Kein geistliches Leben ohne Leiden

Predigt am 9. Mai 2004 zu 2. Korinther 4,7-12

7 Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, damit die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns.
8 Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. 9 Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um. 10 Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserm Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserm Leibe offenbar werde.
11 Denn wir, die wir leben, werden immerdar in den Tod gegeben um Jesu willen, damit auch das Leben Jesu offenbar werde an unserm sterblichen Fleisch. 12 So ist nun der Tod mächtig in uns, aber das Leben in euch.

Die Kraft der Auferstehung Jesu soll in unser Leben kommen. Aber es ist wichtig zu wissen, wie das eigentlich aussieht, und das beschreibt uns Paulus an seinem eigenen Beispiel.

Als Paulus das schreibt, da hat er gerade eine schwierige Zeit hinter sich. Es war vermutlich in Ephesus, er hatte dort eine enorme Arbeitslast zu bewältigen: er verdiente selbst seinen Unterhalt in seinem erlernten Beruf, und in der Mittagspause zwischen 11 und 3 hielt er Vorträge über den christlichen Glauben, verbunden mit intensiven Diskussionen. Abends und wohl auch nachts kümmerte er sich um die junge, wachsende Gemeinde. Ephesus war ein Zentrum abergläubischer Praktiken, und da gibt es in der Seelsorge enorme Widerstände, die viel Kraft kosten. Es war eine Zeit voller Tempo und Intensität. Man kann davon ausgehen, dass Paulus in dieser Zeit an den Rand seiner Kräfte gekommen ist, wahrscheinlich ist er in Wirklichkeit über seine Grenzen hinaus gekommen.

In dieser Situation setzte dann eine öffentliche Hetze gegen die Christen ein, Paulus und seine Gefährten wurden zur Zielscheibe öffentlichen Hasses. Zwei seiner Freunde wären um ein Haar gelyncht worden. Solche Erlebnisse lassen einen nicht unberührt, sie allein können einen fertig machen, man kommt unter einen enormen Druck, und wenn man vorher sowieso schon angeschlagen ist, dann hat man kaum noch die Kraft, um da gegenzuhalten.

Solche Situationen hat Paulus im Kopf, wenn er nach Korinth schreibt: Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. 9 Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.

Aber er hat in dieser Zeit erlebt, dass ihm die Kraft zugewachsen ist, die er brauchte, um das alles durchzuhalten. Und ihm ist klar geworden, dass er diese Erfahrung nur machen konnte, weil er diese ganze belastende Situation freiwillig auf sich genommen hat. Nur an solchen Orten macht man diese Erfahrungen. Und er bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserem Leibe, damit auch das Leben Jesu – also sein Auferstehungsleben – offenbar werde an unserem sterblichen Fleisch.

Das heißt, die Kraft der Auferstehung fließt in der Gemeinde, aber auch die Leiden Jesu sind noch nicht zu Ende, auch sie setzen sich fort in seiner Gemeinde. Der Unterschied ist, dass Jesus einsam litt, ungetröstet und ohne zu wissen, was nach seinem Tod auf ihn warten würde. Wenn Christen leiden, dann leiden sie in seiner Gemeinschaft, sie sind von seinem Trost getragen und können wissen, dass sogar im Tod sein neues Leben verborgen ist. Wir folgen ihm nach, wir gehen unseren Weg in seinem Windschatten, wir gehen nicht ins Ungewisse, weil er für uns die Ungewissheit ertragen hat.

Und dennoch: die Kraft der Auferstehung kann nicht fließen, wenn nicht Menschen bereit sind, auch die Leiden Jesu zu teilen. Hier an Paulus wird dieses grundlegende geistliche Gesetz sichtbar. Es ist kein Zufall, dass Gott gleich am Anfang über ihn sagte: »Ich will ihm zeigen, wieviel er um meines Namens Willen leiden muss (Apg. 9,16).«

Aber dieses geistliche Gesetz gilt natürlich nicht nur für einen Auserwählten wie Paulus, sondern für jeden Christen. Und es bezieht sich nicht nur auf solche Verfolgungssituationen. Ich glaube, dass man es viel weiter sehen muss: wenn Menschen wirklich tun, was Jesus uns gesagt hat (»Geht hin in alle Welt«), dann kann das nicht ohne Schmerzen abgehen; denn die Welt im Großen und im Kleinen ist angefüllt mit Schmerzen und Angst. Wenn uns das nicht klar ist, dann liegt es daran, dass wir uns dagegen abgeschottet haben und die Augen verschließen. Aber ich glaube, dass es eigentlich kaum einen gibt, der behaupten würde, es wäre anders. Wir hoffen, dass es uns nicht trifft, aber wir wissen im Grunde, dass es dafür selbst im reichen Europa keine Gewähr gibt.

Wer aber im Auftrag Jesu in alle Welt geht – und wenn das nur der Weg zum kranken Nachbarn ist -, der kann ja gar nicht mehr die Augen verschließen vor den Schmerzen, die in der Welt sind. Dieser Auftrag Jesu bringt uns in die Solidarität mit allen, die leiden an Unrecht, Krankheit, Verblendung, Lüge und vielem mehr. Das bleibt bei niemandem außen vor. Man kann keine Tränen abwaschen, ohne sich die Hände nass zu machen. Man kann nicht Menschen durch schwierige Zeiten begleiten, ohne selbst Anteil zu nehmen. Wenn es gut geht, erlebt man am Ende mit, dass es sich gelohnt hat und dass Gott eine Wende bringt. Aber bis dahin muss man auch hindurch, durch Unsicherheit, Zweifel, Schmerzen und inneren und äußeren Druck.

Viele Menschen mit helfenden Berufen – wie Ärzte, Pflegepersonal, Seelsorger, Sozialarbeiter, Eltern – sind erschöpft und ausgebrannt nicht nur von der Arbeit selbst, sondern eben auch von der ständigen Konfrontation mit dem Leid, der sie sich nicht entziehen können. Und die meisten wollen das ja auch gar nicht, sonst hätten sie diese Aufgabe nicht gewählt.

Man kann das im Grunde auf das ganze Leben ausweiten: kein menschliches Leben kann gedeihen ohne andere Menschen, die es auf sich nehmen, zu helfen, zu betreuen, Geduld zu haben, nachts aus dem tiefsten Schlaf aufzustehen, immer wieder Dreck wegzumachen, zu trösten, sich auf fremde Sorgen einzulassen und fremde Stimmungen zu heben. Das gehört zum menschlichen Leben dazu. Meistens erlebt man am Ende, dass es sinnvoll war, und das ist dann auch ein Ausgleich für die Mühe vorher. Aber man muss nüchtern sagen, dass es nicht schön ist, und dass wir lieber angenehmere Dinge tun würden. Wahrscheinlich empfinden viele von uns den Muttertag deshalb als so schwierig, weil da dieser nüchterne Zusammenhang mit so viel klebrigem Zuckerguss überschüttet wird.

Und dieser Zusammenhang von Leben und Mit-leiden gilt erst recht überall, wo geistliches Leben wachsen soll. Erst recht das geht nicht ohne Menschen, die bereit sind, etwas auf sich zu nehmen. Wenn es irgendwo geistliches Leben geben soll, dann muss immer irgendwo irgendjemand leiden. Das ist ein Zusammenhang, den man nicht berechnen oder messen kann, man kann auch nicht vorhersagen, wie und wann das kommt und wie das Leiden aussehen wird. Aber dass Paulus in Ephesus Gemeinde bauen konnte, das lag daran, dass er bereit war, sich auf anstrengende Diskussionen und Seelsorge einzulassen, und auch das Risiko öffentlicher Angriffe auf sich nahm.

Jesus konnte so viele Menschen befreien und heilen, weil er bereit war, den Preis dafür zu zahlen und das Kreuz auf sich zu nehmen. Und ich glaube, dass man zeigen könnte, wie in ganz vielen Fällen geistliche Vollmacht in Situationen entsteht, wo Menschen sich auf Unsicherheiten und Risiken einlassen und sich trauen, in eine schmerzliche Situation hineinzugehen mit dem Wort und der Liebe Gottes.

Liebe Freunde, ich will vorsichtshalber eins klarstellen, um nicht missverstanden zu werden: wir müssen uns davor hüten, dass wir das Leid als solches verherrlichen. Leiden ist nichts schönes, da kann man im Kopf noch so viel Gedankenakrobatik betreiben. Es ist kein Wert an sich, es ist nur eine unausweichliche Begleiterscheinung der Solidarität mit der leidenden Welt. Wir sollen das Leid nicht suchen, so als ob es etwas Verdienstliches wäre. Nicht umsonst heißt es in dem Kirchenlied »Befiehl du deine Wege«: Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein lässt Gott sich gar nichts nehmen. Leid kommt von selbst, wenn es uns um Menschen und den Auftrag Jesu geht. Das müssen wir weder für uns noch für andere suchen.

Aber wenn das klar ist, dann muss man sagen: immer wenn wir uns nicht auf dieses solidarische Leiden einlassen, dann wird geistliches Leben verhindert. Vielleicht am deutlichsten ist das in der Seelsorge, wo man sogar die Innenseite des Leides mit jemand anders teilt. Aber es ist eben auch so in der Verkündigung und Evangelisation, es betrifft auch eine Gemeindeleitung, wenn sie im Sinne Jesu geschieht, es ist so bei allen Hilfsdiensten, es ist auch in der Fürbitte so. Jedes Mal nehmen wir da freiwillig ein Stück von der Last auf uns, die auf der Welt liegt, und wir bezahlen dafür: mit Anteilnahme, mit unseren Gedanken, mit unserer Zeit, mit unserer Stimmung, die gedrückt wird von dieser Last, mit Geld, manchmal mit Angriffen, die wir erleiden.

Deswegen schreibt Paulus: in uns ist der Tod mächtig, aber in euch das Leben. Und er meint damit: weil in meinem Leben immer wieder die Todeskräfte ihren Tribut fordern, deswegen kann das Leben in euch so stark sein. In Korinth lebten sie mit starken Erfahrungen des Heiligen Geistes, und Paulus findet das richtig, aber er schreibt ihnen im Grunde: vergesst nicht, dass Menschen dafür einen Preis bezahlen mussten und müssen. Ihr seid als Christen erst dann erwachsen und autonom, wenn ihr selbst anfangt, auf dieses Konto einzuzahlen. Ihr könnt nicht dauernd von anderen leben, auch wenn es mein Job als Apostel ist, für euch Dinge auf mich zu nehmen. Auf die Dauer bleibt geistliche Vollmacht nur bestehen, wenn Menschen zu der Solidarität bereit sind, die Jesus vorgelebt hat.

Glauben besteht nicht darin, dass wir uns irgendwie die Wirklichkeit zurechtmachen und uns über die Realität hinwegtäuschen. Glaube besteht darin, dass wir bereit sind, uns im Vertrauen auf die Macht Jesu der Wirklichkeit zu stellen, auch wenn sie sich nicht schnell ändert, auch wenn Menschen immer wieder leiden und sich keine Lösungen abzeichnen.

Paulus beschreibt als das wirkliche Wunder, dass er in der emotionalen Berg- und Talfahrt, der er ausgesetzt war, immer wieder von Gott die Kraft zum Durchhalten bekam. Natürlich bringt die »überschwängliche Kraft«, die Paulus so gut kennt, auch immer wieder sichtbare Durchbrüche und äußere Fortschritte. Aber zuerst ist es die Kraft, die ihm weiterhilft, wenn seine eigene Kraft an die Grenze kommt, wenn sein Tank leer ist und wenn zu den inneren Sorgen die äußeren Angriffe kommen.

Es ist Gottes Spezialität, gerade dort zu wirken, wo die Probleme sich ringsum häufen. Da werden die eigentlichen Kämpfe gekämpft. So wie überhaupt die menschliche Gesellschaft und alle Organisationen von denen leben, die die eigentliche Arbeit tun: der Arbeiter an der Maschine, die Eltern mit ihren Kindern, die Polizistin auf Streife vor Ort, der Lehrer in seiner Klasse, die Ingenieurin, die ein Projekt plant, der Pfleger am Krankenbett, der Bauer bei seiner Arbeit mit Pflanzen und Tieren, die Verkäuferin im Laden und im Gegenüber zum Kunden. An solchen Orten geschehen Tag für Tag die Kämpfe und Mühen, von denen alle leben. Das Problem ist nur, dass die Entscheidungskompetenz meist bei anderen liegt, und je höher du aufsteigst, um so weniger hast du meistens mit dieser mühseligen Arbeit zu tun, die doch die Substanz unseres Lebens erzeugt.

Es ist nichts Schlechtes, aufzusteigen. Es müssen ja Leute da sein, die die Arbeit der anderen koordinieren und verwalten und vertreten. Aber je höher man kommt, um so größer ist die Gefahr, dass man diese Arbeit an der Basis der Gesellschaft gar nicht mehr sieht. Dass man vergisst, auf welchem Fundament von Leiden und Mitleiden unser ganzes Leben erst möglich ist.

Und so beharrt Paulus darauf, dass es geistliche Vollmacht, Erfahrungen des Auferstehungslebens Jesu unter uns, nur gibt, weil Menschen da sind, die bereit sind, die nötige Solidarität mit der Wirklichkeit und den Menschen im Gehorsam gegen Jesus aufzubringen. Eine Gemeinde ist gut, wenn das nicht nur Einzelne sind, sondern wenn viele in ihr zu diesem Leiden bereit sind Wenn einmal im Himmel alles enthüllt wird, dann werden sie vor aller Augen sichtbar sein. Die Substanz des Reiches Gottes wird oft im Verborgenen und Unscheinbaren erwirtschaftet, aber wer manchmal darunter leidet, dass das so ist, der soll wissen, dass wir uns darum keine Sorgen machen müssen: Gott ist es nicht verborgen, und er wird sich dazu stellen, auf jeden Fall in der kommenden Welt, aber wir werden es zum Glück auch oft genug hier unter uns schon erleben.