Das Tor zur verborgenen Welt

Predigt am 9. September 2012 zu 1. Mose 28,10-19a

10 Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran 11 und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.
12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. 13 Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. 14 Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. 15 Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
16 Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! 17 Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. 18 Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf 19 und nannte die Stätte Bethel.

Ein bisschen erinnert diese Geschichte an ein Stargate, also so ein Ding aus Science-Fiction-Filmen, ein Tor, durch das man ganz einfach zu fernen Planeten gelangt oder sogar in ein Paralleluniversum. Diese Geschichte ist sozusagen die frühere Fassung, bei uns sind solche Stargates meist runde, schillernde Kreise im Raum, damals hat Jakob so eine Art Damm gesehen, der bis in den Himmel aufgeschüttet war – das war damals die aktuellste Technologie, mit der man sich so etwas vorstellen konnte.

Der andere Unterschied ist, dass Jakob selbst nicht durch dies Stargate geht, sondern er sieht nur, wie die Engel Gottes auf dieser Rampe rauf und runter gehen. Und das heißt, diese Rampe ist nicht das Tor zu anderen Planeten, sondern da gibt es eine Verbindung zur verborgenen Welt Gottes. Jakob nennt es die »Pforte des Himmels«. Und er kriegt einen Schrecken und sagt: da habe ich mich doch, ohne es zu wissen, genau dort schlafen gelegt, wo sich Himmel und Erde berühren, wo sie sich so überschneiden, dass etwas von der einen Sphäre hinüberkommen kann in die andere, und das sind die Engel, die mit Aufträgen Gottes in unsere Welt kommen.

Dieses Konzept von Himmel und Erde ist wichtig, wenn wir die Bibel und den christlichen Glauben verstehen wollen. Als Gott die Welt schuf, da schuf er »Himmel und Erde«. Das heißt, die Welt besteht aus zwei Sphären, von der wir bisher nur die eine wirklich kennen, nämlich die Erde. Die andere Sphäre, der Himmel, Gottes unsichtbare Welt, ist uns noch weitgehend verborgen. Aber manchmal kommt etwas von dort zu uns, und es gibt sogar drei geheimnisvolle Geschichten von Menschen, die möglicherweise am Ende ihres Lebens direkt in den Himmel aufgenommen wurden, ohne zu sterben, nämlich Henoch, Mose und Elia. Aber keiner weiß, wie das geht, und selbst in der Bibel wird das nur vorsichtig angedeutet.

Aber in der Geschichte von der Verklärung Jesu auf dem Berg (auch das wieder eine Geschichte von so einem geheimnisvollen Stargate, wo der Glanz des Himmels auf Jesus fällt), da begegnet er zweien von diesen dreien, nämlich Mose und Elia, und das heißt, er redet mit Menschen, die auf der verborgenen Seite der Welt leben und nun wie die Engel für einen Augenblick in unsere Welt kommen, um Jesus etwas Wichtiges zu sagen.

Zurück zu dem Konzept von Himmel und Erde, der Vorstellung von der verborgenen Welt Gottes. Bei uns hat sich in der Neuzeit, also in den letzten 200 – 300 Jahren eine andere Vorstellung durchgesetzt, nämlich die Vorstellung einer einzigen, einheitlichen Welt, die wir mit unseren Sinnen erfassen und wissenschaftlich erforschen können. Da ist nichts verborgen, hat man gesagt, wir haben es nur noch nicht erforscht. Und dieses Konzept hat all die gewaltigen Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft und Technik ermöglicht. Es hat so beeindruckend funktioniert, dass den meisten Menschen gar nicht der Denkfehler dabei aufgefallen ist.

Der Denkfehler dabei ist folgender: auch wenn man die Erde so gründlich wie möglich erforscht, sagt das natürlich überhaupt nichts darüber, ob es noch eine Realität jenseits der Erde gibt. Natürlich kann jemand sagen: ich glaube nicht, dass es so etwas wie einen Himmel gibt; aber das ist dann seine Meinung und keine wissenschaftliche Tatsache – eben deshalb, weil die Wissenschaft nur die Erde erforscht. Und selbst bei der Erforschung der Erde hat man es noch nicht geschafft, eine wirklich abgeschlossene Theorie zu entwickeln, wo alles abschließend schlüssig erklärt ist. Bis jetzt hat die Welt auch für die Wissenschaft immer noch eine geheimnisvolle, verborgene Seite, auch wenn uns immer wieder gesagt wird, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis auch die letzten Geheimnisse gelöst sind. Aber dieser Endtermin musste bisher noch wesentlich öfter nach hinten verschoben werden als die Eröffnung des neuen Berliner Flughafens.

Leider hat es auch immer wieder Theologen gegeben, die sich von der Wucht des naturwissenschaftlich-technischen Impulses haben mitreißen lassen, statt ihn freundlich und kritisch zu durchdenken. »Ich kann nicht Radio hören und mein Handy benutzen und gleichzeitig an Wunder glauben oder die Dämonen in der Bibel ernst nehmen« haben sie gesagt. In Wirklichkeit sagt das Radio und das Handy gar nichts über die Realität von Wundern und Dämonen. Die spielen einfach in einer anderen Liga. Es ist eher eine merkwürdige Ironie, die ich noch nicht wirklich verstehe, dass ausgerechnet durch Computerspiele heute täglich Millionen von Menschen damit beschäftigt sind, Monster zu besiegen, Untote zu crashen und mit Zaubersprüchen Dämonen vom Bildschirm zu fegen. Die Moderne ist auch nicht mehr das, was sie mal war, sie hat den Sturm und Drang ihrer Jugend hinter sich, sie fängt an, altersweise zu werden, und das ist ja auch eine Chance, neu ins Gespräch zu kommen.

Aber was die Theologen angeht: wenn man versucht, die Bibel von vornherein nur im Rahmen eines einheitlichen Weltbildes zu verstehen, in dem es keinen verborgenen Raum mehr gibt, nicht den Himmel und auch nicht mehr diese strategischen Momente, wo es zu einer Begegnung von Himmel und Erde kommt – wenn man das alles übersehen will, dann bleibt von der Bibel nur noch ein verstümmelter Rest, und der ist dann auch noch ziemlich unverständlich. Genau genommen können wir noch nicht einmal das Vaterunser im Rahmen eines einheitlichen Weltbildes verstehen, weil es dort ja auch heißt: dein Wille geschehe »wie im Himmel, so auf Erden«.

Und auch eine Geschichte wie diese Gottesbegegnung, die Jakob erlebt hat, die fällt dann in die Schublade »Geschichten aus der Zeit, als die Menschen noch nicht so schlau und aufgeklärt waren wie wir heute«. Stattdessen könnte man davon lernen, dass es nicht um ein physikalisches Parallel­universum geht. Sondern der Himmel ist die Sphäre Gottes, und in ihr geschieht Gottes Wille jetzt schon, im Gegensatz zur Erde, in der wir leben, und wo Gottes Wille viel zu oft mit Füßen getreten wird. Vom Himmel aus sendet Gott Impulse des Segens in diese Welt hinein. So etwa das Versprechen an den Flüchtling Jakob, dass er ihn behüten und ihn wieder in seine Heimat zurückbringen wird.

Denn Jakob ist ein heimatloser Flüchtling, der seinen Bruder Esau betrogen hat und jetzt vor seinem Bruder fliehen muss – große Brüder können grausam sein. Kleine Schwestern übrigens auch. Man sollte beide nicht reizen.

Auf jeden Fall ist Jakob in einer Lage, wo man aufmerksam wird für solche verborgenen Berührungen von Himmel und Erde. Solange alles in gewohnten Bahnen läuft, solange wir ein Dach über dem Kopf haben, genug zu essen und Menschen, zu denen wir gehören, so lange sind wir an Geheimnissen nur mäßig interessiert. Jakob hat aber all das verloren, und das macht ihn sensibel für solche verborgenen, geistlichen Realitäten. Und so hört er das Versprechen Gottes, dass er mit ihm sein will. Und dass er sogar zum Segen für die ganze Menschheit werden soll, so wie Gott es schon seinem Großvater Abraham versprochen hat.

Wenn wir in Übergangssituationen sind, in Zeiten der Unsicherheit, dann werden wir offen für die Orte, wo sich die verborgene Welt und unsere Welt berühren. Man könnte sagen: es sind heilige Orte. Im Englischen gibt es dafür die Bezeichnung »Thin places«, wörtlich: dünne, durchlässige Orte, Stellen, wo die Trennwand zwischen den Welten nur sehr dünn ist. Bethel, das »Haus Gottes«, wie Jakob den Ort nennt, war so eine Stelle. Der Zionsberg in Jerusalem eine andere.

Und meistens geht es dann so wie bei Jakob: irgendwer entdeckt, dass es da einen dünnen Ort gibt, und markiert ihn mit einem aufgerichteten Findling, dann kommen andere da hin und wollen es auch wissen, und am Ende baut man einen Tempel oder ein Heiligtum an die Stelle, mit Priestern, Wallfahrten und Andenkenläden, und das verdirbt dann alles. Da geht es dann so laut und menschlich zu, dass die Engel einen großen Bogen um diesen Ort machen.

Es gibt aber noch einen anderen Grund, weshalb diese Vorstellung von den besonderen, heiligen Orten in der Neuzeit nicht auf der Höhe der Zeit war und deshalb so leicht von der modernen Sicht verdrängt worden konnte; deshalb muss sie verändert werden. Dieser Grund ist Jesus. Wir haben vorhin in der Evangelienlesung die Geschichte gehört, wo er sagt (Johannes 1,51): »Ihr werdet erleben, dass der Himmel offen steht und die Engel Gottes von dem Menschensohn hinauf und zu ihm herunter steigen.« Das bedeutet: es geht jetzt nicht mehr um geografische Orte, sondern um Personen. Jesus ist nun dieser Ort, wo sich Himmel und Erde berühren.

Und da merkt man deutlich: der Himmel ist nicht in erster Linie ein räumliches Jenseits, er ist kein Paralleluniversum. Sondern er ist ein Herrschaftsbereich, in dem es anders zugeht. Wenn schon, dann ist er ein Alternativuniversum. Da wird anders gelebt, weil dort Gottes Wille schon geschieht. Und Jesus bringt diese himmlische Alternative auf die Erde, in unsere Welt hinein, die diese göttlichen Impulse so nötig braucht. Jesus hat keinen Tempel mit Ritualen, Priestern und Liturgien hinterlassen, sondern eine Gemeinde, die sich um einen Tisch zum Abendmahl versammelt und wo schon etwas sichtbar wird von der verborgenen Welt Gottes, von der neuen Menschheit, die aus dem Segen Gottes lebt. Und das kann überall sein, auch an ganz unheiligen Plätzen, in Slums, in Gefängnissen und Lagern, im Hinterzimmer einer Kneipe.

Nicht diese Orte sind heilig, sondern wenn sich dort eine Gemeinde im Namen Jesu versammelt, dann wird auch aus einem heruntergekommenen Lokal ein heiliger Ort. Wenn wir uns hier im Namen Jesu treffen, dann wird aus einer Stätte voller Schäbigkeit und Kaputtheit heiliger Boden. Ein durchlässiger Ort, wo Gott zu finden ist und Menschen gesund werden an Leib und Seele.

Es ist eine offensive Heiligkeit, die losgeht, um mit den Kräften des Himmels die Welt zu erobern. Sie ist nicht mehr an geografische Orte gebunden, sondern an Menschen, die wissen, wie man ein Stück Welt zu einem heiligen Ort macht.

In der Bibel ist die Grundrichtung vom Himmel zur Erde. Es gibt Ausnahmen: Mose, Elia und Henoch sind lebend in den Himmel aufgenommen worden, und dort haben auch die verstorbenen Menschen vorübergehend ihren Platz. Sie warten dort die Zeit ab, bis die Trennung zwischen Himmel und Erde aufgehoben wird, weil dann auch auf der Erde Gottes Wille geschieht.

Denn es gibt nicht eine begrenzte Anzahl von wenigen heiligen Orten, nein, es soll so viele wie möglich geben. Und am Ende soll die ganze Erde ein heiliger Ort sein, und dann ist es nicht mehr nötig, die Trennung aufrecht zu erhalten. Dann kommt das neue Jerusalem vom Himmel herab auf die Erde, und Gott wird unter den Menschen wohnen. Der Himmel erobert die Erde, und Jesus ist der Brückenkopf gewesen.

Bis dahin machen wir immer wieder Vorstöße in das noch nicht befreite Gebiet: damit Menschen merken, dass Gott überall ganz nahe ist, damit sie sagen: der Herr war hier, und ich habe es vorher nicht gewusst. Aber jetzt weiß ich, dass das Reich Gottes nahe herbei gekommen ist, es ist überall in Reichweite, und jetzt möchte ich auch so ein Mensch werden, der diese Tür aufmachen kann, für mich und für andere.

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