Dem Leben dienen und nicht tricksen

Predigt am 27. Juni 2010 zu 1. Mose 50,15-21

Heute hören wir als Predigttext einen Abschnitt aus dem Alten Testament, aus der Zeit, als Israel noch kein Volk war, sondern eine Großfamilie. Es ist der Abschluss der Josefsgeschichte. Josef wuchs mit 11 Brüdern und einer Schwester auf, die sein Vater Jakob mit vier verschiedenen Frauen hatte – schon das ist eine komplizierte Beziehungskiste. Josef fiel dann negativ auf, weil er Träume hatte. Träume an sich wären noch nicht schlimm gewesen, aber erstens handelten sie alle irgendwie davon, wie sein Vater, seine Mutter und seine Brüder sich vor ihm verneigten. Und zweitens erzählte er auch noch von diesen Träumen. Das hielten seine Brüder schwer aus. Sie warfen ihn in einem günstigen Moment in einen Brunnen und verkauften ihn als Sklaven nach Ägypten.

So kam der Nomade Josef aus seinem einfachen Leben in die komplizierte Hochkultur Ägyptens. Aber er hatte eine besondere Gabe: alles, was er anpackte, gelang ihm. Er war der geborene Geschäftsführer. Das fiel auf, und so wurde er vom namenlosen Sklaven zum ersten Mann im Haus eines hohen ägyptischen Hofbeamten mit Namen Potiphar. Ein glänzender Aufstieg. Dann kommt ein Bruch: die Frau Potiphars verliebt sich in ihn, Joseph weist sie zurück, weil er seinen Chef nicht hintergehen will, sie behauptet aus Rache, er habe ihr Gewalt antun wollen, und wieder landet Josef ganz unten, im Gefängnis. Die ganze Karriere ist im Eimer.

Aber Josef ist auch im Gefängnis ein Stehaufmännchen. Nach kurzer Zeit ist er Geschäftsführer des Gefängnisses. Dabei wird man darauf aufmerksam, dass er sich auf Träume versteht und sie deuten kann, und so wird er geholt, als der König von Ägypten, der Pharao, eines Tages Träume hat, die keiner versteht. Josef sagt aus den Träumen eine siebenjährige Zeit der Fülle mit anschließender siebenjähriger Hungersnot voraus und macht einen solchen Eindruck, dass er zum Geschäftsführer von ganz Ägypten befördert wird. Als zweiter Mann hinter dem Pharao organisiert er ein Vorratssystem, durch das Ägypten die Jahre des Hungers heil übersteht.

In dieser Zeit kommen Josefs Brüder nach Ägypten, um dort Korn zu kaufen. Sie erkennen Josef nicht und verneigen sich tatsächlich vor dem unbekannten ägyptischen Würdenträger, mit dem sie verhandeln. Schließlich gibt sich Josef zu erkennen, es gibt ein tränenreiches Wiedersehen, und dann holen sie auch noch den Vater nach, so dass schließlich die ganze Familie in Ägypten den Hunger überlebt. Und als dann eines Tages der Vater im hohem Alter stirbt, geht es so weiter:

15 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. 16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: 17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten.
18 Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. 19 Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? 20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. 21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Josef ist einer, der sich bemerkenswert gut in unübersichtlichen Verhältnissen zurechtfindet. Seine Großfamilie mit ihren unübersichtlichen Rivalitäten und komplizierten Beeinflussungen war für ihn anscheinend ein gutes Übungsfeld. Aber da hat er wirklich noch geübt, da hat er auf die harte Tour gelernt, was passieren kann, wenn man einfach drauflosredet und nicht drüber nachdenkt, was Worte anrichten können. Du erzählst den Leuten was von deinen Träumen, und die werfen dich in einen Brunnen! Als er dann im Brunnen lag, da muss er intensiv nachgedacht haben, denn von da ab hat er mit erstaunlicher Sicherheit immer das Richtige getan.

Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil er in einer Umwelt gelebt hat, die er nicht kontrollieren konnte. Namenloser Sklave eines ägyptischen Würdenträgers, Gefangener – das sind sind Situationen, in denen man eigentlich wenig Spielraum hat. Und auch als er seinen ersten Karrieregipfel hat als Potiphars Geschäftsführer, da kommt ihm eine dusselige Beziehungskiste dazwischen und ruiniert ihm alles. Nichts ist berechenbar. Aber wonach steuert man in einer Umwelt, in der dauernd so etwas passieren kann?

Man könnte sagen, Josef lebte in einer ziemlich chaotischen Umwelt, in der der kürzeste Weg von A nach B keine gerade Linie war, sondern ein verschlungenes Gewirr. Man könnte auch sagen: es war eine Welt, die gar nicht so viel anders war als unsere Welt. Wir erleben das heute besonders eindringlich, wie chaotisch die Welt ist. Keiner kann voraussehen, was er am Ende tatsächlich bewegt mit dem, was er tut. Das war im Grunde schon immer so, das war schon in der nomadischen Großfamilie Josefs so, aber die Größenordnung ändert sich. Durch die enorm gewachsenen menschlichen Möglichkeiten werden die Auswirkungen unseres Handelns immer gigantischer. Das ägyptische Großreich mit seiner komplizierten Bürokratie war ja schon ein anderes Kaliber als ein Trupp von 50 oder 70 Ziegenhirten. Aber gegen uns heute ging es auch in Ägypten noch gemütlich zu.

Heute können irgendwo in Amerika Menschen ihre Hypothekenschulden nicht mehr bezahlen, und das weltweite Finanzsystem muss mit Milliarden gerettet werden. Oder: Ein paar Leute zerstören mit gekaperten Jets das World Trade Center und richten einen gigantischen Schaden an, darauf hin ändert sich das Lebensgefühl in der ganzen Welt und zwei Kontinente weiter gibt es Krieg. Oder: Irgendwo am Polarkreis bricht ein Vulkan mit unaussprechlichem Namen aus und keiner weiß mehr, ob er mit dem Flugzeug nach Hause kommt.

Wir sind heute durch Technik und Zivilisation viel weniger abhängig von Missernten als die Menschen damals, aber vielleicht ist unsere technische Zivilisation eine viel größere Gefahr für das Überleben der Menschheit als sämtliche Hungersnöte, Säbelzahntiger und Seuche der Vergangenheit, vor denen sie uns eigentlich schützen soll. Aber selbst das können wir nicht genau wissen.

Ich habe mal einen Vergleich gelesen, wo der Autor unsere Lage beschreibt mit einem Sandhaufen, auf den von oben immer mehr Sand rieselt. Lange Zeit wächst der Haufen ganz übersichtlich, aber dann gehen da plötzlich die ersten Sandlawinen ab. Mal große, mal kleine, mal passiert lange nichts, dann stürzt der Sand in kurzen Abständen in die Tiefe. Und das vertrackte dabei ist: keiner kann das vorausberechnen. Es gibt keine Formel dafür. Es ist ein einfacher Sandhaufen, aber unter der Oberfläche ist der so kompliziert, dass man mit keinem Supercomputer voraussagen kann, wann die nächste Lawine abgeht.

Überlegen Sie mal, was das bedeuten würde, wenn unsere Welt tatsächlich mit so einem Sandhaufen vergleichbar wäre. Wenn wir nicht wissen könnten, wann die nächste Seuche kommt, die nächste Bankenkatastrophe, der nächste Anschlag, das nächste große Ding, das keiner vorausgesehen hat. Vorgestern waren die Chinesen noch die gelbe Gefahr, heute sollen sie die Weltkonjunktur stützen. Du kannst alles mit Überwachungskameras zupflastern, und im entscheidenden Moment, wenn wirklich mal was passiert, ist der Aufpasser auf dem Klo. Milliarden werden investiert in den Kampf gegen den Terror, und es wird nur noch schlimmer. Milliarden werden ins Bankensystem gepumpt, und es wird alles nur noch instabiler. Selbst in einem so einfachen Szenario wie einer Ehe hast du die Zukunft nicht unter Kontrolle, und das liegt an der unberechenbaren Präsenz des anderen Menschen. Aber wir können auch nicht voraussehen, wann die nächste große Chance kommt, der nächster Aufschwung, die nächste große Erfindung, das nächste unerwartete Aufflammen der Liebe.

Lasst uns dem ins Auge blicken, dass die Welt grundsätzlich unkontrollierbar ist. Es ist eine Illusion, dass wir ein Gehäuse bauen könnten, das uns vor den Unbilden der Welt da draußen schützt. Die Welt ist für einen Haufen Überraschungen gut. Menschen setzen sich mit all ihrer Energie ein und erreichen das Gegenteil von dem, was sie wollen. Wie die Brüder Josefs, die ihn beseitigen wollten und gerade so dazu beitrugen, dass seine Träume wahr wurden.

Wenn nun aber Josef einer war, der bemerkenswert gut das Chaos bestehen konnte – was ist sein Geheimnis? Was können wir von ihm lernen?

Das erste will ich mal so formulieren: wenn sowieso alles unsicher ist, dann kannst du es dir getrost leisten, gut zu sein. Böse Menschen glauben, sie kämen mit fiesen Tricks besser durch die Welt. Das heißt, die glauben, sie hätten die Welt unter Kontrolle. O nein! Sie haben es nicht kapiert! Wie Josefs Brüder, die glaubten: den sehen wir nie wieder. Welcher Irrtum!

Josef dagegen tat das, was ihm garantiert Ärger einbringen würde, er wies die Frau seines Chefs zurück, und das war dann auf Umwegen der Start in eine noch unglaublichere Karriere. Josefs erstes Geheimnis war: er hatte einen inneren Kompass, der ihm auch in unübersichtlichem Gelände den Weg wies.

In der Josefsgeschichte ist gar nicht so oft von Gott die Rede, aber es gibt keinen Zweifel, dass Josefs innerer Kompass darin besteht, dass er ein Gespür dafür hat, was Gott von ihm erwartet. Auch Josef hat die Lage nicht unter Kontrolle, aber das macht nichts. Für ihn reicht es völlig, zu wissen, was richtig ist. Das tut er dann, und Gott erledigt den Rest.

Ich kann mir vorstellen, dass Josef seine entscheidende Lektion dort in dem Brunnen gelernt hat, als er ohnmächtig miterleben musste, wie sein Brüder über ihn berieten, ob sie ihn verhungern lassen wollten, oder töten, oder verkaufen. Er hat damals erlebt, wie er überhaupt keine Macht über seine Zukunft hatte. Und das war für ihn ein heilsamer Moment. Da ist diese Illusion der Kontrolle gestorben. Dieser Wahn, er hätte die Zukunft im Griff und könnte entscheiden, was am besten wäre. Ich glaube, dass viele Menschen solche Erfahrungen des Kontrollverlustes machen: durch eine schwere Krankheit oder einen Unfall, durch eine Trennung, durch irgendeine Art von Krise. Und dann ringen sich manche dazu durch, weniger auf die möglichen Folgen zu achten, sondern sich in Zukunft stärker an einer Art inneren Kompass zu orientieren. Das muss nicht Gott sein, das können manchmal auch merkwürdige Werte sein, aber die Richtung geht dahin, dass man nicht mehr so außengesteuert ist, dass man sich nicht mehr von der Umwelt den Kurs bestimmen lässt, weil die sowieso prinzipiell chaotisch und unberechenbar ist.

Du kannst nicht warten, bis du alles übersiehst, du kannst nur anfangen, etwas Richtiges zu tun, und dann weiterlernen.

Menschen müssen anscheinend erst in so einen Brunnen geraten, bis sie es akzeptieren, dass wir Grenzen haben, dass wir die Welt nie unter Kontrolle bekommen, und dass wir dann auch gleich das Richtige, das Gerade und Gerechte tun können. Man muss aber nicht darauf warten, bis man in einen echten Brunnen gerät. Alle geistlichen Übungen – wie Fasten, Beten, Pilgern, sich von Eigentum trennen, Arbeit stoppen – haben dieses Ziel, sich vom Kontrollwahn zu trennen, sich in eine unkomfortable Lage zu bringen und dort die Wirklichkeit Gottes zu entdecken. Zu lernen, wie man sich dieser Wirklichkeit Gottes anvertraut.

Josef hat das auf die harte Tour gelernt. Im Rückblick auf seinen ganzen Weg sagt er: Ihr wolltet es böse machen, aber Gott wollte es gut machen. Das heißt: der einzige, der das Chaos wirklich überschaut, ist Gott. Er ist der einzige, der mitten zwischen abstürzenden Sandlawinen noch den Durchblick hat. Und es ist wichtiger, seine Hinweise hören zu lernen, als irgendwie eine Illusion der Steuerbarkeit festzuhalten. Deswegen sagt Josef zu seinen Brüdern: wieso habt ihr Angst, dass ich mich räche? Bin ich denn wie Gott? Ihr habt euch an mir gerächt, weil ihr glaubtet, ihr hättet alles im Griff. Ich kenne meine Grenzen. Ich weiß, dass nur Gott das letzte Wort spricht, sich rächt oder Gericht hält, weil nur er das ganze überblickt. Unser Job als Menschen ist es, das Leben zu fördern, nichts anderes.

Denn das ist Gottes Wille, das sind seine Hinweise: er wollte das Böse ins Gute wandeln, um »ein großes Volk am Leben zu halten«. Das ist das Zweite: Gott ist immer am Leben orientiert. Er hat sein eigenes Leben in die Welt hineingelegt, und er behütet dieses Leben. Wenn wir am Leben orientiert sind, sind wir immer auf der sicheren Seite. Sicher nicht in dem Sinn, dass uns garantiert die Brunnenerlebnisse erspart bleiben, aber wenn wir am Leben orientiert sind, dann werden wir auch im Brunnen etwas lernen können.

Es ist kein Zufall, dass Josef alles gelang, was er anpackte, dass er als Geschäftsführer unschlagbar war. Er muss einen Sinn fürs Gedeihen und Gelingen gehabt haben, ein Gespür für das Gewebe des Lebens, in dem die Menschen ein entscheidender Knoten sind. Sie wissen, es gibt diese Menschen mit grünem Daumen, unter deren Händen alle Pflanzen aufblühen. So einen grünen Daumen hatte Josef für Menschen, Tiere und alle komplexen Zusammenhänge. Er konnte die Dinge und die Menschen so sehen, wie sie wirklich sind, er konnte sie »lesen«, weil er sie nicht in sein System einbaute, sondern ihnen diente. So konnte er tatkräftig dafür sorgen, dass das ganze Gewebe gedeiht. Auch ein Mensch mit grünem Daumen steht ja nicht nur da und schaut sich bewundernd die Blumen an, sondern der hat viel zu tun. So war Josef tätig und aktiv, er pflegte das Ökosystem, für das er verantwortlich war, aber er kannte seine Rolle und verwechselte sich nicht mit Gott, dem Schöpfer des Ganzen. So wurde er weise.

Seine Brüder dagegen haben bis zum Ende nichts gelernt: sie haben Angst, dass Josef sich nach dem Tod ihres Vaters an ihnen rächen würde und berufen sich auf eine Anweisung des verstorbenen Vaters. Klar, mit dem letzten Willen eines Toten kann man so ziemlich alles begründen. Die Brüder tricksen bis zum Schluss, weil sie nicht verstanden haben, dass Josef längst in einer ganz anderen Liga spielt.

Dem Leben dienen und nicht tricksen – so könnte man zusammenfassen, was an Josef zu lernen ist. »Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben« hat Jesus formuliert. Gerade in chaotischen Zeiten ist das der sicherste Weg. Gott kann das Böse ins Gute verwandeln. Aber dafür braucht er Menschen, die geduldig an ihrem inneren Kompass festhalten, sich nicht vom Chaos erschrecken lassen, die sich nicht am kurzfristigem schnellen Profit orientieren, sondern das Gerechte und Lebensfördernde tun.

Gott schickt sie manchmal auf eine lange Reise, eine Pilgerreise mit unbekanntem Ziel, über lange Umwege, auf denen ihnen viele Selbstverständlichkeiten zerbrechen. Aber im Rückblick wird sich zeigen, dass Gott von langer Hand dafür gesorgt hat, dass im richtigen Moment aus unerwarteter Richtung die Rettung kommt, durch Menschen, die gelernt haben, zu warten und dann das Richtige zu tun.

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