Wo die Trennwand zum Himmel dünn ist

Predigt am 9. September 2007 zu 1. Mose 28,10-19

Es gibt hier eine weitere Predigt zum Text mit anderen Schwerpunkten.

10 Jakob machte sich auf den Weg von Beerscheba nach Haran. 11 Er kam an einen Platz und übernachtete dort, weil die Sonne gerade untergegangen war. Hinter seinen Kopf legte er einen der großen Steine, die dort umherlagen.
Während er schlief, 12 sah er im Traum eine breite Treppe, die von der Erde bis zum Himmel reichte. Engel stiegen auf ihr zum Himmel hinauf, andere kamen zur Erde herunter. 13 Der Herr selbst stand ganz dicht bei Jakob und sagte zu ihm: »Ich bin der Herr, der Gott deiner Vorfahren Abraham und Isaak. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben.2 14 Sie werden so unzählbar sein wie der Staub auf der Erde und sich nach allen Seiten ausbreiten, nach West und Ost, nach Nord und Süd. Am Verhalten zu dir und deinen Nachkommen wird sich für alle Menschen Glück und Segen entscheiden. 15 Ich werde dir beistehen. Ich beschütze dich, wo du auch hingehst, und bringe dich wieder in dieses Land zurück. Ich lasse dich nicht im Stich und tue alles, was ich dir versprochen habe.«
16 Jakob erwachte aus dem Schlaf und rief: »Wahrhaftig, der Herr ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht!« 17 Er war ganz erschrocken und sagte: »Man muss sich dieser Stätte in Ehrfurcht nähern. Hier ist wirklich das Haus Gottes, das Tor des Himmels!«4 18 Früh am Morgen stand Jakob auf. Den Stein, den er hinter seinen Kopf gelegt hatte, stellte er als Steinmal auf und goss Öl darüber, um ihn zu weihen. 19 Er nannte die Stätte Bet-El (Haus Gottes); vorher hieß der Ort Lus.

Jakob ist auf etwas gestoßen, was manche heute »thin places« nennen würden, die »durchlässigen Orte«, also Plätze, wo die Trennwand zwischen unserer Welt und der Welt Gottes nur dünn ist und wo etwas von der Welt Gottes hinüber kommt zu uns. Manche würden auch sagen ein »magischer« oder ein »spiritueller Ort«. Es gibt eine ganze Menge solcher Geschichten von Orten, wo angeblich Gott besonders nahe ist. Jakob kommt an so einen Ort, ohne es zu wissen. Aber er merkt es im Traum: hier gibt es eine Verbindung zwischen Himmel und Erde. Und als er aufwacht, da bekommt er nachträglich einen Schreck, weil er gar nicht gewusst hat, an was für einem Platz er sich schlafen gelegt hat.

Eigentlich war er nur todmüde, am Ende des ersten Tages einer langen Reise, ganz allein in der Wildnis, so allein, dass er sich sozusagen zum Trost einen Stein am Kopfende seines Lagers aufgestellt hat. Irgendwie hat der ihm vielleicht ein bisschen Trost und Schutz gegeben. Aber was er dann im Traum erlebt, das ist trotz allem Schreck viel tröstlicher: Gott kommt und erneuert das Versprechen, dass Isaak gesegnet sein wird.

Bis dahin hat Jakob sich den Segen irgendwie unter den Nagel gerissen, und keiner weiß so genau, ob der dann noch funktioniert. Jetzt hat Gott ihn noch einmal ausdrücklich bestätigt: ja, es gilt, was dein Vater über dir ausgesprochen hat, auch wenn er nicht wusste, dass du eigentlich der Falsche warst. Aber: ja, ich erneuere das Versprechen, das ich Abraham gemacht habe, für dich: ein Land, ein großes Volk, der Segen, und Schutz auf der langen ungewissen Reise, die du vor dir hast. Geh getrost, ich behüte dich, und du wirst auch wieder hierher zurückkommen. Und Jakob benutzt den Stein vom Abend vorher als Markierung, bestreicht ihn mit Öl und macht ihn so zu einem besonderen Merkzeichen für diesen heiligen Ort.

Später dann wurde an dieser Stelle der Tempel von Bethel gebaut. So geht das oft, wenn ein Mensch so einen durchlässigen Ort entdeckt hat: zuerst markiert er ihn irgendwie, dann kommen andere, um an diesem besonderen Ort Gott nahe zu sein, und am Ende wird da ein Wallfahrtsort draus, und manchmal führt das dann zu so einem Rummel, dass nichts mehr zu spüren ist von dem heiligen Schauder, den die erste Begegnung mit diesem Ort ausgelöst hat. So muss es auch dem Heiligtum von Bethel ergangen sein. Der Prophet Amos hat die Sünde dort angeprangert und wurde durch den Oberpriester aus diesem Tempel vertrieben. Und schließlich wurde das Heiligtum vom König Josia zerstört.

Das heißt, so bald so ein durchlässiger Ort entdeckt ist, können Menschen ihn auch für ihre Zwecke missbrauchen. Die Entdecker tun das meistens nicht, weil sie viel zu beeindruckt sind, und auch Jakob hat das nicht getan. Aber irgendwann verfolgen Menschen dann auch am heiligen Ort ihre scheinheiligen oder auch unheiligen Ziele. Aber dass wir heute doch skeptisch sind, ob es noch so etwas gibt wie besondere heilige Orte, das liegt nicht an dem Missbrauch, sondern hat mit Jesus zu tun.

An einer Stelle aus dem Johannesevangelium nimmt Jesus ausdrücklich Bezug auf diese Geschichte von Jakob in Bethel. Jesus hat seine ersten Jünger berufen, und er kündigt ihnen an: »Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn.« heißt es da. Das bedeutet: auch ihr werdet auf diesen Zugang zum Himmel stoßen, wie Jakob, aber diesmal ist er nicht mit einem Ort verbunden, sondern mit mir, mit einem Menschen. Das ist die große Veränderung, die mit Jesus kommt: dass jetzt die durchlässigen Orte abgelöst werden von Menschen, durch die Gott sich mitteilt.

Von jetzt ab bindet Gott sich an Menschen, nicht an heilige Plätze. Das beste Beispiel ist der Jerusalemer Tempel, der ja auch an so einem besonderen Ort gebaut worden ist, nämlich auf dem Zionsberg. Mehr als 900 Jahre lang war er in Funktion, aber beim Tod Jesu zerriss der Vorhang im Tempel und 40 Jahre später wurde das ganze Heiligtum zerstört. Ihn heute wieder aufzubauen, wäre ein Anachronismus. Irgendwie ist heute nicht mehr die Zeit, um Tempel zu bauen. Das passt nicht mehr.

Oder als eine Samaritanerin Jesus in eine Diskussion verwickeln wollte, welcher Tempel der richtige sei, der in Jerusalem oder das samaritanische Heiligtum auf dem Berg Garizim, da sagte Jesus: diese Frage ist von jetzt ab veraltet.

Die Erklärung dafür findet sich im Hebräerbrief, der sich in der Zeit nach Jesus mit Tempel und Opfern auseinander setzt. Da steht, dass all diese Regelungen für die heiligen Orte nur ein Hinweis auf Jesus waren (10,1); und nachdem Jesus gekommen ist, sind sie überholt.

Das heißt, es war schon o.k., dass Menschen jahrhundertelang an solchen heiligen Orten Gott gesucht haben. Da gab es wirklich etwas zu finden; Gott ist nicht überall in gleicher Weise da wie die Luft; nein, an manchen Orten ist man ihm näher als an anderen. Es gibt solche Plätze, die Gott sich aussucht, um zu uns Kontakt aufzunehmen. Nicht wir entscheiden, welche das sind, sondern wir können sie nur entdecken und uns entsprechend verhalten.

Aber seit Jesus ist Gott bei Menschen zu finden, sie sind jetzt diese durchlässigen Plätze, erst Jesus und danach seine Gemeinde. Jesus hat kein Tempelritual hinterlassen, sondern er ist zu finden in der Gemeinde, die um einen Tisch versammelt ist und Abendmahl feiert. Und das kann irgendwo sein, überall auf der Welt, auch an ganz unheiligen Plätzen, in Slums, in Gefängnissen und Lagern, im Hinterzimmer einer Kneipe. Nicht diese Orte sind heilig, sondern wenn sich eine Gemeinde dort im Namen Jesu versammelt, wird auch aus einem verräucherten Nachtclub am Sonntagmorgen heiliger Boden.

Seit Jesus kennen wir eine aktive Heiligkeit, die einwandert in die unheiligen Orte dieser Welt und sie heilig macht. Und man kann sich vorstellen, dass eine Gemeinde das ganz besonders merkt, wenn sie an so einem unheiligen Ort Gottesdienst feiert. Denn sie kann sich dann nicht darauf verlassen, dass der Ort, das Gebäude etwas Göttliches widerspiegelt, sondern die Menschen erleben dann jeden Sonntag wieder neu: wir treffen uns hier im Namen Jesu – und aus einer Stätte voller Sünde und Kaputtheit wird durch uns ein durchlässiger Ort, wo man Gott finden kann, und wo Menschen gesund werden an Leib und Seele.

Seit Jesus gibt es eine offensive Heiligkeit, vor der die Sünde, die Dämonen und alle dunklen Mächte Angst haben. Aber es gilt immer noch: sie ist nicht überall gleichmäßig vorhanden wie die Luft, sondern sie bindet sich an Menschen. Menschen bringen sie mit und zeigen damit, dass die ganze Welt Gott gehört. Eine Gemeinde besteht aus Menschen, die lernen, wie man diese Art von Mensch wird, egal wo man sich befindet. Menschen, die jeden Ort, an den sie kommen, zu einem heiligen Ort machen.

Erst erleben Menschen, wie der Raum, in dem sie sich versammeln, durch die Gemeinde zu einem heiligen Ort wird, zu einem durchlässigen Platz, wo die Wand sehr dünn wird zwischen der Welt Gottes und unserer Welt. Ein Ort, an dem die Engel Gottes hereinströmen in unsere Welt. Und wenn Menschen das miterlebt haben, dann fangen sie an zu verstehen, wie sie an immer mehr Orten in der Welt selbst solche Türen öffnen können, damit der Himmel auf die Erde kommen kann.

In der Bibel gibt es ja diese Grundrichtung vom Himmel auf die Erde. Als Jakob die Treppe in den Himmel sah, da stand nie zur Debatte, dass er da hoch klettern könnte, um im Himmel zu sein. Die Engel, die die Treppe benutzen, bringen die Kräfte der himmlischen Welt auf die Erde. Jesus lehrt uns zu beten: dein Reich kommen, dein Wille geschehe hier auf der Erde. Und am Ende der Zeit wird das neue Jerusalem vom Himmel herab kommen auf die Erde und Gott wird hier unter uns wohnen. Der Himmel macht hier auf der Erde eine Invasion. Jesus ist der Brückenkopf, der feste Stützpunkt, der nicht mehr zerstört werden kann. Und die Menschen Gottes unternehmen von diesem Stützpunkt aus Vorstöße in die vom Feind besetzten unterdrückten Gebiete, um auch dort befreite, heilige Zonen zu schaffen.

Deswegen besteht eine Gemeinde aus Menschen, die lernen, wie man zu einer bestimmten Art Mensch wird, egal, wo man sich befindet. Wie man jemand wird, der überall so eine Tür zur Welt Gottes aufmachen kann. Der überall den Menschen die Augen dafür öffnen kann, dass Gott da ist, so dass sie hinterher sagen: der Herr war hier, und ich habe es nicht gewusst. Aber jetzt weiß ich, dass das Reich Gottes nahe herbei gekommen ist, und ich möchte auch so ein Mensch werden, der andern diese Türen öffnen kann.

Das Ziel ist ja nicht, dass Menschen möglichst viel Zeit an heiligen oder auch nur kirchlichen Orten verbringen; sondern dass wir möglichst viele Plätze dieser Welt zu heiligen Orten machen. Das Ziel ist, dass die Kirche aus diesen einzigartigen Menschen besteht, die etwas verwandeln, überall, wo sie hinkommen, wo sie arbeiten, wohnen, spielen, leben.

Ist das leicht? Geht das einfach? Ja und nein. Jakob war ein ziemlicher Anfänger, aber durch die Gnade Gottes hat er den heiligen Ort von Bethel entdeckt. Und trotzdem hat er ein noch Leben lang lernen müssen. Es kann manchmal ganz leicht sein, und trotzdem wird bei den meisten von uns das ganze Leben nicht ausreichen, damit wir das lernen, was wir eigentlich lernen müssten. Aber was soll’s? Jeder Schritt auf diesem Weg lohnt sich. Die Jünger haben bei Jesus drei Jahre intensives Training gebraucht, vielleicht brauchen wir ja dreißig. Keins von diesen Jahren wird sinnlos sein.

Wir sollen ein Gespür dafür bekommen, dass die Welt voll ist von der Herrlichkeit Gottes, und wir sollen immer besser verstehen, wie man das sichtbar machen kann. Damit immer mehr Menschen im Hintergrund unserer ganzen Welt Gott zu entdecken. Es gibt nicht eine begrenzte Zahl von heiligen Orten, sondern es soll so viele wie möglich davon geben. Die Invasion vom Himmel aus soll die Erde auf möglichst vielen Wegen erreichen, und jeder von uns soll so ein Weg werden.