Eine Zeit des Umbruchs

Predigt am 19. September 2004 zum Jubiläum der Ev. Frauenhilfe Groß Ilsede mit 1. Petrus 5,5b-11

Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. 6 So demütigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit. 7 Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.
8 Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge. 9 Dem widersteht, fest im Glauben, und wisst, dass ebendieselben Leiden über eure Brüder in der Welt gehen.
10 Der Gott aller Gnade aber, der euch berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christus Jesus, der wird euch, die ihr eine kleine Zeit leidet, aufrichten, stärken, kräftigen, gründen. 11 Ihm sei die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Damals vor 90 Jahren, als die Evangelische Frauenhilfe hier in Groß Ilsede gegründet wurde, ist das die Zeit gewesen, als die Kirche sich noch keine Sorgen machen musste? War das die gute alte Zeit, als die Menschen noch fromm waren und nach alter Väter Sitte lebten, jede Menge Lieder und Bibelsprüche auswendig kannten und sich selbstverständlich zur Kirche hielten?

Ich weiß nicht, ob es diese gute alte Zeit jemals wirklich gegeben hat. Aber eins ist ziemlich klar, wenn man die Aufzeichnungen liest: damals vor 90 Jahren war diese gute alte Zeit nicht. Es war unmittelbar vor dem 1. Weltkrieg, auch wenn man das im März noch nicht wissen konnte, und mit diesem 1. Weltkrieg sollte die alte Welt für alle sichtbar zerbrechen. Aber in Wirklichkeit stand sie schon längst auf tönernen Füßen, nur hatten das noch nicht alle gemerkt.

Hier in Groß Ilsede arbeitete damals Pastor Hartwig. Soweit man das heute beurteilen kann, war Pastor Hartwig ein moderner Pastor, jung, und mit viel Energie. Es war seine erste Stelle, und er wollte etwas bewegen in der Gemeinde. Er betrieb Jugendarbeit, später im Krieg führte er Kindergottesdienst ein, und 1913 wurde eine elektrische Läuteanlage und ein elektrisches Gebläse für die Orgel angeschafft.

Pastor Hartwig hat aber anscheinend auch gedacht: wir müssen wieder zurück zu den alten Sitten und Selbstverständlichkeiten. Im Krieg, 1916, hielt er in der Frauenhilfe einen Vortrag zum Thema »Deutsches Haus und Deutsche Sitte«. Nicht »Christliches Haus und christliche Sitte«, sondern »deutsches Haus«. Das war damals eine merkwürdige Mischung aus Modernität und National- und Traditionsbewusstsein. Schon damals haben die Leute gesagt: ja, früher, da war es noch besser.

Und so hat Pastor Hartwig anscheinend auch versucht, wieder Zucht und Ordnung zu stärken: ein halbes Jahr vor Gründung der Frauenhilfe hat er sich mit seinem Kirchenvorstand gestritten, ob man denn bei Trauungen die Glocken läuten sollte, wenn die Paare schon vor der Ehe Geschlechtsverkehr gehabt hatten. Er wollte da nicht läuten lassen, sondern wieder ganz strikte Regelungen haben. Aber was heißt »wieder«? Ich weiß nicht, ob es diese Praxis hier bei uns je gegeben hat. Jedenfalls hat der Kirchenvorstand da nicht mitgemacht. Vielleicht haben die ja an ihre eigenen Kinder gedacht und gefürchtet, dass auch bei denen mal nicht geläutet werden würde. Vielleicht haben sie auch Konflikte in der Dorfgemeinschaft befürchtet, wenn der Pastor so streng war.

Kann es sein, dass Pastor Hartwig damals seiner Frau gesagt hat: »Du, ich kriege diesen Kirchenvorstand da nicht auf meine Seite. Aber wir müssen dringend die Bevölkerung christlich beeinflussen und die allgemeine Sittlichkeit wieder heben. Kannst du nicht einen Frauenverein gründen? Vielleicht könnten sich die auch um die jungen Mädchen kümmern, wenn sie gefährdet sind.«

Ich weiß natürlich nicht, ob es wirklich so war, aber so ungefähr war damals das Umfeld, in dem dann 1914 die Frauenhilfe gegründet wurde. Und auch das war damals etwas höchst modernes. In den großen Städten gab es solche kirchlichen Vereine schon seit 20 oder 30 Jahren, deshalb hat ja der Kollege aus Hannover am Abend den Vortrag gehalten. Aber hier im Landkreis Peine war die Frauenhilfe angeblich der erste solche Verein.

Und tatsächlich war diese Gründung ein revolutionärer Schritt. Ich habe vorhin vorgelesen, wie die Frau Hartwig am ersten Jahrestag der Gründung erzählt von den enormen Widerständen, die es im Dorf gegeben hat. Dummerweise sagt sie nicht, was denn genau kritisiert wurde. Vielleicht hatten manche ja Angst, dass die Machtbalance im Dorf durch so eine neue Gruppe gestört werden könnte. Vielleicht haben sie aber auch gemerkt, dass sich mit dieser Gründung die Grundlage der Gemeinde deutlich veränderte!

Machen Sie sich das doch mal klar: bis dahin gab es den Pastor, den Kirchenvorstand, den Küster – und sonst nur normale Gemeindeglieder. Alle Gemeindeglieder waren im Prinzip gleich, alle saßen im selben Gottesdienst, die einen vielleicht öfter als die anderen. Das war die klassische »Parochie« (so lautet der Fachausdruck). Aber jetzt gibt es etwas neues: eine kirchliche Frauengruppe. Da ist man nicht selbstverständlich drin wie in der Kirchengemeinde, sondern da muss man extra eintreten. Die einen sind drin und die anderen nicht. Verstehen Sie, da wurde Christentum aus einer selbstverständlichen Tradition zu einer Sache, für die man sich entscheidet. Ist das nicht eine Ironie der Geschichte, ausgerechnet jemand, der die gute alte Sitte festhalten oder wieder einführen will, versucht das mit einem ganz modernen Instrument!

Für uns ist es heute selbstverständlich, dass es in der Gemeinde solche Gruppen gibt, in die man erst eintreten muss, sonst ist man nicht drin. Damals war das etwas richtig Neues. Und man kann sich vorstellen, wie einige gefragt haben: muss das sein? wollen die etwa was besseres sein als wir anderen?

Die Gründung der Frauenhilfe ist ein Zeichen dafür, dass die traditionelle Gemeindeordnung, wo alle religiösen Bedürfnisse durch Gottesdienst und Amtshandlungen erfüllt wurden, Defizite hatte. Man spürte, dass ein Traditionsabbruch eingesetzt hatte, dass die alten Rezepte irgendwie nicht mehr richtig funktionierten, und wollte dem etwas Neues entgegensetzen.

Und es stimmt ja: Christlicher Glaube besteht nicht nur darin, dass man das Evangelium hört, sondern auch darin, dass man antwortet und sich dazu zusammenschließt. Es ging damals um die Realisierung des Glaubens im Leben durch Gemeinschaft und Hilfe, sprich Diakonie. Das hatte es früher nicht gegeben, religiöse Tätigkeit außerhalb des Gottesdienstes war sogar lange Zeit verboten, aber jetzt, am Ende des 19 und Beginn des 20. Jahrhunderts, war der Spielraum dafür da. Trotzdem, im Dorf wurde heftig diskutiert, und wäre nicht die Pfarrfrau der Motor gewesen, und hätte nicht der Pastor dahinter gestanden, wer weiß, ob es zu der Gründung gekommen wäre!

Und so betont Frau Hartwig in ihrem ersten Jahresbericht, dass die Frauenhilfe allen Mitgliedern der Kirchengemeinde mit Hilfe zur Seite stehen will. Man merkt, sie muss sich gegen den unausgesprochenen Vorwurf wehren: ihr seid eine Sondergruppe.

So ist die Gründung der Frauenhilfe der erste in einer Reihe von Versuchen, die Beschränkungen der klassischen Parochie, der hergebrachten Gemeindeordnung, zu überwinden und den Glauben ins Leben zu ziehen. Aber offensichtlich gelingt das nicht mit der ganzen Bevölkerung eines Ortes, anscheinend muss man dazu extra Gruppen schaffen. Und natürlich sind das auch immer erst Versuche gewesen, die trotz des Neuansatzes ganz deutlich die Spuren ihrer Zeit trugen. Natürlich musste damals die Frau des Hüttendirektors erste Vorsitzende sein, auch wenn Frau Hartwig der Motor war. Natürlich war das damals im ersten Weltkrieg ganz stark national geprägt.

Aber Menschen hatten sich auf den Weg gemacht, um genauer herauszufinden, wie denn authentisches christliches Leben aussehen könnte. Und immer wieder gab es seitdem solche neuen Vorstöße und Klärungen, auch im Raum der Frauenhilfe.

So hat es z.B. 30 Jahre später den Kreis der Bezirksfrauen gegeben. Ich habe nicht herausfinden können, ob der ursprünglich aus der Frauenhilfe herausgewachsen oder erst später mit ihr zusammengelegt worden ist. In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg haben die wieder Geld gesammelt und Notleidenden geholfen. Die haben aber auch entdeckt, wie eine geistliche Gemeinschaft aussehen kann. Das ist bewegend, wenn man liest, wie Pastor Hennies das beschreibt: wie die sich zum Abschluss an den Händen gefasst und miteinander ein Lied gesungen und einen Bibelvers aufgesagt haben, und man spürt: da ist wieder ein neuer Baustein für christliche Gemeinschaft entdeckt worden.

Ich kann das hier nicht umfassend beschreiben, was es in diesen 90 Jahren alles für Vorstöße und Neuentdeckungen gegeben hat. Nicht alle hat die Gemeinde integriert: ein sehr charismatischer Kreis um eine Bezirksfrau in den 50er Jahren ist schließlich in eine Freikirche abgewandert.

Aber heute sind wir im Prinzip immer noch auf dem Weg, der damals mit Gründung der Frauenhilfe beschritten wurde: die Suche nach einer angemessenen Praxis des christlichen Glaubens. Die alten Lösungen greifen nicht mehr richtig, wenn sie es überhaupt je getan haben, aber die neuen sind noch nicht da. Der Traditionsabbruch ist 90 Jahre lang weitergegangen; wahrscheinlich hätte keine von den Gründerinnen der Frauenhilfe sich damals träumen lassen, was da noch alles vergehen würde an kirchlichen Selbstverständlichkeiten. Wir sind in einer Krisensituation, wie sie die Epistel dieses Sonntages beschreibt: eine Zeit des Drucks und der Mühen, auch eine Zeit der Versuchungen, aber vor allem eine Zeit der Hoffnung.

Der 1. Petrusbrief richtet sich an Christen, die unter der Anfeindung durch ihre Umwelt litten und das als eine Krisenzeit erlebten. Und Petrus versucht ihnen deutlich zu machen, dass Gott auch diese Situation in seiner Hand hat. Und er sagt ihnen: es kommt alles darauf an, dass ihr in dieser Belastungssituation das Richtige tut und euch nicht zu falschen Antworten verleiten lasst. Menschen sind ja bei Stress besonders gefährdet. Solange alles zu unserer Zufriedenheit läuft, sind wir meistens auch umgängliche und sympathische Menschen. Erst wenn wir unter Druck kommen, wenn es Probleme gibt, dann geraten wir in Gefahr, nervös zu werden, unerfreuliche Zeitgenossen zu werden und schlechte Wege einzuschlagen.

In diesen vergangenen 90 Jahren ist richtige Anfeindung eher selten gewesen und hat sich vor allem auf die Zeit des Nationalsozialismus konzentriert. Aber auch eine Zeit des Abbruchs und Umbruchs ist natürlich eine Zeit erhöhten Drucks und besonderer Versuchungen. Das kann man schon an Pastor Hartwig sehen: der ist 1920 nach Edemissen gegangen und hat sich dort später zu einem richtigen Nazipastor entwickelt. Pastor Rose, der früher Pastor in Oberg war, hat sich damit beschäftigt und herausgefunden, dass der da ganz üble Sachen gemacht hat.

Petrus sagt: demütigt euch unter die gewaltige Hand Gottes, gerade in solchen Krisensituationen. Und er meint: nehmt auch solche Situationen aus Gottes Hand entgegen. Versucht nicht, auf eigene Faust Sicherheit zu erlangen, versucht nicht, solche Zeiten mit Gewalt abzukürzen. Haltet aus, tut, was euch möglich ist, aber schaut auf Gott. Wenn es soweit ist, wird er euch wieder aufrichten.

Dietrich Bonhoeffer hat mitten im Krieg über die Krise der Kirche und den Traditionsumbruch nachgedacht, und er hat das für unsere Zeit so beschrieben: die Kirche steht erst am Anfang ihrer notwendigen Wandlung. Jeder Versuch, diesen Prozess abzukürzen, womöglich durch neue kirchliche Machtentfaltung, würde es alles schlimmer machen. Ich denke, das gehört zu der Demut, in der wir leben sollen, dass wir diese Zeit des Umbruchs in der Zuversicht bestehen, dass Gott uns da auch wieder herausführen wird, und dass es sein Weg zur Erneuerung der Kirche ist. Wir sollen natürlich tun, was wir können, aber wir brauchen einen – ich nenne es: humorvollen – Abstand von unseren ganzen Bemühungen. Spätere Generationen werden es besser wissen als wir, es wird immer wieder bessere Wege gegeben haben und neue Erkenntnisse, und wir sollen an dem, was gestern klar war und sinnvoll war, nicht mit aller Kraft festhalten. Morgen kann Gott schon wieder einen Schritt weiter sein, und es kommt nur darauf an, dass wir mit ihm Schritt halten. Was wir in die Wege leiten, das sind alles nur Zwischenlösungen, und wir wissen nicht, wie lange diese Zeit des Umbruchs noch dauern wird.

Also lasst uns fröhlich und mit einer gewissen Leichtigkeit in dieser Zeit des Übergangs leben. Wir sollen uns keine Sorgen machen. Die haben noch nie geholfen, weder den Einzelnen, noch der Gemeinde. Es ist ja auch eine spannende Zeit, dabeizusein, wenn Gott seine Gemeinde erneuert. Jedenfalls kann man es so sehen, wenn man mit Petrus darauf vertraut, dass Gott auch diese Zeit des Umbruchs in seiner Hand hat.