Abraham – Freiheit für die Versklavten (Abraham III)

Predigt am 2. September 2001 zu 1. Mose 14,1-24

1-2 Um diese Zeit brach im Land Kanaan ein Krieg aus. Vier Großkönige – Amrafel von Schinar, Arjoch von Ellasar, Kedor-Laomer von Elam sowie Tidal, der König vieler Völker – zogen ins Feld gegen die fünf Stadtkönige Bera von Sodom, Birscha von Gomorra, Schinab von Adma, Schemeber von Zebojim und den König von Bela, das jetzt Zoar heißt. 3 Diese fünf hatten sich zusammengeschlossen und waren mit ihren Truppen in das Siddimtal gezogen, wo heute das Tote Meer ist. 4 Zwölf Jahre lang hatten sie unter der Oberherrschaft Kedor-Laomers gestanden, im dreizehnten waren sie von ihm abgefallen.

5 Jetzt im vierzehnten Jahr rückten Kedor-Laomer und die mit ihm verbündeten Großkönige heran. Zuerst besiegten sie die Rafaïter in Aschterot-Karnajim, die Susiter in Ham, die Emiter in der Ebene von Kirjatajim 6 und die Horiter in ihrem ganzen Gebiet vom Bergland Seïr bis hinunter nach El-Paran am Rand der Wüste. 7 Von dort wandten sie sich nordwärts nach En-Mischpat, das jetzt Kadesch heißt, und verwüsteten das ganze Gebiet der Amalekiter und die von Amoritern besiedelte Gegend von Hazezon-Tamar.

8 Im Siddimtal stellten sich ihnen die abgefallenen Stadtkönige entgegen; 9 mit vier Großkönigen mussten es die fünf kleinen Stadtkönige aufnehmen. 10 Nun ist das Siddimtal voll von Asphaltgruben. In diese Gruben fielen die Könige von Sodom und Gomorra, als sie sich zur Flucht wandten; die anderen Stadtkönige flohen auf das Gebirge. 11 Die Großkönige plünderten Sodom und Gomorra und nahmen alle Lebensmittelvorräte mit und alles, was wertvoll war. 12 Auch Abrams Neffen Lot, der damals in Sodom wohnte, schleppten sie mit, dazu seinen ganzen Besitz.

13 Einer von denen, die sich retten konnten, kam zu dem Hebräer Abram und berichtete ihm alles. Abram wohnte damals bei den Eichen des Amoriters Mamre, der war ein Bruder von Eschkol und Aner; alle drei waren mit Abram verbündet. 14 Als Abram hörte, dass sein Neffe in Gefangenschaft geraten war, rief er seine kampferprobten Leute zusammen, 318 zuverlässige Männer, die alle in seinen Zelten geboren worden waren. Mit ihnen jagte er hinter den siegreichen Königen her. In der Gegend von Dan holte er sie ein.

15 Er teilte seine Männer in zwei Gruppen, überfiel die vier Könige bei Nacht, schlug sie in die Flucht und verfolgte sie bis nach Hoba nördlich von Damaskus. 16 Er nahm ihnen die ganze Beute ab und befreite seinen Neffen Lot samt den verschleppten Frauen und den übrigen Gefangenen.

17 Als Abram nach seinem Sieg über Kedor-Laomer und die anderen Großkönige heimkehrte, zog ihm der König von Sodom entgegen ins Schawetal, das jetzt Königstal heißt. 18 Auch Melchisedek, der König von Salem, kam dorthin und brachte Brot und Wein. Melchisedek diente dem höchsten Gott als Priester. 19 Er segnete Abram und sagte zu ihm: »Glück und Segen schenke dir der höchste Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat! 20 Der höchste Gott sei dafür gepriesen, dass er dir den Sieg über deine Feinde gegeben hat!« Abram aber gab Melchisedek den zehnten Teil von allem, was er den Königen abgenommen hatte.

21 Der König von Sodom sagte zu Abram: »Gib mir meine Leute zurück, alles andere kannst du behalten!« 22 Aber Abram erwiderte: »Ich schwöre beim HERRN, dem höchsten Gott, der Himmel und Erde gemacht hat: 23 Ich behalte nichts von dem, was dir gehört, auch nicht einen Faden oder Schuhriemen! Gott ist mein Zeuge! Du sollst nicht sagen können: ‚Ich habe Abram reich gemacht.‘ 24 Ich nehme nichts für mich. Nur das nehme ich von dir an, was meine Leute verzehrt haben und was von der Beute auf meine Bundesgenossen Aner, Eschkol und Mamre entfällt. Die sollen ihren Anteil behalten.«

In dieser Geschichte wird Abraham sozusagen in die Welt der Politik verstrickt und muss sich da bewähren. »Politik« ist dabei aber geschmeichelt. Eigentlich geht es um Beute, das ist der Dreh- und Angelpunkt des Ganzen. Die internationalen Beziehungen funktionieren einfach und übersichtlich: ein oder mehrere Könige aus dem Nordosten machen einen Raubzug in die Welt der kleinen Stadtstaaten von Kanaan. Dort besiegen sie der Reihe nach kleine Stämme und Städte, plündern und nehmen alles mit, was irgendwie brauchbar ist: Lebensmittel, Kostbarkeiten, Vieh und Menschen. Wenn man genug hat oder der Sommer zu Ende geht, dann bringt man seine Beute nach Hause. Eine Variante davon ist: man erobert und zerstört die Städte nicht, sondern lässt sie gegen Zahlung eines jährlichen Tributs heil. Nach diesem Muster scheint es beim ersten Mal gegangen zu sein.

Dreizehn Jahre später sind die tributpflichtigen Städte abtrünnig geworden, d.h., sie haben nicht mehr gezahlt, woraufhin sich vier Könige aus dem Nordwesten zu einem neuen Feldzug für das vierzehnte Jahr verabreden. Diesmal geht es von vornherein um Eroberung, und wenn man schon einmal da ist, dann werden die Nachbarn und die andern Kleinstaaten, die am Wege liegen, gleich mitgeplündert. So war das damals: was sich die Leute erarbeitet und nicht gleich aufgegessen haben, das holte sich irgendein König, und ob man dabei am Leben blieb, zum Sklaven oder zur Leiche wurde, das hing vom persönlichen Glück ab.

Das ist Ausbeutung in ihrer brutalsten Form. Es geht darum: wer reißt sich die Werte, die Ressourcen, die Energie der schwächeren unter den Nagel? Die Systeme der Ausbeutung sind in den knapp vier Jahrtausenden bis heute viel raffinierter geworden. Man hat gelernt, dass man die Kuh nicht schlachten darf, wenn man in Zukunft Milch von ihr haben will, und man darf sie dann auch nicht ganz schlecht behandeln. Aber trotzdem gibt es bis heute genügend Gegenden auf der Welt, wo immer noch oder schon wieder die alte, plündernde Variante der Ausbeutung in Mode ist.

Das Kernproblem ist: Immer, wenn Menschen mehr an Reichtum und Energie produzieren, als sie zum Überleben brauchen, dann wird es jemanden geben, der versucht, das irgendwie abzuschöpfen. Entweder in Form von Geld und Sachwerten, oder in Form von Arbeitsleistung, oder auch in Form von psychischer Energie. Wir alle tauschen im Alltag unsere Energie gegenseitig aus, wir geben und wir nehmen voneinander, das ist in Ordnung, aber auch da gibt es Menschen, von denen chronisch die Energie abfließt hin zu anderen, die chronisch von der Energie, der Zeit und den Möglichkeiten anderer leben. Das gibt es unter Staaten genauso wie unter Einzelpersonen, dass der eine dauernd gibt und der andere sich das unter den Nagel reißt. Es gibt Menschen, die glauben, sie müssten immer geben, und andere denken, sie müssten immer nehmen.

Abraham hat sich da bisher herausgehalten. Er lebt in einer Nische, wo sich keiner um ihn kümmert. Das Bergland von Kanaan ist kein gutes Gelände für große Heere, und auch die vier Könige aus dem Nordwesten ziehen da nicht durch. Die Gegend ist auch nicht so reich, dass es da viel zu holen gäbe. Mit einigen unmittelbaren Nachbarn hat er sich verbündet, so dass ihm da auch keine Gefahr droht, und außerdem hat er inzwischen so viele Hirten, dass er schon eine kleine Macht in der Hand hat und sich so leicht keiner trauen wird, ihn mal schnell zu berauben. Diese ganzen Kleinkönigreiche um ihn her, die waren doch alle nicht größer als Gross Ilsede, und ein König von Gross Ilsede, der würde es sich schon zweimal überlegen, ob er das Risiko eingeht, sich mit einer Truppe von dreihundert Leuten anzulegen.

Abrahams Neffe Lot hat sich anders entschieden. Wer vor einer Woche (Predigt vom 26. August 2001) dabei war, erinnert sich noch: Lot hat sich lieber in der reichen, fruchtbaren Ebene bei Sodom angesiedelt, die von den nordöstlichen Königen ins Visier genommen wird. Und als die wieder abziehen mit reicher Beute und vielen Gefangenen, da sind Lot und seine Familie unter der Beute. Das kommt davon.

Abraham wurde von Gott herausgerufen aus dem ganzen System des Ausbeutens und Ausgebeutet-Werdens, Lot ist wieder dahin zurückgegangen, und jetzt bekommt er die Folgen zu spüren. Der König von Sodom kann ihn nicht schützen, der braucht selbst Hilfe.

Als Abraham davon erfährt, mobilisiert er seine ganzen Leute und seine Verbündeten. Gemeinsam verfolgen sie das abziehende Heer, das ja mit der vielen Beute nicht schnell vorankommt und auch keinen Grund zur Eile hat. Auf der letzten Etappe vor der Heimat überfallen sie die nordöstlichen Könige, nehmen ihnen die Beute ab, befreien Lot, zerschlagen das feindliche Heer und bringen alles wieder heil nach Hause. Sieg auf der ganzen Linie!

Das ist ein enormer Erfolg! Schließlich ist das feindliche Heer wahrscheinlich zehnmal so stark wie Abraham mit seinen 318 Leuten plus Verbündete. Was ist das Geheimnis dieses Erfolges? Da ist einmal der Überraschungseffekt. In einem Moment, wo sich alle innerlich schon auf zu Hause eingestellt haben, die Disziplin durch die reiche Beute sowieso schon gelitten hat, alle kräftig vom Beutewein getrunken haben und keiner damit rechnet, dass ihnen irgendjemand noch gefährlich werden könnte, wenn man da in der Nacht plötzlich von unbekannten, brüllenden Feinden angegriffen wird – das ist ein Schock, da weiß keiner, was los ist, da laufen alle nur noch durcheinander, um das nackte Leben zu retten.

Abraham dagegen

  • hat offensichtlich gut vorbereitete, disziplinierte Leute, die die Übersicht behalten. Er kann sich darauf verlassen, dass mindestens die Unterführer selbständig handeln, deswegen kann er die Truppe auch teilen.
  • Und dann steht da extra: die sind alle in seinen Zelten geboren, d.h., das ist keine bunt zusammengewürfelte Truppe, sondern ein eingespieltes Team. Die kennen den Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit. Die sind als Hirten gewohnt, selbständig zu handeln und Verantwortung zu übernehmen, sie müssen sich immer wieder auf neue Situationen einstellen, die sind ganz anders qualifiziert als die Stadtbewohner, die das bequeme Leben gewohnt sind.
  • Dann: die Hirten Abrahams haben eine echte Autorität hinter sich, einen Mann, der keine Königskrone braucht, damit er etwas darstellt. Wer aufbricht und Gottes Ruf folgt, der wird stark, innerlich stark, und Abrahams Leute haben das nie anders kennengelernt, sie sind keine Fremden, sondern sie sind von Anfang an damit aufgewachsen, diese Autorität im Rücken zu haben.
  • Und sie sind auch nicht auf der Jagd nach Beute. Plündern und Beutemachen stärkt nämlich nur auf den ersten Blick, in Wirklichkeit bekommt unrecht Gut niemandem. Ausbeutung in jeder Form sorgt dafür, dass die einen äußerlich arm werden und die andern innerlich. Wenn man darauf aus ist, von fremder Energie zu leben, dann vernachlässigt man die Energiequellen in seinem Innern! Plakativ gesagt: Wer sich daran gewöhnt hat, dass seine Frau ihm die Pantoffeln und das Bier und die Chips an den Fernseher bringt, der ist völlig aufgeschmissen, wenn er es mal selbst holen muss.
  • Schließlich wird hier zum ersten Mal sichtbar, was es bedeutet, dass Gott Abraham versprochen hat: »Durch dich sollen alle Völker der Erde gesegnet werden«. Abraham, der erste, der von Gott herausgerufen wird aus den gottlosen Bindungen der Welt in die Freiheit des Glaubens, dieser Mann verbreitet um sich herum Freiheit. Freiheit nicht in unserem modernen Sinn, dass jeder tun darf, was er gern möchte (das ist die Freiheit des Stärkeren, die die nordöstlichen Könige für sich in Anspruch genommen haben, die Freiheit auf Kosten anderer), sondern Freiheit, die aus Gott fließt und das Ende der Ausbeutung bedeutet, nötigenfalls auch heftigen Kampf dagegen.

Hier wird zum ersten Mal sichtbar, wozu Gott sein Volk in dieser Welt beruft. Abraham ist ja der Stammvater all derer, die glauben, die auf Gott vertrauen und es deshalb nicht nötig haben, von der Energie anderer zu leben, die sie ihnen mit List oder Gewalt abzapfen. Abraham kann deswegen andere befreien. Er lebt die Alternative. Und er verbreitet sie um sich herum. Das ist sein Auftrag. Von hier aus führt eine gerade Linie zu dem Wort Jesu: »Wer an mich glaubt, aus dessen Innersten werden Ströme lebendigen Wassers fließen (Joh. 7,38)«. Wer glaubt, hat in sich selbst eine Energiequelle, die ganz unabhängig ist von der äußeren Lage, und die vielen anderen helfen wird.

Deswegen schlägt Abraham es auch aus, als der König von Sodom ihm anbietet, er könne die Sachen behalten, wenn er ihm nur die Menschen zurückgebe. Wahrscheinlich hatte der König Angst, dass Abraham alles behalten würde. Stattdessen weigert sich Abraham, irgendetwas anzunehmen, nur die Reisespesen stellt er in Rechnung, die Verpflegung für seine Leute. Auch seine Verbündeten, die dürfen sich entlohnen lassen, in deren Namen kann Abraham schließlich nicht verzichten. Aber Abraham selbst ist ein Mann Gottes, und er nimmt nichts für den Segen, den er um sich herum verbreitet.

Ganz genauso sagt Jesus später seinen Jüngern: Umsonst habt ihr’s bekommen, umsonst sollt ihr es weitergeben. Sie dürfen essen, was sie brauchen, ihren Lebensunterhalt sollen sie bekommen, aber sie sollen darüber hinaus keine Entlohnung annehmen. Ein Mann Gottes, eine Frau Gottes hat das nicht nötig. Es würde ihn gerade um seine Kraft bringen, wenn er von anderen, die Gott nicht kennen, etwas annehmen würde.

Abraham, der noch kurz vorher in Ägypten Geld vom Pharao gescheffelt hat, der hat inzwischen verstanden, dass er großzügig sein kann.

Dagegen gibt er selbst dem Priester Melchisedek den Zehnten. Das ist der erste Hinweis in der Bibel, dass wir einen Teil unseres Geldes Gott geben sollen zum Zeichen dafür, dass ihm alles gehört. Melchisedek, der geheimnisvolle Priesterkönig von Jerusalem, der ist ein Zeichen dafür, dass Gott überall seine Leute hat. Abraham bricht in ein fremdes Land auf, und dort heißt ihn einer mit Brot und Wein willkommen, der den gleichen Gott kennt wie er.

Im Reich Gottes geht es genau andersherum zu, als es sonst in der Welt zugeht: man wird stark durch Geben, wohlgemerkt: durch freiwilliges Geben, nicht dadurch, dass man ausgebeutet wird. Und man würde schwach und abhängig, wenn man von einem anderen als von Gott mehr annehmen würde als die Spesen. Von Melchisedek kann sich Abraham segnen lassen, weil der denselben Gott kennt wie er, und im Neuen Testament wird Melchisedek dann als Hinweis auf Jesus entschlüsselt. Die Welt lebt davon, dass Gott überall Menschen der Freiheit hat.