Subversives Gebet

Predigt am 1. Mai 2016 zu 1. Timotheus 2,1-6a

1 Vor allem fordere ich zu Bitten und Gebeten, zu Fürbitte und Danksagung auf, und zwar für alle Menschen, 2 für die Herrscher und für alle, die Macht ausüben, damit wir in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können.
3 Das ist recht und gefällt Gott, unserem Retter; 4 er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. 5 Denn: Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus, 6 der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle.

Bild: niekverlaan via pixabay, Lizenz: creative commons CC0
Bild: niekverlaan via pixabay, Lizenz: creative commons CC0

Das ist eine von den Bibelstellen, die wir zurückerobern müssen. Die hat man geklaut und umgebogen, und dann hat man schließlich für den allergnädigsten Herrn König und seine Gesundheit gebetet, und so hat man die Leute jeden Sonntag wieder obrigkeitsfromm gemacht. Wer aber nicht einsah, dass man Könige und ihre Herrschaft als gottgewollt hinnehmen sollte, der hat dann manchmal auch gleich gegen das ganze Christentum rebelliert, weil er solche Stellen gehört hat und gedacht hat: das ist Opium fürs Volk, damit werden die Leute eingelullt, und dann kann man sie besser unterdrücken.

Es wird Zeit, dass wir uns diese Bibelstelle zurückholen, von den Rebellen genauso wie von den Staatsfrommen. Denn sie passt zu beiden nicht.

Eine weltweite Perspektive

Dieser Brief ist an den Leiter einer kleinen machtlosen Gemeinde geschrieben worden, die der römische Staat überhaupt nicht auf dem Schirm hatte. Dafür waren sie zu unbedeutend. Und sie hätten sich auf ihre kleinen Angelegenheiten beschränken können: sie hätten um gutes Wetter und eine gute Ernte beten können, um gesunde Kinder und freundliche Kollegen, für die Kranken in der Gemeinde.

Das haben sie sicher auch getan, aber hier in dem Brief werden sie erinnert: unser Gott ist der eine Gott der ganzen Welt. Deswegen müsst ihr von vornherein die ganze Welt im Blick haben, alle Menschen. Unser Gott ist kein Stammesgott, Regionalgott oder Familiengott, der nur für ein Volk oder eine Gruppe zuständig ist, sondern er hat die ganze Welt geschaffen, und ihr sollt deshalb im weltweiten Horizont denken.

Einübung in einen weiten Horizont

Diese unbedeutende Randgruppe, die an den Herrn Jesus Christus glaubte, die soll sich also von Anfang an in die Geschäfte der großen Welt einmischen, mindestens, indem sie dafür beten. Und dann müssen sie auch darüber nachdenken, was sie denn beten sollen: was wäre für die ganze Welt gut, für alle Menschen, nicht nur für unseren Clan oder unsere Familie, sondern auch für die anderen, für die ganze Welt. Die kleinen Leute, die normalerweise sagen: davon verstehe ich nichts, das ist mir zu kompliziert, sollen sich doch die Politiker drum kümmern – die kriegen jetzt eine weltweite Verantwortung.

Nicht, indem sie mosern und schimpfen oder Wut entwickeln, sondern indem sie beten: Dank und Fürbitte. Beides sorgt für seelische Gesundheit, es verhindert Verbitterung und Hass. Es weitet den Blick. Man lernt, komplizierte Zusammenhänge auszuhalten, sie zuerst mal zu verstehen und nicht nach einer einfachen Lösung zu rufen. Man denkt nach über die Rolle Gottes in der Weltgeschichte und macht sich mit all den komplizierten Zusammenhängen vertraut. Auch die Offenbarung des Johannes, auf die wir jetzt schon seit zwei Jahren hören, ist so eine Anleitung, die ganze Welt im Auge zu haben und auf die großen Zusammenhänge zu achten. Die christliche Bewegung ist, wenn sie gut war, immer auch eine Bildungsbewegung gewesen, und das umfasste auch die politische Bildung.

Unabhängig von Macht und Größe

Lange, bevor die Christen so viele waren, dass sie tatsächlich wahrnehmbaren Einfluss in der Welt hatten, haben sie sich darauf vorbereitet, indem sie gebetet haben. Und das ist bis heute die Stärke der Christen, dass sie nicht von den aktuellen Machtkonstellationen abhängig sind. Bei Parteien ist das ja so: wenn die einmal aus dem politischen Tagesgeschäft raus sind, aus der Regierung oder ganz aus dem Parlament raus, dann ist es schwer, da wieder reinzukommen. Man verliert die Leute, die den Betrieb von innen kennen und gewohnt sind, politisch zu denken. Man macht Konzepte, von denen man von vornherein weiß, dass man sie nicht umsetzen kann, und dann lässt man es irgendwann.

Bei den Christen ist es anders: egal, ob wir viel oder wenig Möglichkeiten haben, beten können wir immer. Wenn es gut geht, entsteht auf diese Weise eine Bewegung mit ganz viel Kompetenz und Verantwortung. Aber wir sind nicht davon abhängig, wie die nächste Wahl ausgeht. Wir nehmen unsere Verantwortung wahr, egal, wie viele wir sind. Auch wenn die Christen in unserem Lande eine kleine Minderheit wären, die keiner hört: wir könnten trotzdem nicht auf den Blick für das Ganze, ja: für alle Menschen, verzichten. Unser Gott ist für alle Menschen da, und deshalb sind wir es auch.

Stärke durch Klarheit

Man muss sich klarmachen, dass die politischen Verhältnisse normalerweise nur von einer überschaubaren Zahl von Menschen gestaltet werden. Egal, ob Demokratie oder Diktatur: die Gruppe derer, die sich wirklich dafür interessiert und auch die Fähigkeit hat, die Mechanismen zu durchschauen, die war damals sowieso nicht groß, und heute ist sie auch nicht riesig. Viele gehen noch nicht mal zur Wahl, weil ihnen das alles zu kompliziert ist.

Wenn nun mit den Christen eine Gruppe entsteht, wo auch die einfachen Leute einen Denkhorizont für das Ganze entwickeln, und dabei konstruktiv bleiben, dann verschiebt das im Lauf der Zeit die gesellschaftliche Machtverteilung. Keine Regierung kann auf die Dauer gegen ihr Volk regieren, weder im Guten noch im Bösen. Kurzfristig kann man die Leute unterdrücken und gängeln, aber auf die Dauer hält man das nicht durch. Revolutionäre und Rebellen schauen auf die kurzfristige Macht, die Christen bewirken die langfristige Transformation der Gesellschaften, in denen sie leben.

Denn eine Gruppe, deren Mitglieder auf breiter Front Kompetenz, Verantwortung und menschliche Reife entwickeln, entwickelt eine enorme Kraft. Wenn du daran gewöhnt bist, nachzudenken, bevor du redest, mit anderen über bedeutungsvolle Sachen zu reden, in deinem Herzen Geduld und Freundlichkeit zu pflegen, Neid nicht aufkommen zu lassen, Frustrationen zu ertragen, Enttäuschungen nicht zu schwer zu nehmen, ein fröhliches Herz zu behalten, nicht von Sorgen beherrscht zu sein und alles vor Gott zu bringen, dann ist das nicht nur für die Menschen in deiner Umgebung eine Wohltat, sondern für die ganze Gesellschaft. Solche Zellen voll emotionaler Gesundheit, gedanklicher Klarheit und geistlicher Energie strahlen auf vielen Kanälen aus. Sie sorgen für Solidarität und Hoffnung in der Gesellschaft. Wo es solche Zellen nicht gibt, da finden sich stattdessen Wortführer, die Frustration und Angst in Hass und Wut umwandeln.

Die Verantwortlichen kommen in den Blick

Deswegen sind gesunde christliche Gruppen so wichtig für die Gesellschaft, und wir sollen diese Gesellschaft bewusst auf dem Schirm haben. Und dann fällt der Blick natürlich schnell auf die, die de facto für den Weg ganzer Völker und Nationen Verantwortung tragen, einfach, weil sie Macht haben, ob demokratisch gewählt oder durch Gewalt an die Macht gekommen. Und wenn man schon immer die politische Entwicklung verfolgt und dafür gebetet hat, dann sieht man vielleicht sehr deutlich, wie dilettantisch und kurzsichtig manche Machthaber denken. Es gibt andere, über deren Klarheit kann man sich intensiv freuen. Aber für alle sollen wir beten, weil von denen so viel abhängt. Das gute Funktionieren jeder Institution hängt ganz stark davon ab, ob der Chef gut ist. Egal, ob es der Supermarkt nebenan oder die Supermacht zwei Kontinente weiter ist: wenn der Chef ein Problem ist, dann wird der ganze Laden wird nicht ordentlich laufen, da können die Mitarbeiter noch so gut sein.

Und das ist natürlich besonders problematisch, wenn es um das Wohlergehen von ganzen Völkern geht. Da sitzt irgend so ein unsicherer Dilettant im Regierungspalast und zettelt einen Krieg an, weil ihm nichts Besseres einfällt, und Tausende oder noch mehr Menschen verlieren ihr Leben und ihre Existenzgrundlage. Weil an den Entscheidungen der Machthaber so viel hängt, deshalb sollen wir für sie beten. Manchmal auch gegen sie beten. Aber darum beten, dass man in Ruhe und Frieden seiner Arbeit nachgehen, seine Kinder großziehen und auch mal ein bisschen feiern kann.

Frieden – ein Traum

Dieser Wunsch, dass man »in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben« kann, der klingt für uns so ein bisschen spießig, nach Leisetreterei: nach Leuten, die am liebsten irgendwo in einem Kloster ihre Frömmigkeit pflegen und sich um nichts anderes kümmern möchten. Aber die Leute, an die dieser Brief geht, die lebten in einer Ecke, wo immer wieder Krieg war. Städte wurden zerstört, Einwohner in die Sklaverei verkauft, Heere kamen vorbei und wollten versorgt werden, Kaiser erhoben Kriegssteuern. Einfach nur Ruhe zu haben, nicht in weltgeschichtliche Entscheidungen verwickelt zu sein, in Sicherheit den Ertrag der eigenen Arbeit genießen – das muss denen wie ein wunderbarer Traum erschienen sein.

Und Paulus sagt: auch für das Evangelium ist es gut, wenn die Lebensverhältnisse zuverlässig sind. Wir haben ja heute manchmal den Eindruck, die Menschen müssten ein bisschen durchgeschüttelt werden, damit ihre stabile Abwehr gegen Gott Risse bekommt. Aber keiner weiß, ob das wirklich funktioniert. Und damals jedenfalls brauchte man wirklich nicht noch zusätzliche Unsicherheit durch Kriege, Machtkämpfe und Umsturz. Das Leben war auch so schon schwierig genug. Im Frieden konnte das Evangelium am besten wachsen.

Kritische Solidarität

So bewegen sich Christen, wenn sie gut sind, immer in kritischer Solidarität zur Gesellschaft und den Verantwortlichen bewegt. Wir sind keine Hurraschreier und keine Nörgler, weder Rebellen noch Staatsfromme. Wir sind dafür da, kontinuierlich Segen in die Gesellschaft hinein zu leiten, die Wahrheit über Gott auszusprechen, bösen Mächten zu widerstehen, nicht der Propaganda auf den Leim zu gehen, für die Verantwortlichen zu beten und sie immer wieder daran zu erinnern, dass sie für ihre Leute und ihr Wohlergehen arbeiten sollen.

Diese Stelle aus dem 1. Timotheusbrief ist überhaupt nicht dafür da, die Leute brav und untertänig zu halten. Sie ist der erste Schritt auf dem Weg, Menschen mündig zu machen, die sonst nie mitgeredet haben in der Gesellschaft, um die sich keiner gekümmert hat, und die sich selbst oft nie um das Ganze gekümmert haben. Aber jetzt begegnen sie in Jesus Christus dem Gott der ganzen Welt. Sie kommen mit in seine Verantwortung für die ganze Welt hinein. Sie lernen. Sie lesen. Sie diskutieren. Sie beten. Sie segnen. Wir sind das Salz der Erde.

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