Der befreite Tod

Predigt am 28. März 2002 (Gründonnerstag) zu Hebräer 2,14-18

14 Weil diese Kinder Menschen von Fleisch und Blut sind, wurde der Sohn ein Mensch wie sie, um durch seinen Tod den zu vernichten, der über den Tod verfügt, nämlich den Teufel. 15 So hat er die Menschen befreit, die durch ihre Angst vor dem Tod das ganze Leben lang Sklaven gewesen sind. 16 Nicht für die Engel setzt er sich ein, sondern für die Nachkommen Abrahams. 17 Deshalb musste er in jeder Beziehung seinen Brüdern und Schwestern gleich werden. So konnte er ein barmherziger und treuer Oberster Priester für sie werden, um vor Gott Sühne zu leisten für die Sünden des Volkes. 18 Weil er selbst gelitten hat und dadurch auf die Probe gestellt worden ist, kann er nun den Menschen helfen, die ebenfalls auf die Probe gestellt werden.

Gründonnerstag erinnert uns daran, wie Jesus sein Sterben vorbereitet hat, und zwar auf doppelte Weise: Einmal hat er seine Jünger darauf vorbereitet. Er hat ihnen das Abendmahl hinterlassen, damit sie auch nach seinem Tod wieder einen Mittelpunkt haben, einen Kristallisationspunkt. Er hat in die Abendmahlsfeier seinen Tod im Kern mit eingebaut, er sagt: das ist mein Leib und mein Blut, damit sie später nie mehr denken, sein Tod sei eine Art Betriebsunfall. Er hat alles vorbereitet, damit sie später seinen Tod als notwendiges Sterben verstehen und feiern können. Später, wenn der Schock des Karfreitags vorbei ist, wenn Gott in seiner Treue Jesus wieder ins Leben zurückgeholt haben wird.

Aber nun kommt das andere, das Schwere. Jetzt muss Jesus sich selbst vorbereiten. Es ist eine Sache, wenn er lange vorher angekündigt hat: ich werde sterben und von den Toten auferstehen. Eine ganz andere Sache ist es, nun wirklich darauf zuzugehen, und zu wissen: in ein paar Stunden ist es so weit, dann kann ich nicht mehr zurück, dann warten nur noch Schmerzen und Demütigungen und Sterben auf mich.

Wir können heute im Rückblick sagen: wusste er denn nicht, dass er auferstehen würde? Aber Jesus hatte nicht das NT in der Tasche oder im Kopf. Er hat wohl darauf vertraut, dass Gott ihn nicht in Stich lassen würde, aber er konnte das nur glauben, er musste auf Gott vertrauen, wie jeder von uns. Und er hatte keinen, der ihm vorangegangen wäre, wie wir ja ihn haben.

Deshalb ist der Gründonnerstag nicht nur der Tag, an dem das Abendmahl eingesetzt wurde, sondern es ist auch der Tag von Gethsemane. Zu diesem Tag gehört auch die Erinnerung an die Stunden, in denen er ganz allein mit Gott gerungen hat, dort im Garten Gethsemane, während die Jünger schliefen. Und ganz besonders diese Situation hat der heutige Predigttext im Auge. Da erscheint Jesus als Hoher Priester, oberster Priester.

Was ist die Aufgabe eines Hohen Priesters? Der Hohe Priester vertritt das ganze Volk vor Gott, er redet im Namen des Volkes, er bekennt die Sünde des Volkes, er bittet für das Volk. Und hier kämpft Jesus im Gebet stellvertretend für alle seinen Kampf gegen die Todesfurcht.

Und er hat Todesangst wie jeder, der weiß, dass ein grausames Sterben auf ihn wartet. Da geht es ihm nicht besser als irgendeinem von uns. Und er könnte ja die zwei Wege gehen, auf denen wir weglaufen vor dem Tod, nämlich

  • entweder den Tod einfach zu ignorieren und möglichst lange nicht an seinen Tod zu denken,
  • oder zu versuchen, das Sterben noch möglichst lange rauszuschieben, vielleicht, indem er flieht.

Und genau das macht er nicht, sondern er stellt sich, er spricht mit Gott darüber, was er tun soll. Er möchte ja gern leben. Er liebt das Leben. Aber als er genau weiß, dass jetzt der Moment gekommen ist, da ringt er sich durch und sagt Ja und steht auf, um seinem Verhaftungskommando entgegenzugehen.

Und dann sagt dieser Text aus dem Hebräerbrief: damit hat er den Tod zurückgeholt aus dem Bereich des Dunklen und Bösen. Er hat den Tod sozusagen für Gott zurückerobert. Damit ist gemeint: Der Tod bekommt seinen Schrecken eigentlich deshalb, weil Menschen ihm ohne Gott entgegengehen. Eigentlich müsste der Tod nichts Erschreckendes sein. Eigentlich könnte er eine Heimkehr sein in die Heimat, zu Gott, der mich geschaffen hat und der mich am Ende wieder aufnimmt.

Aber weil Menschen mit Gott nicht im Reinen sind, dadurch wird der Tod etwas, was man fürchtet. Menschen sind im Zweifel: falle ich in ein schwarzes Loch? Passiert etwas ganz Schreckliches? Existiere ich als schattenhafter Geist? Oder werde ich etwa wiedergeboren als Mensch oder gar als Tier? Menschen sind sich nicht sicher, dass sie am Ende zurückkehren zum Vater im Himmel, dem Schöpfer. Das ist das eigentliche Problem am Tod, der Stachel des Todes.

Der Tod könnte Heimkehr sein, aber ohne Gott ist er etwas, was man fürchtet. Wenn der Tod nicht Gott gehört, dann fällt er dem Bösen in die Hände und wird ein Werkzeug des Bösen. Die Todesangst ist die Trumpfkarte der bösen Mächte. Die Todesangst versklavt Menschen, steht hier. Sie bestimmt unser Leben viel stärker, als wir auf den ersten Blick glauben.

Alles Sich-Anpassen und Mitmachen bei bösen Dingen kommt letztlich aus der Angst vor dem Tod. Wer mit dem Tod drohen kann, der hat die Menschen in der Hand. Die Todesangst sagt: Dein Leben ist alles, was du hast, und du musst es mit allen Mitteln verteidigen, du musst aus diesem Leben so viel wie möglich herausholen, denn es ist kurz genug. Gottes Gebote sind ja gut und schön, aber was nützt dir Gott, wenn dein Leben zu Ende ist? Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot – so spricht die Todesangst.

Der Tod ist das letzte und schlagkräftigste Argument des Teufels. Solange das nicht entkräftet ist, wird der Feind bei uns immer wieder einen Fuß in der Tür haben. Er muss ja gar nicht gleich mit dem richtigen Sterben drohen. Es reicht schon die Angst vor ernsthafter Krankheit, Angst um die Familie, Angst um den Arbeitsplatz, Angst, zu kurz zu kommen im Leben – all diese Verkleidungen der Todesfurcht reichen normalerweise schon aus, um uns mürbe zu machen und zwischen Gott und uns einen Keil zu treiben. Wenn wir erst von dieser Angst beherrscht sind, dann ist nicht mehr viel Platz für Vertrauen zu Gott und Gehorsam. Dann denken wir alle: rette sich, wer kann!

Das ist ein harter Kampf, wenn einer trotzdem auf Gott setzen will und sagt: „Du bist mir viel wichtiger als alles andere. Ich habe mehr Angst, dich zu verlieren, als vor jedem anderen Verlust.“ Aber wenn einer das durchhält, dann erweist sich am Ende meistens, dass die Dinge gar nicht eintreffen, die wir befürchtet haben.

Jesus erlebte den konzentrierten Angriff der Angst. Und einsam stand er diesen Kampf durch. Er hielt fest daran, dass Gott ihn nicht im Stich lassen würde. Er blieb im Vertrauen, er blieb im Willen Gottes. Ob Jesus sich dazu Bibelverse vorgesagt hat, ob Gott zu ihm gesprochen hat, oder wie es da gewesen ist zwischen Gott und ihm — darüber wissen wir keine Einzelheiten.

Eins können wir allerdings deutlich erkennen: Jesus hat rechtzeitig begonnen, diesen Kampf zu führen, rechtzeitig, bevor es so weit war und die Soldaten kamen, um ihn zu holen. Er hat gewusst: wenn die mich erst haben, dann habe ich keine Zeit und Gelegenheit mehr, um mich innerlich auf das alles vorzubereiten. So hat er selbst den Ort und die Zeit seiner Gefangennahme bestimmt und hat dafür gesorgt, dass er vorher alles vor Gott bringen konnte. Und hinterher wusste er: jetzt bin ich durch, jetzt ist mein Entschluss endgültig, jetzt ist die Versuchung abgewehrt und ich habe Frieden mit dem, was kommt. Im Johannesevangelium ist dieser endgültige Entschluss Jesu sogar der Moment, wo Jesus anschließend sagt: jetzt ist der Teufel besiegt.

Ich denke, für uns ist das ein wichtiger Hinweis: Belastungssituationen und Zeiten der Angst, wenn man die kommen sieht, sollte man sie vorher im Gebet durchstehen. Man sollte sich seiner Angst stellen, bevor es soweit ist, und sie rechtzeitig vor Gott bringen. Das heißt nicht, dass danach alles wie geschmiert laufen müsste. Jesus hat seinen Weg an seinem letzten Tag wirklich nur noch mit letzter Kraft gehen können. Aber daran merkt man, wie notwendig diese Zeit am Abend vorher im Garten Gethsemane war. Hätte er sich nicht so vorbereitet und eingestellt, er hätte nicht durchhalten können. Aber so konnte er bei seinem Entschluss bleiben, auf jeden Fall Gottes Willen zu tun.

Denn einer musste ja durchhalten, um das Kernargument des Teufels zu entkräften. Einer musste alles auf eine Karte setzen, auf Gott, damit Gott zeigen konnte: ich bin treu. Wer sich auf mich verlässt, ist nicht verlassen. Ich rette dich auch aus dem Tod.

Seit damals hat der Tod ein anderes Gesicht. Da hat sich etwas verändert. Im dunklen Tal des Todes erwartet uns der lebendige Jesus. Er prägt jetzt dem Tod seinen Stempel auf. Wenn wir sterben, dann tun wir es mit ihm, und er wird uns hinübergeleiten über die Grenze. Dahinter ist nichts Bedrohliches mehr, sondern da wartet auf uns Heimat und Geborgenheit. Was wir uns immer gewünscht haben, nämlich Jesus wirklich zu erleben, nicht nur von ihm zu hören oder zu lesen, sondern ihn zu sehen von Angesicht zu Angesicht, das wird dann geschehen.

Wir müssen nicht mehr fliehen oder das Leben um jeden Preis verlängern. Der Tod ist nicht mehr das schreckliche Ende, sondern der Moment, wenn dieses bruchstückhafte und mühsame Leben von etwas Besserem abgelöst wird. Aus der Kälte dieser Welt kommen wir zurück zum Vater, den wir so lange aus den Augen verloren haben. Aber da ist das Haus des Vaters. Die Tür steht offen und er heißt uns willkommen. Jesus hat für uns die Wohnung vorbereitet. Es ist nicht so wichtig, wie lange wir vorher hier auf der Erde gelebt haben. Es kommt nur darauf an, dass wir in dieser Zeit Jesus so gut kennengelernt haben, dass wir ihn dann wiedererkennen, dass er uns dann kein Fremder ist. Und wir werden mit ihm zusammensein für immer und es wird keine Tränen mehr geben, kein Leid und kein Geschrei. Es wird alles gut.