Das Unverwechselbare im christlichen Glauben

Predigt im Besonderen Gottesdiensst am 25. Oktober 2009

Am Anfang des Gottesdienstes war eine Szene zu sehen, in der ein Mann mit seinem Pastor telefoniert und nicht versteht, warum die Paten seines Kindes unbedingt Christen sein müssen. Nichtchristen sind schließlich auch Menschen, die man nicht diskriminieren darf, und im übrigen kommt es doch nur darauf an, dass man irgendeinen Glauben hat!

Ich möchte heute versuchen, ein paar Punkte herauszuarbeiten, die den christlichen Glauben in der Tiefe kennzeichnen, die so niemand sonst für sich in Anspruch nehmen würde. Ich möchte nach der inneren Struktur des christlichen Denkens fragen, nach der Grundbewegung, die mit christlichem Glauben verbunden ist. Ich vermute allerdings, ich werde das nicht vollständig hinkriegen. Ich könnte mir vorstellen, dass jemand am Ende sagt: den Punkt hast du aber vergessen, und er hat dann wahrscheinlich recht. Es geht ja beim Christentum um ein lebendiges Gebilde, das sich nicht einfach auf fünf Punkte bringen lässt. Also, ich muss dann vielleicht noch mal einen Nachtragsgottesdienst halten. Mal schauen.

Ich fange an mit einem ersten Punkt, von dem ich denke, dass er wirklich zentral für den christlichen Glauben ist:

1. Gott als ein Gegenüber, der Menschen ungewöhnlich ernst nimmt

Diesen ersten Punkt teilt das Christentum in gewisser Weise mit dem Judentum, aber Christen gehen da ein großes Stück weiter als die Juden. Schon im Alten Testament wird – in Psalm 8 z.B. – etwas erstaunliches über den Menschen gesagt: »Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt«. »Wenig niedriger als Gott« ist der Mensch. Gott und Mensch begegnen sich fast auf Augenhöhe. Und es ist tatsächlich so, dass es um eine echte Begegnung zwischen Gott und Menschen geht. Schon im Alten Testament bindet Gott sich an Menschen, er sagt z.B. »ich bin der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs«, und das bedeutet nicht nur, dass diese drei Erzväter Israels eben diesen Gott verehrt haben, sondern es heißt: ich bin der, der mit diesen Menschen einen Bund eingegangen bin, und das hat nicht nur für sie etwas bedeutet, sondern auch für mich. Ich bin durch dieses Bündnis ein anderer geworden. Ich habe das freiwillig getan, niemand kann mich zwingen, aber ich habe mich an diese Menschen und ihre Geschichte gebunden, und jetzt bin ich ihr Gott.

Das neue Testament, in dem die Geschichte von Jesus Christus beschrieben wird, geht auf diesem Weg noch ein großes Stück weiter. Da verbündet sich Gott nicht nur mit Menschen, sondern er wird selbst ein Mensch. Er übersetzt sozusagen sein ganzes göttliches Wesen in einen Menschen. Zwar ein besonderer, einmaliger Mensch, aber nicht durch irgendwelche äußeren Kennzeichen, sondern nur durch die einmalige Weise, auf die er lebt. Gott wird ein Mensch, um mit Menschen eine Beziehung eingehen zu können. Und dann wandert er auf den staubigen Straßen Palästinas, er redet mit Menschen, er wird Gegenstand von Liebe und Hass, er formt eine Gemeinschaft von Menschen und ist traurig und aufgebracht und enttäuscht, wenn sie nicht verstehen, was er meint. Diese enge Beziehung zu Menschen lässt ihn nicht unverändert: er leidet an Menschen, er stirbt am Ende daran. Aber er gibt auch Menschen seine Vollmacht zu heilen. Er betrachtet sie als Freunde. Und es wird immer wieder angedeutet, dass das alles nur eine Vorstufe dazu ist, dass diesen Menschen eines Tages »das Erbe« anvertraut wird, dass also der Tag kommen wird, wo Menschen ganz deutlich Aufgaben Gottes übernehmen.

Bitte machen Sie sich klar, dass das überhaupt nichts Selbstverständliches ist. Wir sind durch eine lange Tradition daran gewöhnt, aber es ist überhaupt nicht normal, dass ein Gott sich dermaßen auf eine Stufe mit Menschen stellt. Dass Gott Menschen in seine Pläne einbezieht und mit ihnen darüber spricht, das bedeutet eine Vertrautheit, die den Unterschied von Gott und Mensch beinahe verwischt. Deswegen gibt es dann auch immer Warnungen, man solle sich Gott doch bitte nicht als »Kumpel« vorstellen, was auch immer das bedeutet mag.

Fakt ist aber, dass Gott sich nach christlichem Verständnis auf ein gemeinsames Projekt mit dem Menschen eingelassen hat, und dass daraus eine tiefe Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch entsteht. Viele Religionen sprechen von irgendeiner Verbindung zwischen Göttern und Menschen, aber nur das Christentum beschreibt eine Freundschaft zwischen Gott und Menschen beinahe auf Augenhöhe.

Das hat nun ganz praktische Konsequenzen z.B. für den Gedanken der Menschenwürde: wenn jeder Mensch potentiell ein Freund und Vertrauter Gottes werden kann, der für Gott unendlich wichtig ist, dann hat jeder Mensch eine Würde, die ihm niemand nehmen kann. Kein Mensch darf deshalb lediglich als Mittel zum Zweck dienen. Kein Mensch ist lebensunwert, egal, wie alt oder jung oder behindert oder krank er ist. Zum Glück ist bei uns diese Würde des Menschen im Grundgesetz festgeschrieben, und auch wenn da nicht religiös formuliert wird, hat das doch sehr deutlich christliche Wurzeln.

Wir erleben aber gerade an diesem Punkt heute, wie der in manchen Ländern zurückgehende Einfluss des Christentums dazu führt, dass jetzt plötzlich überlegt wird: kann man nicht ein Leben beenden, wenn es sinnlos geworden ist, weil jemand vielleicht dauerhaft an seinem Hirn geschädigt ist? Oder: hat ein Mensch, der auf eine sehr schwere Weise behindert zur Welt kommt, wirklich den gleichen Wert wie ein leistungsfähiger Mensch mit klarem Verstand? Oder: sollten wirklich alle Menschen die gleiche Gesundheitsversorgung bekommen, ganz unabhängig davon, was sie verdienen oder wie alt sie sind? Gibt es nicht ein Alter, von dem ab es einfach unwirtschaftlich ist, noch einmal neue Hüften einzusetzen? Oder jemanden an die teure Dialyse anzuschließen? All das ist eigentlich nur zu begründen, wenn man die Menschenwürde nicht in der Funktion und Nützlichkeit eines Menschen verankert, sondern in seiner Wertschätzung durch Gott.

Vielleicht merken Sie an solchen Punkten, dass scheinbar theoretisch-abstrakte Fragen ganz schnell unheimlich praktisch werden.

Das Gott Menschen dermaßen ernst nimmt, hat eine weitere Folge, die ich als zweites besonderes Kennzeichen des Christentums nennen möchte. Vielleicht ist es sogar eher ein Unterpunkt, aber ich nenne es jetzt mal Punkt 2:

2. Die offene Zukunft

Offene Zukunft bedeutet, dass Gott nicht irgendwie ein Buch führt, in dem der Ablauf der Welt von Anfang bis Ende geplant ist. Sondern der Lauf der Welt wird in Zusammenarbeit zwischen Gott und Menschen gestaltet. Die klassische Stelle dafür ist der Taufauftrag Jesu, den wir vorhin bei den Taufen gehört haben. Da heißt es zuerst: mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden. Und man könnte sich denken, dass die Jünger, also sie das hörten, zuerst gedacht haben: o fein, wir gehen jetzt gemütlich Kaffee trinken, und derweil bringt Jesus mit seiner unbegrenzten Macht für uns die Welt in Ordnung. Aber Jesus war ja noch gar nicht fertig, sondern es ging so weiter: deshalb – also weil ich alle Macht habe – deshalb geht ihr in alle Welt und macht alle Menschen zu Jüngern. Das heißt, diese Macht Jesu realisiert sich durch die Aktionen seiner Jünger hindurch. Das heißt nicht, dass er da keinen Einfluss mehr hätte, aber es hängt eben auch ganz stark von den persönlichen Entscheidungen und von der ganzen Handschrift der Leute Jesu ab, wie das dann genau aussieht. Und das gilt auch ganz allgemein: wie die Welt sich entwickelt, das entscheidet sich im Zusammenspiel von Gott und Menschen, und es ist nicht so, dass da oben im Himmel ein Marionettenspieler sitzt, an dessen Fäden wir zappeln, und am Ende führen wir nur ein Theaterstück auf, dessen Drehbuch er schon längst geschrieben hat.

Nein, Gott gibt uns einen Spielraum, in dem wir Entscheidungen fällen, die nicht er für uns fällt, die er uns nicht vorschreibt, sondern die unsere Sache sind. Auch hier wieder eine große Stärkung, eine Hochschätzung des Menschen.

Und auch das hat ganz praktische Auswirkungen: es sorgt für starke, verantwortliche Persönlichkeiten, die sich etwas zutrauen. Es ist kein Zufall, dass wir im Bereich des christlichen Glaubens eine wirkliche Hochschätzung des Individuums haben. Wir stöhnen heute manchmal darüber und sagen, dass der große Individualismus das Leben auch schwer macht. Und es ist klar, dass ein Individualismus, der vergisst, woher er kommt, schnell egozentrisch wird.

Aber ein guter Teil unseres wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist auf dieser Grundlage der Hochschätzung des Individuums gewachsen. Es ist heute klar, dass dieser Fortschritt auch ziemliche Probleme bringt, aber erst einmal ist das ein ganz großer Fortschritt, dass Menschen sagen: ich habe einen Gestaltungsspielraum, dessen Grenzen prinzipiell nicht vorher beschrieben werden können. Und es ist wiederum genau dieser Spielraum, den Menschen nutzen, wenn sie sagen: Halt, so kann das nicht weitergehen, dass wir unseren Planeten immer mehr zu Grunde richten. Auch wenn alle anderen das tun, ich werde versuchen das zu verhindern.

Mein dritter Punkt hängt damit zusammen: es geht um den Gedanken des Neuen.

3. Das Ende der Kreisläufe und der Beginn des Neuen

Außerhalb des Einflussbereichs des christlichen Glaubens denken Menschen in der Regel in Kreisläufen: alles wiederholt sich in ewiger Folge. Auf den Winter folgt der Sommer, auf den Sommer der Winter usw. Es gibt nichts wirklich Neues. Dagegen sagt schon das Judentum und dann endgültig der christliche Glaube: es gibt eine Entwicklung nach vorn. Es gibt etwas wirklich Neues, was vorher noch nicht da war. Ich möchte Ihnen das vor Augen führen an einem kurzen Werbespot, der das natürlich völlig illegitim auf seine Mühlen zu leiten versucht.

Das ist ja interessant, wie sich die Werbung immer wieder aus dem Vorrat der Traditionen unserer Kultur bedient. Aber es kann auch hilfreich sein, weil man in dieser einseitigen Überzeichnung Dinge wieder besser erkennt, die man sonst übersieht, einfach weil sie so vertraut und selbstverständlich sind.

Alle laufen im Hamsterrad, in den Kreisläufen, wo es nichts Neues gibt, immer das Gleiche, aber ein paar haben gemerkt, dass es auch etwas anderes gibt und ziehen mit Speed vorbei. Das ist ungefähr das, was sich im weltweiten Maßstab zugetragen hat, als das christliche Abendland die moderne Zivilisation entwickelt hat. Und leider hat es dabei auch diese herablassende Arroganz entwickelt, mit der die Hamster im Auto auf die Artgenossen in den Laufrädern geschaut haben. Es geht eben nie besonders gut, wenn man die Impulse Gottes aufnimmt und anschließend sagt: Ätsch, Gott gibt es gar nicht, und deshalb machen wir damit, was wir wollen.

Aber im Kern ist das natürlich ein irres Geschenk, wenn Menschen verstehen: es gibt wirklich etwas Neues und Anderes, es ist nicht immer wieder das Alte in etwas veränderter Gestalt, sondern etwas, was es vorher noch nie gegeben hat. So wie eben die moderne Gesellschaft mit ihren wahnsinnigen Möglichkeiten etwas ist, was frühere Generationen sich nie hätten träumen lassen. Und kann das ein Zufall sein, dass diese westliche Zivilisation mit ihrer unheimlichen Beschleunigung des Fortschritts ausgerechnet im christlichen Bereich entstanden ist? Diese Dynamik, gegenüber der traditionelle Gesellschaften wirklich alt aussehen? Wo kommt das her?

Der Impuls dahinter ist die Auferstehung Jesu Christi, die einen völlig neuen Anfang gesetzt hat. Immer wieder wird gesagt: der auferstandene Jesus ist nur der Anfang von einer ganz anderen Welt, die von jetzt ab immer näher herankommt. Auf einmal war es möglich, sich eine ganz andere Welt vorzustellen. Auszubrechen aus den ehrwürdigen Denkmustern der Vergangenheit und sich auf ganz Neues einzulassen.

Auch da wieder: wenn man diesen Impuls nimmt und ohne die Bindung an Gott einsetzt, dann kann da was ganz schreckliches draus werden. Dann kann das die ganze Welt zerstören. Und wir haben das leider in unserer abendländischen Geschichte immer wieder gemacht: die Impulse des Christentums aufgenommen, aber ohne diesen Rückbezug auf Jesus Christus. Wir haben sozusagen mit Dynamit hantiert, aber die Gebrauchsanweisung des Herstellers mit Risiken und Nebenwirkungen nicht zu Rate gezogen. Und dann wird es gefährlich.

Deswegen ist es so wichtig, dass wir diese Haltung aufgeben, die wir da am Anfang in der Theaterszene gesehen haben: die Religionen sagen doch eh alle dasselbe und im Grunde ist es unwichtig. Welche religiösen und weltanschaulichen Grundlagen eine Gesellschaft hat, das ist ein Schlüsselfaktor für ihr Schicksal. Es gibt Grundlagen, die unheimlich hilfreich sind, und es gibt Gedankengänge, die zu Stagnation oder Zerstörung führen.

Wir müssen nicht andere Denkarten schlecht finden, aber es ist wichtig, dass wir das Profil unseres eigenen Glaubens deutlich kennen. Dann kann man nämlich anfangen, ganz fröhlich zu werden mit dem christlichen Impuls, weil man merkt, wie einmalig und unverwechselbar das eigentlich ist: ein Gott, der sich Menschen als Partner sucht und ihnen damit eine unverlierbare Würde gibt. Der mit ihnen gemeinsam die Zukunft gestaltet und auf ihre Wünsche und Entscheidungen eingeht und reagiert. Und der uns durch die Auferstehung Jesu in die Lage versetzt, etwas ganz Neues zu tun und rauszukommen aus der Bindung an das was, was schon immer war.

Ich möchte nichts davon missen. Aber ich wünsche mir, dass unsere Gesellschaft auch die Quelle all dieser guten Gaben wieder zu schätzen lernt, weil sie sich sonst tatsächlich als vergiftet erweisen könnten. Die vertraute Beziehung zu dem menschenfreundlichen Gott ist der Boden, auf dem das alles erst gedeiht. Es ist die herablassende Nichtachtung dieses Ursprungs, die unsere Welt an den Rand des Untergangs gebracht hat. Wir können sie uns wirklich nicht mehr leisten, im Großen wie im Kleinen. Aber wir haben – persönlich und gesellschaftlich – viel zu gewinnen, wenn wir all die Gaben Gottes wieder mit ihrer Wurzel verbinden.