Die wirkliche Dimension Jesu

Predigt am 24. Dezember 2006 (Heiliger Abend) zu Johannes 7,27-29

28 Jesus aber, der gerade im Tempel lehrte, rief mit lauter Stimme: »wisst ihr wirklich, wer ich bin und woher ich komme? Ich bin nicht im eigenen Auftrag gekommen. Aber der, der mich gesandt hat, ist glaubwürdig. Und den kennt ihr nicht. 29 Ich kenne ihn; denn ich komme von ihm, und er hat mich gesandt.«

Das sagt der erwachsene Jesus; aber die Frage, die er da stellt, könnte man genauso angesichts des neugeborenen Jesus stellen: wisst ihr wirklich, wer ich bin, und worum es geht bei mir?

Immer wieder haben Menschen versucht, dieses Phänomen Jesus so zu etikettieren, dass ihre Welt weitergehen konnte wie immer. Jesus sollte nichts durcheinanderbringen dürfen. Menschen haben ihn als großen Lehrer bezeichnet, als weisen Mann, als einen der wichtigsten Menschen der Welt, als holden Knaben im lockigen Haar – aber sie sind der Frage ausgewichen: ist Jesus wirklich die entscheidende Botschaft Gottes, seine authentische Verkörperung, sein – Sohn eben? Und wenn er es ist: kann ich dann eigentlich noch so weiterleben wie vorher? Was muss sich dann bei mir ändern, was hat er mir zu sagen?

Stattdessen hat man Jesus reduziert auf ein paar einsichtige Weisheiten, dass man niemandem etwas Böses tun soll und dass Gott schon ein Auge zudrücken wird.

Schon in der Weihnachtsgeschichte sollen die Menschen, die dabei sind, verstehen, was da wirklich passiert. Und wir sollen es verstehen unter der ganzen Verharmlosung mit den Englein und Glöcklein und Schneeflöcklein und was sonst noch so zur Weihnachtsfolklore gehört.

Stellen Sie sich vor, die Hirten hätten in der Heiligen Nacht keinen Besuch von den Engeln bekommen, sie wären nicht mit Tempo nach Bethlehem gelaufen, sondern sie hätten ein paar Tage später Maria zufällig beim Einkaufen getroffen. Irgendwie wären sie ins Gespräch gekommen. Bestimmt hätten die Hirten auch in den Kinderwagen geguckt und gesagt: o, der ist aber niedlich, wie heißt er denn, und was man sonst noch alles über Babies sagt. Und sie wären bestimmt angerührt gewesen von dem kleinen Wesen, so wie jeder von einem kleinen Kind gerührt wird, wenn er noch ein bisschen Herz hat. Aber davon hätten sie noch längst nicht gemerkt, dass das ein ganz besonderes Kind ist.

Das heißt, wem nicht die Augen geöffnet werden, durch die Engel oder anderswie, der kann ganz einfach so tun, als ob Jesus ein Mensch wie jeder andere ist. Solche Leute gab es später noch genug, als Jesus groß war. Die sagten: wir wissen, wo er großgeworden ist, wir kennen seine Familie, da kann gar nichts Ungewöhnliches hinter stecken, auch wenn der Sohn sich ziemlich auffällig benimmt und große Sachen erzählt. Und sie bestanden darauf, dass sie Bescheid wussten und nichts Besonderes zu erwarten wäre.

Und die fragt Jesus: »wisst ihr wirklich, wer ich bin? Wisst ihr, wer wirklich hinter mir steht? Bleibt euer Blick an der Oberfläche haften, oder schaut ihr dahinter?«

Oder, auf Weihnachten übertragen: »Wisst ihr wirklich, was hinter Weihnachten steht? Welche Wirklichkeit sich da meldet?« Es geht nicht um die korrekte Antwort, dass es der Geburtstag von Jesus ist, sondern um die Tiefendimension, dass da einer aus der Welt Gottes zu uns kommt, von draußen, vom Schöpfer der Welt, dass er der Sohn Gottes ist, dass mit ihm die Welt Gottes hier zu uns kommt und sich einnisten will bei jedem von uns. Und dass die Welt sich damals grundlegend verändert hat. Das ist gerade das Entscheidende an Jesus. Das war es, was die Engel den Hirten sagten. Allein wären sie bestimmt nicht darauf gekommen. Als Menschen sind wir gewohnt, mit dem zu rechnen, was wir sehen und anfassen können, aber nicht mit der unsichtbaren Welt Gottes.

In unserem Leben und in unserem Tagesablauf ist immer mehr bekannt, geregelt, abgesichert und schon längst entschieden. Für Gottes Sprechen und Wirken ist kein Raum vorgesehen, vielleicht gerade noch mal ein Eckchen. Wenn Jesus trotzdem heute unter uns lebendig wird: können wir das ertragen?

Stellen Sie sich vor, heute Abend macht einer von uns eine tiefe, beglückende Erfahrung der Nähe Gottes. Und so groß und stark erlebt er die Güte des Schöpfers, der seinen einzigen Sohn hier zu uns gesandt hat, damit wir ihn kennen und zu ihm gehören und nicht mehr allein sind in unserer abgeschlossenen Welt, so überwältigt ist er davon, dass Gott genau ihn meint, dass er mit jubelndem, erfüllten Herzen durch die Nacht geht und beinahe ganz vergisst, dass sie zu Hause auf ihn warten mit der Bescherung und dem Essen und sich Sorgen machen um ihn. Könnten wir so eine Begegnung mit dem lebendigen Gott ertragen?

Oder wenn heute während der Nachtschicht die Engel einigen einsamen Männern an ihrem Arbeitsplatz erscheinen würden wie damals den Hirten: könnten die denn so einfach losgehen, um sich ein neu geborenes Kind anzusehen?

Jesus kommt in eine Welt, wo Menschen versuchen, alles einzuplanen und sich rundum gegen alles mögliche abzusichern, um Gott aus ihrem echten Leben raushalten zu können. Menschen richten sich ein, so als ob es nichts anderes gäbe als diese Welt. Es gibt eine schreckliche Selbstsicherheit, die auch in Schwierigkeiten nach jedem Strohhalm greift, solange es nicht ein Leben mit Gott ist.

Wenn man als Pastor lange in einer Gemeinde ist, dann hat das den Vorteil, dass man den Lebensweg vieler Menschen über viele Jahre hinweg verfolgen kann. Den äußeren, aber auch den inneren Lebensweg. Der Nachteil ist, dass man eigentlich nichts davon erzählen kann, noch nicht einmal verfremdet, weil einfach zu viele Leute da sind, die erraten könnten, wer gemeint ist.

Deswegen kann ich es nur pauschal sagen: ich habe im Laufe der Zeit so viele Menschen erlebt, die Jesus und Gott wichtig fanden, denen da vieles einleuchtete, aber die sich nicht wirklich entschließen wollten, mit ihm zu leben. Da war so viel anderes, das wichtiger schien, so viele Dinge, die ihre Zeit und Kraft viel mehr beanspruchten. In der Regel waren es sympathische, freundliche, gutwillige Menschen. Und es gab immer gute Gründe, weshalb Gott zurückzustehen hatte. Aber ich habe dann wirklich oft gesehen, wie diese Menschen später in Situationen kamen, auf die sie nicht vorbereitet waren, in denen sie dann nicht zurückgreifen konnten auf einen reifen, gefestigten Glauben. Manchmal waren das dramatische Belastungssituationen, manchmal nichts besonders Ungewöhnliches, manchmal nur das Alter, das ja auch eine schwere Aufgabe ist, für die man alle Erfahrung und Vorbereitung braucht.

Und dass sie damals Gott zurückgestellt haben, das hat ganz oft Folgen gehabt, manchmal dramatische Folgen. Gar nicht mal immer in dem Sinn, dass ihr Leben zusammengebrochen wäre. Irgendwie kommt man ja meistens durch. Nein, eher so, dass Menschen nicht das geworden sind, was sie hätten sein können. Dass sie in einer Problematik hängen geblieben sind, die sie hätten hinter sich lassen können. Dass sie Empfindlichkeiten nicht losgeworden sind, von denen sie hätten frei werden können. Dass sie klein und schwach und selbstmitleidig geworden sind, wo sie hätten stark und seelisch gesund und fröhlich und furchtlos die Welt gestalten können.

Unsere Hauptsünden bestehen meistens nicht in bösen Taten, sondern viel mehr darin, dass wir nicht zu dem Menschen werden, zu dem wir berufen sind, dass wir hinter den Möglichkeiten zurückbleiben, die Gott in uns hineingelegt hat.

Und alles, weil Menschen sich nicht durchgerungen haben, Gott ins Zentrum ihres Lebens zu stellen und von ihm her zu leben und zu denken und Zeit für ihn zu haben.

Dabei ist unsere Welt offen für das Eingreifen der Mächte der unsichtbaren Welt, und wenn der wahre und lebendige Gott seinen Heiland in die Welt sendet, um uns zu heilen und zu retten, das ist ein starker Impuls von außen, der unsere Welt nicht so lässt, wie sie ist. Warum sich dagegen abschotten?

Gott kommt in Gestalt von Jesus, weil er mit uns Lebensgemeinschaft haben möchte. Er übersetzt sich in einen Menschen, weil wir ihn sonst nicht verstehen könnten. Gott ist so viel größer und mächtiger als wir, wenn wir ihm so begegnen würden, es würde uns nur überwältigen oder zerstören. Deswegen muss Gott einen anderen Weg finden. Und so ist er ein Mensch geworden, damit er mit uns Gemeinschaft haben kann und wir ihn kennenlernen und ihm glauben, dass es ihm um uns geht.

Und so geht er seit Bethlehem mit uns und teilt unser Leben, er fühlt unsere Schmerzen und freut sich, wenn unser Leben von Freude erfüllt ist. Er begleitet uns alle Tage, und wir sollen das wissen, seine Liebe erleben und erwidern. Und so geschieht es dann gerade in schweren Augenblicken, dass einer sagt: ich bin nicht allein, sondern ich fühle sehr deutlich, dass jemand da ist, in meinem Leben ist, und das gibt mir Geborgenheit. Und wenn es gut geht dann sagt er: Ich verstehe, dass das Jesus ist.

Genau das möchte Jesus: dass wir merken, dass er es ist. Die Beziehung zwischen ihm und uns soll ja nicht einseitig sein, sondern auf Gegenseitigkeit beruhen. Wenn wir auf ihn aufmerksam werden und uns für ihn öffnen und mit ihm leben, dann kann er uns viel leichter begleiten und helfen. Dann kann er unser ganzes Leben erreichen und heilen. Jesus wartet darauf, dass wir aufmachen für die Liebe Gottes, die von außen in die Welt kommt, von Gott, den er kennt. Diese göttliche Liebe ist besser als alles andere. Sie zu erleben, das ist das wirkliche Glück. Wir laden sie ein in unser Leben, wenn wir Jesus einladen, und wir öffnen uns dafür, wenn wir uns für Jesus öffnen.

Liebe Freunde! Wenn es für euch schön ist an diesem Weihnachtsfest, wenn ihr Gutes erlebt und euch mit andern zusammen freut, dann versteht: das ist ein Funke, ein Abglanz der großen Freude, die von Gott her in unser Leben kommen will. Und da ist noch viel mehr davon. Und es ist alles für uns. Das Entscheidende ist gerade das, was man mit dem oberflächlichen Blick nicht sieht. Das Entscheidende muss man sich von den Engeln sagen lassen. Und dann entdecken wir Stück für Stück, dass das Kind von Bethlehem schon längst unser Freund und Bruder ist, dass Jesus neben uns steht und dass es nur einen kleinen Schritt braucht, um mit ihm Freundschaft zu schließen.

Mögt ihr heute Abend in Seinem Namen beieinander sein in euren Häusern und Familien.