Seht den Tatsachen ins Auge!

Predigt am 3. Oktober 2010 (Erntedankfest) zu Jesaja 58,7-12

7 Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, 10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. 11 Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. 12 Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.

Dies ist ein prophetischer Text mit der Aufforderung, niemanden draußen stehen zu lassen, niemanden dem Elend zu überlassen. Und gleichzeitig kann man hier die Grundlage sehen, wovon wir eigentlich leben: wir leben aus der Fülle Gottes, aus dem Geben und Schenken des Vaters im Himmel. Und wenn man beides verbindet, dann heißt das: es ist genug da für alle, solange wir teilen. Die Gefahr ist nicht, dass zu wenig da ist und Gottes Gaben irgendwann zu Ende sind; die wirkliche Gefahr besteht darin, dass sich einige den Segen unter den Nagel reißen, den anderen nichts abgeben und so Armut und Unglück schaffen.

Seht den Tatsachen ins Auge! sagt der Prophet. Wenn ihr in eurer Mitte das Elend zulasst, dann ruiniert ihr euer Land. Das Kernproblem ist nicht, dass der harte Ackerboden zu wenig hergibt, sondern dass euer hartes Herz zu wenig verschenkt. Ihr macht euch Sorgen und habt Angst wegen der falschen Sache.

Die Menschen, die das zum ersten Mal hörten, wohnten in ziemlich bedrückenden und ärmlichen Verhältnissen. Sie hatten lange zwangsweise in Babylon leben müssen; nach vielen Jahren durften sie endlich zurück in ihr Land Israel, aber da gab es nur Trümmer, und der Aufbau ging mühsam und langsam voran. Und er wurde auch dadurch behindert, dass viele hart geworden waren und dachten: ich kann mich nicht auch noch um die anderen alle kümmern. Jeder muss selbst sehen, wie er durchkommt!

Um sich das vorstellen zu können, muss man bei uns vielleicht zurückdenken an die Zeit nach dem Krieg, als hier vieles in Trümmern lag, die Wirtschaft wenig produzierte und dann auch noch Millionen von Flüchtlingen aus dem Osten kamen, die meisten nur mit dem, was sie auf dem Leib trugen. Es gibt gar nicht mehr so viele unter uns, die noch davon erzählen können. Wer heute 70 Jahre alt ist, war damals ein Kind. Aber wenn man den Erzählungen aus dieser Zeit zuhört, dann merkt man: die Menschen haben damals ganz unterschiedlich reagiert. Da gab es welche, die sich gekümmert haben um die armen Leute, die von den Stürmen der Zeit in ihren Ort und ihre Stadt gespült wurden. Die ihnen mit Hilfe und vor allem Freundlichkeit begegnet sind. Und es gab andere, die mit diesen Fremden, diesem hergelaufenen Flüchtlingspack, nichts zu tun haben wollten.

Aber unser Land als Ganzes hat dafür gesorgt, dass all die vielen Menschen untergebracht wurden. Städte und Landkreise und Gemeinden mussten damals nicht nur die Schulen wieder in Gang bringen und die Trümmer in den Städten wegräumen und alles mögliche neu organisieren, sie haben auch dafür gesorgt dass die vielen Flüchtlinge wenigstens notdürftig untergebracht wurden und Starthilfe bekamen. Flüchtlinge wurden zwangsweise in die Wohnungen der Einheimischen eingewiesen, und das war für alle eine schwierige Situation. Auch im Groß Ilseder Pfarrhaus wohnten damals für mehr als ein Jahrzehnt Flüchtlinge. Und es gab Kredite und Ausgleichszahlungen. Auch bei uns sind damals viele Häuser gebaut worden: oft mit viel Eigenarbeit nach Feierabend, mit Hilfe von Verwandten und Freunden, mit einem günstigen Kredit.

Und am Ende haben alle gestaunt, wie schnell es wieder bergauf ging. Wie schnell es wieder alles zu kaufen gab – und bald verdienten die Menschen auch wieder genug Geld, um es sich leisten zu können. Ich will nicht behaupten, dass damals alles toll gewesen ist, und die seelischen Wunden von Krieg und Nachkriegszeit sind längst nicht so schnell geheilt. Die haben sich oft erst nach Jahrzehnten wieder gemeldet.

Aber dieser ganze wirtschaftliche Aufschwung wäre nicht möglich gewesen, wenn man es nicht geschafft hätte, auch denen, die alles verloren hatten, einen neuen Start zu ermöglichen. Und zum Glück gab es überall, im Großen und im Kleinen, verantwortliche Leute, die wussten, wie wichtig das war.

Wenn es also in solchen schwierigen Zeiten möglich ist, anderen zu helfen und selbst Einschränkungen hinzunehmen – gibt es dann eigentlich noch eine Situation, wo das nicht möglich ist? Man könnte sogar sagen: in solchen schwierigen Zeiten zeigt es sich, dass Solidarität, Teilen und Anteilnehmen das beste Mittel sind, um wieder hineinzukommen in den Segensstrom Gottes.

Seht den Tatsachen ins Auge! sagt der Prophet. Ihr alle lebt davon, dass Gott Segen und Gedeihen schenkt. Das ist ein Strom, der fließen muss, das ist ein Netzwerk, das ganz robust ist und trotzdem nicht ohne Pflege auskommt. Man merkt es kaum, solange es funktioniert. Aber wenn man es nicht pflegt oder wenn man gar versucht, diesen Strom nur auf die eigenen Mühlen zu leiten, oder wenn man Menschen ausschließt aus dem Netzwerk, dann wird der Strom des Segens spärlicher. Man merkt es erst gar nicht so schnell, aber dann klemmt es immer häufiger, die Krisen folgen immer schneller aufeinander, immer mehr Menschen werden unglücklicher und unzufriedener, und sie wissen noch nicht einmal wirklich, warum.

Die Glücksforscher, diese Leute, die mit Fragebögen herauszufinden versuchen, warum Menschen glücklich und zufrieden oder unzufrieden und unglücklich sind, die haben sehr schnell herausgefunden: wenn man erst nicht mehr in Armut lebt, dann kommt es nur noch wenig auf den materiellen Reichtum an. Viel wichtiger wird es dann, ob man in einer Gesellschaft lebt, in der Einkommen und Besitz nicht allzu unterschiedlich verteilt sind. Wenn die Schere erst auseinandergeht zwischen denen, die kaum etwas haben und denen, die viel mehr haben, als sie vernünftig ausgeben können, dann macht das Leben auch in einer reichen Gesellschaft immer weniger Freude.

Ohne Solidarität ruiniert sich eine Gesellschaft. Aber wo Menschen zusammenhalten, wo sich alle einig sind, dass sie keinen verlieren wollen, da wachsen Hoffnung und Freude. Da strömt der Segen Gottes, und er ist es, der in gleicher Weise unser Herz fröhlich macht wie unseren Magen satt. Alle, die mit ihren wirtschaftlichen Kennzahlen jonglieren und glauben, sie könnten damit schon die Realität verstehen, sollten ihre Augen für die Tatsachen öffnen. Gottes Regeln für ein gutes, gelingendes Miteinander kann man nicht aushebeln. Der sicherste Weg, um gut durchs Leben zu kommen, besteht darin, von der Not anderer sein eigenes Herz berühren zu lassen und dann zu helfen. Gott sieht das und lässt es nicht unbeantwortet.

Das ist gerade keine moralische Aufforderung, wo man dann sagen könnte: ich würde ja gerne, aber die Verhältnisse, die sind nun mal so, und ich kann das einfach nicht. Es geht nicht um Vorschriften oder Gebote, die wir dann mit schlechtem Gewissen doch ignorieren. Es geht schlicht um Tatsachen, darum, wie die Welt wirklich eingerichtet ist. Du erwartest Probleme, oder du hast sie schon? Dann stärke die Solidarität, deine eigene und die aller anderen. Damit hast du Gott auf deiner Seite. Investiere in Menschen, die keinen Raum in der Welt haben, das lohnt sich immer. Wenn man Menschen so behandelt, als ob sie überflüssig wären, wenn man sie ignoriert oder irgendwohin abschiebt, das rächt sich. Diese Welt ist so eingerichtet, dass alles, was wir tun, irgendwie zu uns zurückkommt, früher oder später. Deswegen ist es immer besser, Hilfe zu schicken als Krieg zu führen. So ist die Realität.

Natürlich kennen wir alle irgendwelche Leute, die es viel nötiger hätten als wir, so zu handeln und zu denken. Es gibt immer irgendwelche Geschichten, wo es nicht geklappt hat mit der Solidarität, Geschichten von Leuten, die das ausgenutzt haben oder die anders reden als sie in Wirklichkeit handeln. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ist natürlich nicht alles toll gelaufen, da hat es mitten im Elend die Kriegsgewinnler und die Schieber gegeben, die mit dem Elend der anderen gute Geschäfte gemacht haben. Manche haben auch nicht wieder Fuß gefasst in der neuen Heimat. Aber das ändert nichts. Ja, man kann geradezu andersherum sagen: es hat funktioniert, obwohl es oft geknirscht hat, obwohl es von fehlbaren Menschen umgesetzt worden ist, obwohl es auch unehrliche und faule Menschen gibt. Das Prinzip des Segnens und Teilens funktioniert trotzdem. Es ist robust genug, um auch von ungeschickten Menschen wie uns gelebt zu werden.

Über 500 Jahre, nachdem der Prophet diese Worte gefunden hat, kam dann Jesus. Und es klingt mir sehr danach, als ob Jesus gut das Buch Jesaja studiert hätte. Jedenfalls bringt er all diese Motive zueinander, wenn er in der Bergpredigt (Matthäus 6,19-33 in Auszügen) sagt:

Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen. 20 Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht einbrechen und stehlen.  … Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? 26 Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? … 31 Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? 32 Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. 33 Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. 

Kümmert euch zuerst darum, dass ihr aktive Teile von Gottes Segensnetzwerk seid, sagt Jesus. Dann kümmert sich Gott darum, dass dieser Segen auch zu euch kommt. Versorgt andere, dann müsst ihr euch keine Sorgen um euch selbst machen. Seht den Tatsachen ins Auge! Ob wir den Segen Gottes dankbar entgegennehmen, aus seiner Hand, und ob wir ihn dann weitergeben, das ist der entscheidende Punkt, das entscheidet über unser Wohlergehen.

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