünf Broten satt bekommen hat, Verteidigungsminister wird man, wenn man schon mal eine feindliche Armee mit Blindheit geschlagen hat, wie es der Prophet Elisa machte, und Bundeskanzler wird, wer mindestens einen richtig Toten schon wieder ins Leben zurückgeholt hat. Aber bitte ohne Sauerstoff und ohne Defibrillator!

Sie sehen: das funktioniert nicht. Da habe ich jetzt die konventionelle Politik und diese neue Art von Jesu vermischt. Das kann nur Murks geben. Die konventionelle und die revolutionäre Politik funktionieren beide unter der Voraussetzung, dass niemand Tote auferwecken kann. Wenn es aber einen gibt, der das kann, dann ändern sich die Spielregeln.

Oder, um es noch mal allgemeiner zu sagen: die Spielregeln der Politik ändern sich, sobald Menschen Zugang zur Lebenskraft Gottes haben. Diese spektakulären Zeichen wie die Auferweckung von Toten waren ja Hinweise, dass bei Jesus die Lebenskräfte Gottes auf eine bisher ungeahnte Weise zu finden waren. Wenn die Lebensquellen Gottes nur als ein dünnes Rinnsal bei den Menschen ankommen, dann spielen Machtmittel wie Panzer und Geld und Einfluss eine große Rolle. Aber wenn durch Jesus die Schleusen aufgehen und das volle, ganze, ewige, göttliche Leben uns hier auf der Erde wieder erreichen kann, dann kommen die normalen Machtmittel nicht dagegen an.

Das haben dann erst die Jerusalemer Autoritäten zu spüren bekommen, als sie Jesus durch die Kreuzigung eben nicht aus der Welt geschafft hatten und seine Bewegung eben nicht erstickt hatten. Und zwei Jahrhunderte später bekamen die römischen Kaiser damit ein Problem, weil sie mit all ihren Legionen nicht Menschen besiegen konnten, die in der Kraft der Auferstehung Jesu lebten und sich in den Nischen und Ritzen des Reiches ausbreiteten.

Was ist der Unterschied? Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen, so hat es, glaube ich, Lenin formuliert. Sie ist, wenn man es ganz hart sagen will, die Macht, mit dem Tod zu drohen und nötigenfalls zu töten. In zivilisierten Staaten passiert das zum Glück nur sehr selten, aber das Gewaltmonopol ist bis heute der Kern jedes Staates. Das ist gut so, weil das Gewaltmonopol des Staates normalerweise verhindert, dass die Menschen sich am Gartenzaun mit Knüppeln totschlagen. Aber es bleibt am Ende doch die Macht, Gewalt auszuüben und sogar zu töten.

Jesus hat dagegen die Macht, Leben zu schenken. Er hat die Macht, Menschen neu zu machen. Er hat die Macht, zu heilen, was durch Gewalt und Unrecht und Unglück zerstört worden ist. Und die Pharisäer stehen frustriert da, weil sie da einfach nicht gegen ankommen. Vorher waren sie diejenigen, auf die man gehört hat, aber jetzt haben die Leute etwas Besseres, sie haben eine Alternative, und da ist es, als ob den bisherigen Machthabern einfach der Stecker rausgezogen worden ist. Niemand hat sie bekämpft, niemand hat sie angegriffen, niemand tut ihnen was, es achtet nur keiner mehr auf sie, und das ist das Schlimmste, was ihnen passieren kann.

In der Politik gibt es so viel Kampf, weil da alle letztlich mit den gleichen Mitteln und auf dem gleichen Niveau kämpfen, auch die Revolutionäre unterscheiden sich da nicht so sehr. Wenn aber das Leben Gottes da ist, dann wirkt es nicht gegen etwas oder jemanden, sondern es bringt einfach nur Leben. Menschen, die aus dem großen Leben Gottes leben, kämpfen nicht gegen jemanden, sie haben gar keine Zeit, um gegen jemanden zu sein, aber gerade das ist die stärkste Infragestellung der normalen Politik, die man sich denken kann.

So haben die Christen die Politik immer dann am meisten beeinflusst, wenn sie bei ihrer eigenen Sache waren und Zonen göttlichen Lebens aufgebaut haben: Gemeinschaften normaler Menschen, in denen die Kräfte des Himmels flossen und von da aus die Welt beeinflussten. Der Friedenskönig Jesus auf dem Esel wird ja von ganz normalen, durchschnittlichen Menschen begrüßt. Bei denen passiert von nun an das wirklich Entscheidende: bei den normalen Menschen, die sonst nur am Fernsehschirm dabei sind, wenn die Mächtigen miteinander verhandeln. Auf die richtet sich jetzt der Lichtkegel. Die können seit Jesus die wichtigsten Akteure sein, wenn sie sich für die Lebenskraft des Evangeliums öffnen.

Dann entstehen Gemeinschaften, die füreinander sorgen und sich die Angst vor dem Mangel nehmen, die füreinander sorgen und sich die Angst vor der Krankheit und dem Unglück nehmen, die Miteinander arbeiten und für sich und andere Reichtum hervorbringen, die miteinander beten und Gottes Schönheit noch ganz anders wahrnehmen, die nach göttlich inspirierten Regeln miteinander im Frieden leben und das alles auch zu den anderen ausstrahlen. Gemeinschaften göttlichen, ewigen Lebens.

Ob das bei dir und bei mir und in vielen anderen Gemeinden ebenso passiert, das ist die wirklich wichtige Frage, viel entscheidender als die Ergebnisse von Gipfelkonferenzen. Jesus nimmt das Schicksal der Welt aus den Händen der Mächtigen und legt es in die Hände von durchschnittlichen Menschen wie du und ich. Werden wir diese Verantwortung annehmen und verstehen, dass das ganze Schicksal der Welt sich daran entscheidet, ob wir lernen, noch viel bessere Empfänger des ewigen Lebens zu sein als bisher? Werden wir alles daransetzen, unter der Regierung dieses eselsreitenden Friedenskönigs zu sein? Oder lassen wir uns blenden von dem Eindruck, dass dort bei denen auf dem Fernsehschirm die wirklich wichtigen Dinge passieren? Wir müssen lernen, die Sachen ganz anders zu sehen.

Ehre, wem Ehre gebührt: diese Geschichte habe ich – in abgewandelter Form – der April-Ausgabe 2009 der WILLOWnews von Willow Creek Deutschland entnommen.

Ich möchte das zum Schluss noch mal mit einer Geschichte auf den Punkt bringen. Drei Männer waren gestorben und trafen sich in dem Zug, der sie in die jenseitige Welt brachte. Und sie unterhielten sich darüber, was sie sich wünschen, was jetzt bei ihrer Beerdigung gesagt wird. Zwei waren noch ganz im konventionellen Denken drin. Der eine meinte: ich wünsche mir, dass jetzt jemand sagt, wie wichtig meine Arbeit für meine Firma gewesen ist, und wie schwer es ohne mich ist. Der zweite sagte: »Ich würde mir wünschen, dass jemand daran erinnert, wie gut ich mich immer um meine Familie gekümmert und für sie gesorgt habe.« Nur der Dritte hatte schon eine Ahnung von den Möglichkeiten Gottes bekommen. Und er meinte: »Was ihr sagt, klingt toll. Aber ich würde jetzt am liebsten von meiner Familie und von meinen Freunden die Worte hören: ‚Schaut – er bewegt sich wieder!’«

Verstehen Sie? Wir haben eine unverschämt große Hoffnung über alle Erwartungen hinaus, eine Hoffnung, die unseren Horizont aufreißt und alle Erwartungen übersteigt. Eine Hoffnung jenseits dessen, was wir als Frucht unserer Handlungen erwarten könnten. Es gibt keinen denkbaren Weg, auf dem wir das erreichen könnten. Aber wir können alles, was in unseren Kräften steht, einsetzen, um an den Ort zu kommen, wo Gott diese Hoffnungen erfüllt. Jesus musste dafür ans Kreuz gehen – an den dunkelsten Ort der Welt. Aber das war der Ort, wo Gott die größte Hoffnung wahr machte: die Auferstehung von den Toten. Wenn wir auf unsere viel bescheidenere Weise ihm nachfolgen, dann werden wir auch an solche Orte der Hoffnung kommen. Orte, wo die Hoffnung wahr wird, dass der Tod in jeder Gestalt, im Großen wie im Kleinen, in seine Schranken gewiesen wird. Diese Hoffnung ist so groß, dass wir sie mit dem besten Einsatz nicht herbeizwingen können. Aber es lohnt sich, alles dafür einzusetzen, in der Erwartung, dass Gott von seiner Seite aus antwortet.

Er hat es getan in der Auferstehung Jesu. Er wird es auch bei uns tun und bei allen, die seinen Friedenskönig mit ganzem Herzen willkommen heißen und ihm Raum geben.