Man versteht nur, was man liebt

Predigt am 16. Mai 2010 zu Epheser 3,14-21

14 ´Noch einmal:`Wenn ich mir das alles vor Augen halte, ´kann ich nicht anders, als anbetend` vor dem Vater niederzuknien. 15 Er, dem jede Familie im Himmel und auf der Erde ihr Dasein verdankt 16 und der unerschöpflich reich ist an Macht und Herrlichkeit, gebe euch durch seinen Geist innere Kraft und Stärke. 17 ´Es ist mein Gebet,` dass Christus aufgrund des Glaubens in euren Herzen wohnt und dass euer Leben in der Liebe verwurzelt und auf das Fundament der Liebe gegründet ist. 18 Das wird euch dazu befähigen, zusammen mit allen anderen, die zu Gottes heiligem Volk gehören, alle Dimensionen zu erfassen – die Breite, die Länge, die Höhe und die Tiefe. 19 Ja, ´ich bete darum,` dass ihr seine Liebe versteht, die doch weit über alles Verstehen hinausreicht, und dass ihr auf diese Weise mehr und mehr mit der ganzen Fülle des Lebens erfüllt werdet, das bei Gott zu finden ist. 20 Ihm, der mit seiner ´unerschöpflichen` Kraft in uns am Werk ist und unendlich viel mehr zu tun vermag, als wir erbitten oder begreifen können, 21 ihm gebührt durch Jesus Christus die Ehre in der Gemeinde von Generation zu Generation und für immer und ewig. Amen.

In diesen Sätzen – auf griechisch ist es ein einziger langer Schachtelsatz – beschreibt Paulus den Zusammenhang zwischen Liebe und dem Erkennen der Wirklichkeit. Und wir fragen uns: was hat das miteinander zu tun? Die Dinge sind doch so, wie sie sind, egal, ob ich sie liebe oder nicht!

Aber so einfach ist es nicht. Dieses klassische Muster: ich verstehe die Dinge, wie sie sind, und dann überlege ich mir, was ich davon halte, ob ich etwas liebe oder nicht, das gilt in den Naturwissenschaften schon längst nicht mehr. Das hat sich nur noch nicht richtig herumgesprochen, weil es so sehr von unseren Denkgewohnheiten abweicht.

Aber schon in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts stellte der Atomphysiker Werner Heisenberg eine sensationelle Theorie auf: Man kann, wenn man ein Elementarteilchen wie z.B. ein Elektron beobachtet, entweder genau sagen, wie groß seine Bewegungsenergie ist oder wo es sich befindet. Beides gleichzeitig kann man nicht exakt messen. Und das lag nicht an den ungenauen Messinstrumenten, sondern hatte einen prinzipiellen Grund. Heisenberg entdeckte, dass es einen störenden Einfluss gab: nämlich ihn selbst. Indem er das Teilchen beobachtete, veränderte er schon etwas an der Situation. Die Beobachtung beeinflusst die Situation. Und er begriff: Wissenschaft – mindestens wenn sie sich um Elementarteilchen wie Elektronen kümmert – beschreibt nicht die Dinge, wie sie eben sind. Nein, Wissenschaft beschreibt unser Verhältnis zu den Dingen. Wir erkennen die Dinge, indem wir uns in eine Beziehung zu ihnen setzen, und damit beeinflussen wir sie schon.

Das war ein revolutionärer Gedanke, weil wir es im Alltag anders erleben: im Alltag haben wir nicht das Gefühl, dass sich z.B. der Flug eines Vogels verändert, nur weil wir ihn beobachten. Im Alltag ist dieser Effekt viel zu gering, als dass man ihn spüren würde, aber bei der Beobachtung von Elementarteilchen spielt er eine große Rolle. Diese Entdeckung Heisenbergs ist heute eine allgemein akzeptierte Einsicht der Physik.

Und nun ist diese Entdeckung, dass es keine Beobachtung gibt, die das Objekt unverändert lässt, ganz nahe bei dem, was in der Bibel „Erkennen“ heißt. Erkennen bedeutet in der Bibel immer „in Beziehung treten“. Der Merksatz dazu ist 1. Mose 4,1: „Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain.“ Adam erkannte seine Frau nicht dadurch, dass er sie unter ein Mikroskop legte und dann beobachtete, sondern er schlief mit ihr, und das ließ weder sie noch Adam unverändert. Er setzte sich zu Eva in eine intensive Beziehung, und so „erkannte“ er sie, d.h. er verstand sie nun auf eine Weise, wie er sie nie zuvor kennengelernt hatte.

Erkenntnis bedeutet also in der Bibel immer ein Sich-in-Beziehung-setzen. Die Frage ist dann nur, in was für eine Beziehung wir uns zu einem anderen Menschen oder zu einem Gegenstand setzen. Paulus sagt: wer die Welt in ihrer vollen Dimension erkennen will, muss von Liebe erfüllt sein. Das innere Prinzip der Welt, mit dem sie geschaffen ist, ist Liebe, und deshalb erkennt nur Liebe die Welt.

Das haben nicht immer alle so gesehen. Gut 300 Jahre vor Heisenberg lebte in England der Philosoph Francis Bacon, der durch seine Schriften zur Naturwissenschaft bekannt geworden ist. Sein eigentlicher Beruf war Staatsanwalt, und in der damaligen Zeit gehörte die Folter noch zu den gebräuchlichen Untersuchungsmethoden. Und als Bacon darüber nachdachte, wie man der Natur durch Experimente ihre Geheimnisse entreißen können, da nahm er ein Bild aus dem Gerichtswesen seiner Zeit und sagte: wenn wir ein Experiment durchführen, dann sperren wir die Natur sozusagen in eine Folterkammer und quälen sie so lange, bis sie all ihre Geheimnisse preisgibt.

Das ist natürlich ein ziemlich gewaltsames Bild, und es ist weit weg von der Erkenntnis durch Liebe, von der Paulus schreibt. Aber genau auf diese gewaltsame Weise hat sich der Mensch in den letzten Jahrhunderten zum Herrscher über die ganze Schöpfung gemacht. Wir haben ihr ihre Geheimnisse entrissen, und trotzdem verstehen wir sie nicht richtig, so wie die Richter in Hexenprozessen von den gequälten Männern und Frauen zwar hörten, was sie hören wollten, aber sie nicht verstanden haben. Wir haben der Natur ihre innersten Geheimnisse entrissen, bis hinein in die innere Struktur der Materie, und dann kommt nach Jahrhunderten der Forschung ein Werner Heisenberg und merkt: wir werden es nie schaffen, die Natur so durch und durch in den Griff zu kriegen, wie wir es immer gehofft haben. Dieser Weg ist ein Irrweg. Und bis heute schafft es die Wissenschaft nicht, mit immer größeren Maschinen den Geheimnissen der Welt auf die Spur zu kommen. Immer wenn man ein Rätsel gelöst hat, tun sich dahinter zwei neue auf. Wenn man ein neues Elementarteilchen nachgewiesen hat, stellt sich heraus, dass es in Wirklichkeit drei sind.

Aber wenn man an Paulus denkt, dann muss man sagen: wenn das innerste Geheimnis aller Dinge die Liebe Gottes ist, dann kann man ihr Geheimnis nur so verstehen, wenn man selbst ein liebevoller Mensch ist. Soweit hat sich die moderne Physik inzwischen vorangetastet, um zu ahnen, dass alles mit allem zusammenhängt und dass hinter allen Dingen Beziehungen stehen, dynamische Kräfte und Schwingungen. Alles im Universum hängt mit allem anderen zusammen und beeinflusst sich.

Und was für die Welt im Allergrößten und im Allerkleinsten gilt, das gilt erst recht für den Menschen in der Mitte zwischen dem Allerkleinsten der Elementarteilchen und dem Allergrößten des Weltalls: wir sind nur von unseren Beziehungen her zu verstehen. Deswegen betet Paulus darum, „dass Christus aufgrund des Glaubens in euren Herzen wohnt und dass euer Leben in der Liebe verwurzelt und auf das Fundament der Liebe gegründet ist“. Wenn wir in einer Beziehung zu Jesus leben, dann kommt seine Liebe in unser Herz. Wir haben in uns eine Andockstelle für Jesus, und wenn diese Verbindung hergestellt wird, dann sind wir verbunden mit der Liebe, die das innerste Prinzip des Universums ist.

Mitten in einer Gesellschaft die immer noch aufgebaut ist auf der gewaltsamen Herrschaft über die Natur, soll es Menschen geben, die aus einem anderen Geist heraus leben. Das ist dringend nötig, weil die Gewalt, mit der wir die Natur und unsere Mitgeschöpfe behandeln, auf uns zurückschlägt. Diese Gewalt führt dazu, dass wir die Erde und unsere Lebensgrundlagen zerstören. Sie führt aber auch dazu, dass wir Menschen zerstören. Die Zeit von Francis Bacon war der Auftakt zu einer gewaltsamen Zeit, in der man in großem Stil Menschen zu Sklaven gemacht und mit ihnen gehandelt hat wie mit Vieh. Wenig später hat man die Erde aufgerissen und hat Bergwerke gebaut und Fabriken, die rücksichtslos die Umwelt verpesteten. Und gleichzeitig hat man die Arbeiter dort rücksichtslos ausgenutzt. Gewalt gegen die Natur und gegen Menschen gehören zusammen. Gewalt ist deshalb so zerstörerisch, weil sie dem innersten Geheimnis der Schöpfung widerspricht, nämlich der Liebe Gottes, die alles bewegt und durchdringt.

Paulus beschreibt viele Jahrhunderte vorher einen anderen Weg: durch Christus kommt eine Liebe zu uns, die uns den wirklichen Zugang gibt zu den Geheimnissen der Welt. Um die zu entdecken, muss man in dieser Liebe leben, dann werden wir eine Fülle und eine Stärke erleben, die dieser Welt wirklich gerecht wird. Dann werden wir Könige und Königinnen sein – aber nicht Tyrannen, sondern Regenten, die helfen, dienen und heilen können.

Ich beschreibe es noch einmal an einem Beispiel: die Medizin weiß heute so viel über den menschlichen Körper wie nie zuvor. Und trotzdem ist die entscheidende Frage, wenn du krank ist, immer noch, ob du Vertrauen zum Arzt hast. Ob du das Gefühl hast: da ist einer, von dem Heilung und Zuwendung ausgeht, oder du für den ein Fall bist, der Gallenstein von Zimmer 23. Ich bin neulich beim Arzt gewesen wegen Schmerzen in meinen Armen und Schultern – na ja, wer hat heute nicht solche Zipperlein. Und er hat ein bisschen an mir rumgedrückt, und dann hat er mir gesagt, was ich habe, und hat mir Krankengymnastik aufgeschrieben. Und als ich abends zu Hause war, habe ich gemerkt: ich habe keine Schmerzen mehr. Und ich habe gedacht: das geht doch nicht! Ich war doch noch gar nicht zur Krankengymnastik! Was hat der mit mir gemacht?

Ich weiß bis heute nicht, wie der das macht, vielleicht weiß er es selber nicht, aber ich glaube, dass gute Ärzte bis heute nicht nur Röntgenbilder und Ultraschallgeräte und Laborwerte brauchen, sondern sie müssen auch Anteil an dieser Grundkraft der Liebe haben. Erst dann verstehen sie ihre Patienten wirklich und können ihnen helfen. Ärzte würden das sicher nicht Liebe nennen, aber sie sind ein Beispiel dafür, dass man in der Welt ohne eine gute und heilsame persönliche Prägung nichts wirklich Gedeihliches bewirken kann.

Aber das ist nicht nur bei Ärzten so. Die ganze Welt funktioniert doch nur deshalb, weil es überall Menschen gibt, die wenigstens ein bisschen an der Kraft des Lebens Anteil haben und sich davon bewegen lassen: Bauern, die ein Gefühl für den Boden und die Pflanzen und die Tiere haben; Handwerker, die sich freuen, wenn sie etwas Solides geschaffen haben, was gut funktioniert; Hausfrauen und -männer, die sich freuen, wenn es ihren Leuten rundum gut geht; Abteilungsleiter, die die dafür sorgen, dass der Laden gut organisiert ist und das Arbeiten Spaß macht; Verkäuferinnen und Verkäufer, die ein Gespür dafür haben, was ihre Kunden brauchen, Lehrerinnen, die ihre Schüler verstehen und ihnen auf den Lernschritten helfen, die sie brauchen usw. Zum Glück funktioniert unsere Welt nicht überall nur mit Gewalt und Macht, sondern überall spielt immer noch Freude, Engagement und Liebe zu den Dingen und Menschen eine Rolle. Und auf diese Weise haben viele Menschen Anteil an der Freude und dem Engagement Gottes, als er in seiner Liebe die Welt erschuf.

Die Gemeinde soll aber der Ort sein, wo diese Liebe in Fülle und ungetrübt zu finden ist. Die Gemeinde ist für die Heilung der ganzen Welt da, sie soll für die ganze Welt das tun, was ein guter Arzt für seine Patienten tut: sie verstehen und mit der heilenden Kraft Gottes in Verbindung bringen. Jesus konnte die Welt heilen, überall, wo er hinkam, weil er die Fülle dieser Liebe in sich trug. So soll seine Gemeinde als ganze diese Liebe für die ganze Welt repräsentieren, weil das das innerste Geheimnis der Welt ist. Paulus redet nicht von den einzelnen Christen, sondern er betet für die ganze Gemeinde. Er betet, dass Gott da mit der Fülle seiner Kraft präsent sein und sein Werk tun möge.

Die Welt soll nicht menschlicher Gewalt unterworfen werden, sondern sie soll zu der Fülle der Liebe befreit werden, die schon immer ihr innerstes Geheimnis war.

Die ganze Schöpfung wartet ungeduldig darauf, dass endlich Gottes Leute auftauchen, damit sie einen Anwalt unter den Menschen hat, schreibt Paulus im Römerbrief. Und damals dachte noch keiner daran, die Natur in eine Folterkammer zu sperren. Aber wenn Paulus damals schon die Sehnsüchtigen Rufe der Kreatur nach Befreiung vernommen hat, wie würden sie ihm heute erst in den Ohren gellen? All die Rufe von vergifteten Böden und vergifteter Luft und vergiftetem Wasser, von fabrikmäßig gehaltenen Tieren und genmanipulierten Pflanzen?

Die Schöpfung ruft nach uns, dass wir unsere Rolle spielen und unsere Verantwortung wahrnehmen. Werden wir diesen Ruf hören? Und wie werden wir darauf antworten?

Mehr Fragen als Antworten. Aber die Antworten können nicht in einer Predigt kommen, sondern in unserem Leben. In diesem Sinne: Amen.

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