Die real existierende Alternative

Predigt am 27. Mai 2007 (Pfingstsonntag) zu Apostelgeschichte 2,41-47

Die Geschichte, die wir vorhin als Lesung gehört haben – die Geschichte von der Ausgießung des Heiligen Geistes (Apostelgeschichte 2,1-18) -, die bekommt erstaunlicherweise eine Fortsetzung, in der es gar nicht mehr so charismatisch bewegt zugeht, sondern da setzt sich dieser Impuls des Heiligen Geistes sofort um in eine andere Lebensweise:

41 Die nun, die sein Wort annahmen, ließen sich taufen. An diesem Tag wurden (ihrer Gemeinschaft) etwa dreitausend Menschen hinzugefügt. 42 Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten. 43 Alle wurden von Furcht ergriffen; denn durch die Apostel geschahen viele Wunder und Zeichen. 44 Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. 45 Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte. 46 Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens. 47 Sie lobten Gott und waren beim ganzen Volk beliebt. Und der Herr fügte täglich ihrer Gemeinschaft die hinzu, die gerettet werden sollten.

Man kann heute in der Geschichte noch etwas spüren von der Begeisterung und der Aufbruchsstimmung, die damals geherrscht hat. So viele Menschen haben gemeinsam ein neues Leben angefangen. Aber das ist natürlich gar keine neue Lebensweise, sondern es ist die Art, wie Jesus mit seinen 12 Jüngern gelebt hat, und die setzt sich jetzt fort in einer Gruppe von 3000. Jesus saß beim Essen mit den Jüngern zusammen? Das machen sie jetzt weiter. Jesus hat Wunder getan? Die gibt es jetzt auch in der Gemeinde. Jesus sorgte dafür, dass alle satt wurden? Nimm Platz unter den Christen, und guten Appetit!

Wenn damals einer zum Glauben kam, dann war das eine Bekehrung zu einer neuen Lebensweise. Irgendwann hat man das Wort umdefiniert, so dass es dabei vor allem um einen gedanklichen Akt des Herzens geht. Aber hier sieht man, wie es ursprünglich ist. Nämlich nicht so, dass einer sich bekehrt, und irgendwann folgt dann vielleicht auch eine neue Lebensweise. Nein, er bekehrt sich direkt zur Lebensweise Jesu. Wenn einer getauft wird, – und die Taufe war ja die Entscheidung, zu Jesus zu gehören – dann verändert sich auch äußerlich sofort die ganze Gestalt seines Lebens.

Wer Jesus ist, das wird ausgelegt und anschaulich beschrieben durch eine Gemeinschaft von Menschen, die miteinander so leben, wie es die Jünger bei Jesus gelernt haben. Ganz viele Worte Jesu bleiben unverständlich, wenn sie nicht durch das gemeinsame Leben seiner Nachfolger ausgelegt werden. Wenn man nur mal an die Bergpredigt denkt, wo Jesus die Sanftmütigen und die Trauernden und die Armen selig preist, und eben auch die Friedensstifter: wenn man dabei nicht die Gemeinschaft seiner Nachfolger vor Augen hat, die tatsächlich sehr schutzlos gelebt haben, dann versteht man das nicht und denkt: wie soll das nur gehen? Das ist unmöglich! So kann man nicht leben! Und dann lässt man es lieber gleich.

Wenn man aber die lebendige Gemeinschaft der Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu sieht, dann bekommen die Worte Jesu Sinn, denn die lebten so miteinander und waren stark durch diese Gemeinschaft. Sie waren alle zusammen eine heilende Gemeinschaft: sie heilten Krankheiten ebenso wie verwundete Herzen, sie waren stark durch ihre Freude, stark durch den Heiligen Geist, und der wäre nicht geblieben, wenn sie nicht das Leben Jesu weitergeführt hätten. Und ganz zentral war dabei die Gemeinsamkeit von reichen und armen Menschen. Es war in erster Linie kein »sich kümmern um« und keine Wohltätigkeit, sondern sie lebten so, dass es leicht war, zusammenzugehören.

Wenn es um die sozialen Unterschiede geht, dann denken wir immer gleich daran, dass man etwas weggeben soll. Es geht aber in Wirklichkeit vor allem darum, etwas zu bekommen, nämlich eine umfassende Gemeinschaft von ganz unterschiedlichen Menschen. So wie das am Tisch Jesu war, wo Fischer, Terroristen und Staatsbeamte mit Prostituierten, Obdachlosen und Pharisäern zusammen kamen: ein bunter Mix aller Schichten der Gesellschaft, Menschen, die sich sonst voneinander fern hielten, aber hier kamen sie zusammen und vertrugen sich in der Regel wunderbar. Ein kunterbunter Haufen. Das muss toll gewesen sein, ein unvergleichliches Erlebnis.

Normalerweise laufen sich ja die unterschiedlichen Gruppen von Menschen gar nicht oft über den Weg. Das ist heute noch sehr viel mehr der Fall als damals: du kannst in einem ordentlichen Viertel wohnen und bekommst die sozialen Brennpunkte in der Nachbarschaft nie wirklich zu Gesicht oder fährst bloß mit dem Auto dran vorbei. Es gibt alle möglichen Subkulturen, die man nur von außen sieht. Und dann erscheinen sie als Bedrohung, nicht als Reichtum. Und auch damals konnte man nirgendwo so umfassend der ganzen Gesellschaft begegnen wie bei Jesus. Und es war nicht einfach ein Abbild der Gesellschaft, sondern es war die Utopie einer anderen Gesellschaft, in der keiner mehr hungert und keiner mehr seinen Besitz verteidigt oder andere ausbeutet. Mit dem kleinen Unterschied, dass das keine ideale Utopie war, sondern dass sie so gelebt haben. Die neue Ökonomie des Reiches Gottes funktioniert, und sie funktioniert tatsächlich durch Schenken und Teilen.

Es war auch nicht so, dass sie Hilfsorganisationen gegründet und die Armen dann mit Spenden unterstützt haben. Wir haben ja heute die karitativen Organisationen und auch den Sozialstaat mit seinen Ämtern dazwischen geschaltet, so dass wir denen, die Hilfe brauchen, oft gar nicht direkt begegnen. Und dann kommt dieser Effekt zustande, dass Menschen zu Hilfsempfängern werden, auch in ihren eigenen Augen. Aber sie begegnen nicht mehr der Möglichkeit eines anderen Lebens.

In der ersten Christenheit haben sie mit den Armen an einem Tisch gesessen, und das waren keine Almosenempfänger, denn alle gemeinsam haben von der Freude gelebt, die dann entsteht, wenn die Schranken zwischen Menschen fallen und die Armen und die Reichen nicht mehr durch alle möglichen Isolierschichten voneinander getrennt sind. Und natürlich haben sie dann geteilt mit den anderen Familienmitgliedern der Familie Gottes.

Auch das hat Jesus vorgegeben – als seine Familie einmal kam und und ihn für sich reklamierte, da sagte er: »wer ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter? Alle hier, die den Willen Gottes tun. Die sind meine wirkliche Familie.«

Der Aufgabe des Heiligen Geistes ist es, dafür zu sorgen, dass das Leben so weitergehen kann, wie Jesus es zuerst mit seinen zwölf Jüngern geführt hat. Das ist ein ganz enormer Motor der Veränderung, der weit über die Gemeinde hinaus ausstrahlt. Wenn du z.B. Politikern sagst, sie müssten sozialer sein und menschlicher und so, dann denken die innerlich: ach ja, wieder einer von diesen Gutmenschen, die keine Ahnung haben. Beeindrucken kannst du Menschen nur damit, wenn du anders lebst. Sie hören zu, wenn sie sehen, dass da etwas anders funktioniert.

Wir leben heute in einer zynischen Gesellschaft, wo alle wissen, dass unsere jetzige Lebensweise auf die Dauer nicht gut gehen kann, und dass man eigentlich ganz anders leben müsste, aber alle haben tausend Gründe, warum das nicht möglich ist. Und wenn du an einer Stelle ein bisschen anfängst, etwas zu ändern, dann erzählen sie dir ganz schnell, dass das sowieso sinnlos ist, weil es noch so viel anderes gibt, was du immer noch unverändert lässt. Wir leben unter der Tyrannei der Unmöglichkeit, und dadurch werden wir zynisch und depressiv.

Aber in der Christenheit geht es um die Alternative Gottes, die jetzt schon gelebt wird. Der Heilige Geist schafft alternatives Leben, wahres Leben, ewiges Leben, das die Regeln dieser Weltordnung überwindet. Diese Handvoll Menschen, die mit Jesus in einem Winkel des römischen Reiches umher zog, das war die Keimzelle einer Bewegung, die die Welt verändert hat.

Die Gesellschaften des Altertums waren ja ziemlich brutal. Hinrichtungen waren öffentlich; wer krank wurde, hatte eben Pech gehabt; überall saßen Bettler, für die es keine Sozialfürsorge gab; wenn eine Stadt erobert worden war, dann wurden die Bewohner als Sklaven verkauft; zur Unterhaltung schaute man zu, wie sich im Zirkus die Kämpfer gegenseitig umbrachten – das war also noch wesentlich intensiver als »Big Brother«; und wer keine Familie hatte, die für ihn sorgte, der war ziemlich schlecht dran.

In dieser ziemlich rücksichtslosen Umwelt lebten die Christen einen alternativen Lebensstil: sie kümmerten sich umeinander, sie überwanden die Schranken zwischen unterschiedlichen Schichten und unterschiedlichen Kulturen. Sie leisteten keinen Militärdienst und nahmen keinen Job in der Unterhaltungsbranche an. Sie begruben ihre Toten, und die der anderen auch. Als binnen weniger Jahrzehnte einige große Seuchen die antike Welt heimsuchten und die Menschen aus den übervölkerten Städten flohen, da waren es die Christen, die blieben und die Kranken pflegten, auch auf die Gefahr hin, dass sie sich anstecken konnten. Aber sie hatten keine Angst vor dem Tod, sie waren ja die Bewegung des auferstandenen Jesus. Und gerade die Erfahrung, dass die Christen in dieser Situation nicht wegliefen, hat ganz stark zum Wachstum der Gemeinden beigetragen. Die Menschen kamen nicht aus Furcht vor der Hölle, sondern weil sie von der Furchtlosigkeit der Christen angezogen wurden.

Dieser real gelebte Lebensstil hat dann im Lauf der Zeit auch die Gesellschaft verändert. Bis dahin, dass in unserem Grundgesetz festgeschrieben ist, dass wir ein Sozialstaat sind, wo niemand ohne Hilfe vor die Hunde gehen darf. Aber all solche Regeln brauchen es, dass sie durch lebendige Menschen repräsentiert werden. Werte und Normen können ausgehöhlt und umgedeutet werden. Sie entfalten nur dann Kraft, wenn sie auf starke Weise gelebt werden.

Wir haben hier in Deutschland traditionell besonders viel Vertrauen in starke Institutionen. Das Gefährliche daran ist, dass man dann hilflos ist, wenn die Organisationen versagen. Es ist gefährlich, wenn man verlernt, selbst und in eigener Verantwortung seine Werte zu leben. Nur so wird die Gesellschaft immer wieder daran erinnert. Ich habe neulich von einer großen Gemeinschaft von Christen gehört, die zusammenlegen und gegenseitig ihre Arztrechnungen bezahlen. Gut, die leben in einem Land, wo es kein gutes Krankenversicherungssystem gibt, aber auch bei uns könnte es ja mal so weit kommen, dass das soziale Netz ernsthafte Löcher kriegt. Und dann kommt es darauf an, ob es Menschen gibt, die zueinander halten.

Jesus hat eine neue Gemeinschaft gegründet, die Familie Gottes. Damals war die Großfamilie der Schutz gegen die Gefahren des Lebens. Aber sie war nach innen auch sehr autoritär und unterdrückerisch, und wer nicht dazugehörte, der war schlecht dran. Jesus hat eine Familie gegründet, zu der jeder dazukommen kann, wo man nicht unter sich ist, sondern mit ganz anderen an einem Tisch sitzt, und wo Menschen nicht auf Kosten anderer leben.

Wir haben über lange Zeit diese ganzen Erfahrungen der ersten Christenheit ignoriert und so kommt uns das alles unwirklich und utopisch vor. Kein Wunder, dass wir Probleme mit dem Heiligen Geist haben. Es geht hier nicht um die Konsequenzen des Evangeliums, über die man so oder so denken kann. Es geht um den Kern des Evangeliums, und wenn wir da blockiert sind, dann müssen wir uns nicht wundern, dass die Menschen skeptisch bleiben. Es geht nicht um ein paar kleine Korrekturen, sondern um eine Neuerfindung des Christentums (und das wird dann hoffentlich das Christentum der Bibel sein). Weniger darf es nicht sein.

Lassen Sie es mich an einem Beispiel sagen: ich bin heute morgen noch ziemlich lange im Schlafanzug rumgelaufen, und schließlich fragte meine Frau, ob ich denn so predigen wollte. Na ja, ich habe dann überlegt: das würde wahrscheinlich allen länger im Gedächtnis bleiben als das, was ich sage. Verstehen Sie, was ich meine? Nur wenn wirklich etwas passiert, werden Menschen aufmerksam. Nur wenn der Heilige Geist reale Veränderungen nach sich zieht, werden Menschen verstehen, warum man Pfingsten feiert. Und wir haben Veränderungen nötig, gegenüber denen ein Schlafanzug auf der Kanzel wirklich harmlos ist.

Schreibe einen Kommentar